Mattis Manzel
Peinlich
Roman
Bfrau Verlag
Inhaltsverzeichnis:
Vorwort zur Wiederveröffentlichung als eBook im August 2002 und warum die ’95er Pappausgabe floppte
1.) Peinlich. Dann bekommt er von Margit eins ab, oder besser: Sie bekommt von ihm eins ab.
2.) Peinlich zieht um, tritt im Fernsehen auf und erwacht in einem Zelt.
3.) Peinlich badet. Peinlich schält Kartoffeln. Lenka singt. Peinlich schält Kartoffeln.
4.) Peinlich in der Kunstausstellung. Peinlich in der Oper. Die da in der Kunstausstellung.
8.) Noch ein Kunstprofessor. Peinlich gibt (ziemlich) klein bei. Rolands Inhalt.
9.) Rock ‘n’ Rasputin der Erste.
12.) Mad Professors erster Vortrag über etwas Wissenswertes.
13.) Rasputin der Erste und Mona befinden sich in einer Art Situation.
17.) Einige Anmerkungen über das Bewusstsein und die Entscheidung. Karoline beim Onkel Doktor.
18.) Noch mehr Anmerkungen (OK.). Rasputin breit.
19.) Erst mal Frühstückspause. Mein schönstes Ferienerlebnis. Numerischer Nachtrag.
20.) RudiakneL – JaaJ. Hermann taucht ab.
24.) Die Zeitung. Das Fußkleid.
26.) Hermann hat eine Idee. Diesmal wird was draus.
27.) Annie raucht Silk Cut. Hermann lernt nette Leute kennen.
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zum Anfang von Peinlich (Seite 10)
Na, seid ihr alle da, draußen, vor euren Bildschirmen, meine Schäfchen und
Schäferchen, meine lieben Leser? Hab ich Euch, oder besser habt Ihr mich endlich
wieder?
Mir nichts dir nichts zu verschenken, was ich gemacht habe, war ein langjähriger
Prozess, an dessen vorläufigem Endpunkt die eBook-Veröffentlichung von Peinlich
steht. Ich hab’s damals ernst gemeint, und ich tu’s eigentlich immer noch. Vorläufiger
Endpunkt.
Schönheit zählt. Kunst ist nun, da wir den großen Sinneskleister Internet haben, unzensiert und gratis. Jeder, der eine Website gebacken bekommt, kann jedem, der einen Browser bedienen kann, völlig umsonst alles zeigen und sagen. Also ist Kunst unzensiert und gratis. Und also ist der Künstler wieder Eichendorffs schnorrender Geiger, der nun statt über die Dörfer über die Server zieht, und der spielt, was die Seele ihm zuruft. Er ist frei. Es ist wunderbar. Aber dies nur nebenbei.
Kopiert Peinlich, down- und uploadet ihn, schreibt ihn auf Disketten und CDs, mailt ihn, zitiert ihn oder lest ihn gar (wer’s denn wirklich braucht), lasst http://de.geocities.com/mattismanzel/ aufstrahlen am Netzhimmel als einen neuen Stern. So meine bescheidene Bitte. Ich habe Euch Peinlich geschrieben und - lang genug hatt’s gedauert - aufs Netz gestellt. Jetzt tut bitte zur Abwechslung mal wieder was für mich. Danke.
Peinlich als eBook entspricht in weiten Teilen dem papiernen Peinlich, der im Herbst ’95 bei einem renommierten schweizer Verlag (der übrigens nicht Bfrau [*] heißt) als allemal respektables, ja als preziöses Hardcover erschien. Die eBook-Veröffentlichung weist dazu wenige, feine Unterschiede auf. Diese betreffen das Foto auf dem Buchdeckel sowie kleine Teile des Texts. Ich habe insgesamt etwa vier Manuskriptseiten meist kurzer Textabschnitte, die zu meinem zähneknirschenden Missfallen noch in der Endphase des Lektorats aus dem Manuskript gestrichen worden waren, wieder in den Text eingefügt. Die Rechtschreibung wurde den neuen Regeln angepasst (die ich im Übrigen gut finde, weil, je öfter man Regeln umschmeißt, desto öfter merkt man, dass man sich neue schaffen muss).
Peinlich in Bits und Bytes ist also fast identisch mit dem Papppeinlich - aber eben nur fast: Weshalb der neue Datenpeinlich eigentlich Peinlich II heißen müsste. Mir ist allerdings die Umbenennerei zu abgedroschen und mühselig. Allein schon, um sich vom ersten Peinlich zu unterscheiden, müsste er es, natürlich. Warum also Peinlich II? Weil, eigentlich ist Peinlich ja dergleiche, aber irgendwie ist er doch nicht mehr derselbe, oder?
Oder - um auch wirklich kein Stück locker zu lassen: Peinlich = Peinlich II = Peinlich III, usw., denn Peinlich war Peinlich ...
Ach ja, warum die ’95er-Papierausgabe floppte:
Nach der Vertreterkonferenz im Sommer ’95 hatte mir der Verleger noch anerkennend
auf die Schulter geklopft. Es war mir mit der kurzen Präsentation meines Buchs
doch wahrhaft kurzeitig gelungen, bei den Herrschaften Vertretern das Gefühl
zu evozieren, sie vermöchten im Rahmen der anstehenden Bemusterungen der Buchhändler
mit dem neuen Verlagsprogramm für Vorbestellungen sorgen. Denkste. Peinlich
floppte im Herbst ’95 der Buchhändler wegen. Lieber wollte diese Bande eine
Reitgerte quer fressen, als sich etwas in die Schaufenster zu stellen, das „Peinlich“
heißt! Als dies in Zahlen deutlich wurde, sagte es mir zunächst niemand im Verlag
– ich wollt’s ehrlich auch nicht wirklich gerne hören. Peinlich aber war tot,
noch bevor er vor jemandem hatte seine prallen Buchdeckelchen breit machen können.
So war das dieser Tage. Flogging a dead horse. Vielleicht ist
ja auch die deutsche Wiedervereinigung für die komplette vergangene Dodekade
bereits peinlich genug gewesen? Vielleicht wollte man ja Erbauliches damals?
Erbaulich – das könnte der Computerfuzzi von einem neuen Kumpel Peinlichs sein:
„Der Börsengang der Peinlich Erbaulich AG, Produktionsgesellschaft für multimedialen
Schwachsinn, erschütterte gestern Abend die Wall Street...“ Na ja, sei’s drum.
© Mattis Manzel
Man zielt immer auf die Nase des anderen
Entweder er fängt oder er fängt nicht
Jedenfalls geht’s ihn was an
André Herold
Also. Sie geleiteten Peinlich zurück. Er wälzte sich für eine Weile im Löwenzahn,
dann setzte der Berufsverkehr ein. Vielleicht dunkelte es bereits. Als es Zeit
wurde, brachen sie auf. Peinlich ließ sie gehen und kratzte sich. Zuerst am
Kinn, dann am Mund. Er zog eine kleine schwarze Figur hervor, die er irgendwo
liegen gelassen hatte, und roch daran. Der Geruch erinnerte ihn an etwas. Nichts
Gutes, dessen war er sich sicher. Ob es etwas Schlechtes sein könne, fragte
er sich. Doch ihm fiel nichts Schlechtes ein. Ihnen auch nicht. Sie waren ja
schon weitergezogen. Den anderen, denen, die noch kommen würden, denen fiel
auch nichts ein. Nichts ist gut, erinnerte sich Peinlich, aber danach hatte
er nicht gesucht. Er steckte die kleine schwarze Figur in die Tasche und machte
einen Sprung. Sie waren bereits am Hang. Er sah, wie sie in der Ferne einem
Schwarm südwärts ziehender Enten gleich im Geröll umherstiefelten.
Peinlich kaufte ein Brot. Die goldene Statuette eines Künstlers namens „Schneetau“ oder so ähnlich überschaute aus der Höhe den Platz. Kauend ließ er sich am Fuß des Sockels nieder und beobachtete das feige Hin und Her an der Ampel. Mit jedem Bissen, den er aus dem Laib riss, entfernte er sich weiter von der Unlust, einer Richtung treu zu bleiben. Dann rief jemand nach ihm. Das ärgerte Peinlich, der es nicht leiden konnte, wenn man nach ihm rief. Mit der flachen Seite zu unterst, quasi als Hypotenuse, klemmte er das Brot in den rechten Winkel, den die Klinkersteine des Sockels mit den Gehwegplatten bildeten. Ein kurzer Tunnel mit dreieckigem Querschnitt entstand. Darin verbarg Peinlich die kleine schwarze Figur. So würde sie bis zum Eintreffen der Straßenreinigung zumindest nicht nassregnen. Dann erhob er sich und hielt mit langen Schritten auf das große Kaufhaus zu.
Er wühlte für eine Weile in den Angebots-Büstenhaltern, und erneut fühlte er sich an etwas erinnert. Erneut wusste Peinlich es nicht zu benennen. Dann eilte er eine Treppe hinauf, die sich in einer weiten Spirale im Unendlichen verjüngte, und verjüngte sich in einer weiten Spirale im Unendlichen. Oben angelangt trat er auf den Pavillon hinaus, der die Brustwarze überdachte. Sie war weich und hatte etwa die Größe eines Wasserbetts. Peinlich streckte sich darauf aus. Die Treppensteigerei schien sich gelohnt zu haben. Mit halb geschlossenen Lidern äugte er zwischen den Geländerstäben hindurch. Sieh an, unten bliesen sie einen auf. Peinlich selbst hatte es so angeordnet. Ruckartig warf er sich herum und presste sein Gesicht mit aller Kraft in die Warze. Es gelang ihm gerade noch, sich durch die zusehends enger werdende Luke ins Innere zurückzuzwängen und sich vom oberen Treppenabsatz zu stürzen. Dabei füllten sich seine Lungen mit Harz. Im Laufe der Jahrmillionen sank er noch fast zwei Millimeter abwärts (irgendwann noch etwas später wurden dann aus einem seiner bis dahin erhaltenen Chromosomenpaare die Test-Populationen für eine Reihe von Galaxien geklont, aber das ist unwichtig).
Peinlich öffnete den Kühlschrank. Das obere Rost stand voller Jogurtbecher. Er nahm die Becher heraus und reihte sie vor sich auf dem Fußboden auf. Dann wählte er: „Heidelbeer’“. Während er die Verlierer in den Kühlschrank zurückstellte, hörte er ihre Schritte im Treppenhaus. Bald lehnte sie schweigend in der Küchentür. „Heidelbeer’“ sagte Peinlich, als er ein Bananenjogurt auf das nahezu volle Rost stellte. Er hatte noch nie „Heidelbeer’“ zu ihr gesagt. Sie nahm ihre lederne Umhängetasche von der Schulter und klemmte sie zwischen die Knie. „O Margit! Du bist mein’ Heidelbeer’!“ erweiterte Peinlich zu einem vollständigen Satz und schloss die Kühlschranktür. Sie biss die Zähne aufeinander. Dabei zeigte sich auf ihren Wangen eine konkave Wölbung, die Peinlich zwar kannte und schätzte, die er diesmal jedoch nicht gewahrte, da er sich gerade in der Hocke umdrehte. Während er dies tat, durchfuhr ihn ein Gedanke. Man kann „Gedanke“ dazu sagen, weil dies eine gängige Bezeichnung ist. Margit war schwanger, Peinlich würde Vater und müsste aus ihrer Wohnung ausziehen. Eigentlich war es ein Bündel von Gedanken. Sie überflogen Peinlich, der auf der Ehrentribüne stand, als drei überschallschnelle Kampfbomber. Ähnlich dem ihnen nacheilenden Knall folgte ein zweites Gedankenbündel. „Nix zu machen!“, „So geht das!“ und „Aha!“. Leichte Gedanken. Leicht wie aufflatternde Tauben. Was blieb, war ein unmusikalisches Ohrenklingeln und der sich allmählich über den Paradeplatz senkende Kerosinmief. Peinlich waren die Geistesprozesse nicht anzumerken. Sie vollzogen sich während der relativen Ewigkeit, die es ihn kostete, sich zu erheben und mit dem auserkorenen Jogurtbecher in der Hand zum Küchenschrank zu laufen. Er zog eine Schublade.
Margit setzte zweimal zu sprechen an. Beim ersten Versuch kam nichts, beim zweiten ein femininer Grunzlaut. „Ich bin schwanger. Du wirst Vater. Ich möchte, dass du ausziehst“, brachte sie schließlich heraus. Peinlich wühlte: Schaumlöffel, unzählige Tortenheber, Kuchengabeln, sowie eine Kollektion von Kartoffelschälern, um die der leitende Beamte des Museums für Küchengeräte in – sagen wir – Paderborn die junge Frau sicher beneidet hätte. Peinlich sah Margit an. Er hatte beschlossen, zur Feier des Tages einen besonderen, seinen Jogurtlöffel zu benutzen.
„Liegt wohl im Abwasch“, faselte er und wandte sich dem Spülbecken zu, wo er den Löffel fand. Peinlich öffnete den Jogurtbecher und setzte sich. Die Situation schien ernster, als er zunächst angenommen hatte. Die Heidelbeeren waren groß und rar. Große schmecken nach Wasser, wenige nach nichts. Es war ein Jammer.
„Du bist dir sicher, dass du nicht meinst: ich möchte, dass du dich ausziehst?“ erkundigte sich Peinlich. Die Tasche klemmte fest zwischen Margits Knien.
„Nein. Ich meine: ich möchte, dass du aus meiner Wohnung ausziehst“, korrigierte sie. „Und zwar sofort.“ Peinlichs Blick löste sich von der fruchtaromatisierten Sauermilchspeise. Margit lächelte.
„Jetzt schlägt’s aber dreizehn!“ blubberte er aus jogurtverschmiertem Mund. Die Fäulnis verbreitete sich in der Umgebung seiner linken Backenzähne. Im Grunde ein interessanter Geschmack, gestand er sich, als der erste Ekel verflogen war. „Bitte nochmal der Reihe nach“, bat Peinlich und sog das Jogurt um die verdorbene Frucht herum ab. Dann schob er sie mit der Zunge aus dem Mund. Eigentlich war es kein Lächeln. Es war vielmehr eine Konstellation verschiedenartiger Krämpfe der Muskel, die ihren Mund umschnürten.
„Noch einmal, bitte. Eins nach dem anderen, ja?“ Peinlich verkniff sich ein leichtsinniges „mein’ Heidelbeer’“. „Was bist du, was werde ich, und wer soll was ausziehen?“ Er pickte die gequetschte Beere von seinem Hosenbein und legte sie aufs Fensterbrett. Dann kippte er den Stuhl nach hinten und wandte sich auf einem Stuhlbein drehend Margit zu.
„He Peinlich, hör mal …“
„Verzeihung“, intervenierte Peinlich. „Du bist schwanger, ja?“ Leise vernahm er das Knistern seines kopfstehenden Abbilds auf ihrer Retina. Sie pumpte. Kurz entschlossen schippte er sich einen letzten Löffel Jogurt in den Hals. Dann prüfte er die Haftung seiner Schuhsohlen auf dem Küchenfußboden. Sie begann mit einem ballerinenhaften Schrittchen nach hinten links. Es folgte der kühne Ausfallschritt eines Matadors. Peinlich schloss auf Wucht. Sie wollte ihn vom Platz fegen. Auch gut, dachte er. Während noch Margit in weitem Bogen auf das Leder zustapfte, leckte sich Peinlich über die Lippen. Dann spuckte er neben sich ins Kurzgemähte. Die Wangen leicht einwärts gewölbt, durch und durch lebendig – so liebte er sie.
„Ja! Ich bin schwanger!“ ballerte Margit. Auf Peinlichs Antlitz kondensierte der seismografenerschütternde Jubel einer siegestaumelnden Fußballnation: Eigentor beim Elfmeterschießen nach Unentschieden in der zweiten Verlängerung – Weltmeister! Der auf ihn zufliegende Ball verwandelte sich wechselweise in einen Blumenstrauß, in ein Stück Scheiße und in eine transparente Pizza aus Antimaterie, durch die Peinlich Margit anguckte wie ein Neugeborenes eine Herz-Lungen-Maschine durch das Bullauge eines Brutkastens.
„Na ja, fein“, räumte er ein. „Und wieso?“
Menschen gebrauchen seit langer Zeit Kondomartiges. So waren die alten Römer
anerkanntermaßen Kondombenutzer. Angaben zu den verwendeten Materialien sind
nicht überliefert. Es dürfte sich jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit um tierische
Membranen gehandelt haben. Sicherlich waren die Präser des Altertums als Schutz
vor Empfängnis und Infektionen in vielen Fällen unwirksam.
Rudi war der jämmerlichste Dünnbrettbohrer, der in dieser Welt je einen Fuß
vor den anderen gesetzt hat. Die Weserstraße war ein Teil davon. Rudi stellte
den saublödesten Deserteur, den miesesten Kompromissemacher dar, der je von
der Kienitzer Straße in die Weisestraße eingebogen war. Peinlich bog von der
Kienitzer Straße in die Weisestraße ein. Wenn er aus der Schar derer mentaler
Kleintierzüchter, die je von der Weisestraße in die Okerstraße eingebogen waren,
jenen hätte aussuchen dürfen, der am schlechtesten gekleidet war: Rudi wär’s
gewesen – Rudigunde. An der Ecke Okerstraße verspürte Peinlich das dringende
Bedürfnis, Zeuge eines Verkehrsunfalls zu werden.
Er wandte sich nach links und betrat einen Hauseingang. Es war Rudis Hauseingang. Peinlich stieg die Treppe hinauf und klingelte. Rudi war zu Hause.
„Na, Arsch!“ brüllte Peinlich.
„Gaah“, erwiderte Rudi, grinste und schlurfte in die Küche. Dabei steigerte sich sein Grinsen zu seinem spezifischen Grinsen, einer temporären Variante seines ständigen Grinsens.
Peinlich setzte sich an den Küchentisch. Rudi musterte ihn. „Ja, prima, dufte, danke“, stieg es verdrießlich aus Peinlich auf.
Ihre Begrüßungszeremonie war über lange Jahre gewachsen und traditionell festgeschrieben. Ein Beispiel:
„Und, wie stehen die Dinge?“
„Na, wie sollen sie schon stehen? Man lebt so vor sich hin. Und selbst? Was macht die Kunst?“
„Hmm. Danke der Nachfrage. Es läuft gut, aber man hat doch seine liebe Müh. Du kennst das ja. Es ist halt alles nicht so einfach.“
„Meine Rede. Und sonst? Bei dir alles in Ordnung?“
„Aber sicher doch. Es ist, wie es ist. Man schlägt sich eben durch.“
Wer sich wiederholte oder aufgab verlor. Oft wurde der Sieger der Begrüßungszeremonie auch Tagessieger.
Es geht ihm gut, dachte Peinlich.
„Dir geht’s nicht gut, hä?“ nörgelte Rudi. Und gleich darauf mit dem Pesthauch von Fürsorge: „Hast du Probleme?“ Peinlichs Pupillen verengten sich.
„Ja, die leidigen Probleme“, intonierte er. „Aber haben wir die nicht alle? Nein, das Leben ist wahrhaft kein Zuckerschlecken. Dennoch: Danke der Nachfrage. Es ist immer wieder angenehm, zu spüren, dass es jemanden gibt, der bereit ist, einem eine Last von der Seele zu nehmen. Sieh, was tut der Mensch nicht alles, um sich das Dasein erträglich zu gestalten? Man denke nur an die vielen Sprichwörter und Lebenslügen.“
Rudi sog an den Wangen.
„Morgenstund’ hat Gold im Mund zum Beispiel oder „Je später der Abend“, auch „Im Frühtau zu Berge“ oder „Man stirbt nur zweimal“ – alles Trostpflästerchen gegen die vielfältigen Wirren der Existenz! Nicht zu vergessen „Jedem das Seine“ und „Auf der schwäb’schen Eisenbahne“.“
Luft drang in Rudis Mundraum und seine Wangen federten in die Ausgangsstellung zurück.
„Wie bitte sollten einem diese süßen Verbalkrücken Trost und Stütze bieten, die Bitterkeiten des Dolce Vita zu erdulden, wenn sich nicht hin und wieder Hinz oder Kunz erkundigte, wie es einem so gehe? Probleme? Nein! Und selbst?“ So du Beule, dachte Peinlich.
Rudi schob den Zeigefinger in die Nase und bohrte. Dann fragte er, wie es Margit gehe. Peinlich schwieg. „Übrigens: Nett, dass du mal vorbeischaust“, fügte Rudi an. Peinlich hieb die Rute mit einem kräftigen Ruck seitwärts. „Ja nett, ne? Ich bleibe übrigens“, verlautete er in einem situativ angemessenen Mezzoforte. Rudi riss den Finger aus der Nase. Hell pfiff die Leine von der Rolle. Zwischen Finger und Nasenloch spannte ein Aule-Faden, der einem Quarterpounder von Popel anhaftete, welcher sich amöboid über die Kuppe von Rudis Zeigefinger schmiegte. Peinlich hakte den Karabiner in den Metallring seitlich des Sitzes.
Steil schoss Rudi über die Wasseroberfläche hinaus, wand sich, stürzte, wendete, flüchtete bald in die Tiefe, bald ins Licht, doch er tobte ohne Verstand. Er hätte unter dem Boot hindurchschwimmen können. Vielleicht wäre die Schnur von der Schraube durchtrennt worden? Doch Rudi begriff nicht, was mit ihm geschah. Peinlich stemmte sich gegen das Sternbord und holte Meter für Meter Leine ein. Rudi hatte zu lange mit der vorgelagerten Entscheidung gehadert, ob er unmittelbar zu Peinlichs Eröffnung Stellung nehmen oder ob er zunächst die Aule-Vertakelung zwischen seinem Finger und seiner Nase kappen solle. Das einzig überzeugende Argument war ihm entfallen. Unscharf und im Gegenlicht erkannte er Peinlichs Silhouette, die auf dem Bootsdeck mit einem chromfunkelnden Gaff herumfuchtelte.
Peinlich indes hielt ein Grinsen nieder, das sich anschickte, sein Gesicht zu bewölken. Da saß er mit eisenharten Mundwinkeln auf einem Küchenstuhl. Rudis Blick irrte zwischen ihm und dem popelbekrönten Finger hin und her. Es knirschte unterm Kiel, das Schiff hob sich, Käpt’n Rudi war auf Grund gelaufen.
Ein Stückchen Land mit einem Häuschen drauf, zum Frühstück süße Brötchen. Die Sorte, die er sich jeden Morgen an Deck hatte servieren lassen, damals in Marseille, als der Kahn wegen des Hafenarbeiterstreiks nicht gelöscht werden konnte. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, die halb verkohlte Pfeife zwischen den plaquebeigen Zähnen lehnte Käpt’n Rudi gegen die Reling und guckte zu, wie es sich über dem Horizont zusammenbraute. Der Wind hatte mittlerweile auf acht Stärken aufgefrischt und das Barometer fiel unaufhaltsam. Melancholisch heulte es in den Antennendrähten. In vier Stunden würde ihn die Flut wieder flott gemacht haben, doch bis dahin sollte es zu spät sein. Das stand so fest wie die Möwe im Robbenschiet. Und sollte er wider Erwarten doch rechtzeitig freikommen: Sobald er am Pier festgemacht hätte, würde er seine Mappe mit den Papieren aus der Kajüte holen, in der Bude am Hafentor einen Räucheraal kaufen, den Fisch in sein Patent wickeln und den erstbesten Zug landeinwärts nehmen: die Alpen, das Zentralmassiv, Transsylvanien, egal. Hauptsache weg hier.
Der Aule-Faden drohte zu reißen. Peinlich erhob sich und klopfte Rudi behutsam auf die Schulter.
„Ich mach uns mal Kaffee“, sagte er klopfend. „Ich schlafe in der Küche. Schließlich ist es ja deine Wohnung.“ Noch glomm eine letzte Glut von Aufruhr in Rudi. „Und jetzt friss erst mal deinen Popel“, sprach Peinlich seinem Käpt’n Mut zu und machte sich daran, die Utensilien zum Kaffeekochen zusammenzusuchen. Während er die Kippen aus dem Filteraufsatz klaubte, saß Rudi kauend in einem Zugabteil zweiter Klasse, im Rücken das Meer, vor sich die Berge, neben sich die fettige Papierrolle und in der Hosentasche ein Einfachticket nach Hauptsacheweghier-Hbf.
Mit den Worten „Du suchst dir aber was neues“ meldete er sich zurück, aber da war der Kaffee längst durchgelaufen. Peinlich presste die Lippen aufeinander und blies Luft durch die Nase. Rudi war der jämmerlichste Dünnbrettbohrer, der in dieser Welt je einen Fuß vor den anderen gesetzt hat. Er war es, und er würde es immer bleiben.
Peinlich stand am Küchenfenster und blickte in den Hof. Er kaute ein erzartiges Butterbrot mit Leberwurst. Draußen tobte der Stellungskrieg. Ringelpullover beschossen Hosenmätze mit Granatwerfern. Tauben saßen unbeteiligt auf einem Sims unter der Dachrinne des gegenüberliegenden Hauses und warteten auf ihre Vergiftung.
„Was bin ich?“ fragte sich Peinlich. Er dachte keineswegs an das mittlerweile längst abgesetzte, während der Ära seiner Ausstrahlung jedoch so populäre Fernsehquiz, das eben diese Frage zum Titel hatte. „Was bin ich?“ fragte sich Peinlich, kauend und aberkauend, den Blick in den Hof gerichtet. Nein, er meinte die Frage ernst.
„Ich bin einer von vielen.“ „Ich bin normal.“ Sein Blick blieb an einem verlassenen Vogelnest hängen, das in der Nische eines Speisekammerfensters vertrocknete. „Die Größe des Universums ist unermesslich.“ „Jeder ist sich selbst der Nächste.“ Das reichte. Kaum hatte Peinlich vier Pfähle in den Schlick gerammt, glaubte er, er könne ein Haus darauf errichten. „Was zeichnet mich aus?“ modifizierte Peinlich seine Frage und schrumpfte auf die Hälfte seiner bisherigen Größe zusammen. „Selbstsucht zeichnet mich aus.“ Er brach unter einer kinderleichten Latte zusammen, die er für den Fußboden hatte verwenden wollen und eben noch ohne Schwierigkeiten anheben können. „Ich bin normal“, insistierte er, biss die Zähne aufeinander und wischte sich Blut aus dem Gesicht. „Ich bin selbstsüchtig.“ „Alle Menschen sind schlecht.“ Peinlich stürzte ein Baugerüst hinab, über dessen Herkunft nachzudenken er keine Zeit fand, da er selbst Objekt des Sturzes von eben jenem Baugerüst war. Hier schürfte er sich an einer zementverkleisterten Planke den Rücken auf, dort gab unter dem Gewicht seines Körpers beim Aufschlag auf eines der Gerüstrohre knirschend eines seiner Schlüsselbeine nach. Unten angelangt schlug Peinlich in den Dreck, wand sich und kotzte ein bisschen. Vor seiner Nase glibberte eine Schnecke durch den Schlamm, zu seinen Füßen wuchs ein Büschel Kraut aus dem Modder, und über ihm zogen allerlei lustige Schäfchenwölkchen am Himmel entlang, vielleicht war es aber auch bedeckt.
Während der Schmerz unmerklich nachließ, machte sich Erleichterung in ihm breit: Er war ein Lach-Nazi.
Erneut formulierte Peinlich seine Frage, diesmal mit dem gestellten Unterton von Gralsmystik und Selbstverachtung: „Was bin ich?“ Er antwortete übernächtigt und in bester Laune: „Ein Lach-Nazi!“ Mehr war nicht erforderlich. An einer Stellwand vorbei trat er ins Scheinwerferlicht.
„Sehr geehrte Damen und Herren daheim vor den Bildschirmen, liebe Gäste im Studio, ehrwürdige Jury“, tönte Robert Lembke (er trug einen sonderbaren, blaubraunen Anzug, der Peinlich zu klein gewesen wäre). „Ich denke, ich brauche Ihnen unseren heutigen prominenten Gast nicht vorzustellen: Es ist Peinlich, von Beruf Lach-Nazi.“ Das Studiopublikum applaudierte. Es war heiß auf der Bühne. Peinlich wurde von den Mitgliedern der Jury gemustert. Er war müde und setzte sich auf die Kante eines Tischs, auf dem eine Schale mit Keksen, Gläser und zwei Spardosen in Form von Reichsadlern standen. „Mein Glas! Aufstehen!“ zischte Lembke, als Peinlich eines der Gläser an den Mund setzte. Dann fragte ihn der Quizmaster, wie es ihm gehe. Peinlich schluckte und erhob sich. Er war sich nicht sicher, ob die Frage ihm gegolten hatte. Verstohlen wandte er sich zu den Keksen um. Wenn er bloß nicht die ganze Zeit über würde stehen müssen.
„Na ja, so lala“, antwortete Peinlich schließlich. „Es muss ja. Danke der Nachfrage.“
„Und? Gibt's was Neues?“ konterte der Quizmaster.
„Alles beim alten“, gab Peinlich zurück. „Und selbst?“
Fünf Hostessen in Hakenkreuz-Saris betraten die Bühne und verbanden den Jurymitgliedern mit verschiedenartigen Binden die Augen. Eine der Binden trug die Aufschrift „Ordner“, eine andere „Verkehrspolizei“, der Spaßvogel bekam eine Damenbinde umgebunden und die Dame der Jury eine Binde für Blinde.
„Der Jury sind nun die Augen verbunden. Es kann losgehen“, erläuterte Lembke, packte Peinlich am Ärmel des übergroßen Anzugs, in den man ihn vor der Show gesteckt hatte, und zerrte ihn vor eine Stellwand, auf die eine Zielscheibe aufgezeichnet war. „Im Namen des Volkes daheim vor den Fernsehgeräten bitte ich sie, uns ihre typische Handbewegung zu zeigen. Zeigen sie uns ihre typische Handbewegung“, befahl Lembke. „Bitte!“ Ein Scheinwerfer strahlte Peinlich ins Gesicht. Wenn er es täte, würde man ihn in Ruhe lassen. Das hatte man ihm versprochen. Widerwillig hob er den Arm zum Hitlergruß. „Und? Ist das alles?“ fauchte Lembke. Peinlich steckte die Linke in die Tasche der Anzughose und kratzte sich am Sack. Dabei erspürte seine Hand im Inneren der Tasche einen erbsenkleinen Gegenstand. „Na? Wird's bald!“ durchschnitt Lembkes Stimme die Stille. Also simulierte Peinlich ein Lachen. Es geriet nicht besser als das Lachen, das sie ihm vorgemacht hatten. Lembke, die Jury, das Publikum, aber sicher auch der größte Teil der Fernsehzuschauer daheim brachen in tosenden Applaus aus. Peinlich wartete, bis sich der Jubel gelegt hatte, dann fragte er, ob er jetzt gehen dürfe. Daraufhin brach der Applaus von Neuem los, nunmehr allerdings durchmischt mit Gelächter.
Lembke wies ihm einen Stuhl an. „Ja, welches Reichsadlerl hätten's denn gern?“ fragte er, als Peinlich Platz genommen hatte, und setzte damit voraus, dass Peinlich überhaupt einen Reichsadler wollte. Peinlich war todmüde und wollte ins Bett. Wenn überhaupt, so hätte er vielleicht einen der Kekse gewollt. Er zeigte grob in die Richtung, ohne dass Lembke aus der Bewegung hätte erkennen können, welcher der tönernen Symbolvögel gemeint war (faktisch war kein Adler gemeint – Peinlich wollte lediglich seine Ruhe haben). Peinlich befühlte den weichen, ellipsoiden Gegenstand in der Hosentasche. Lächelnd wuchtete Lembke eine der Spardosen vor Peinlich auf die Tischplatte. „Sie kennen die Regeln?“ behauptete er. Peinlich kannte sie nicht. „Wer beginnt?“
„Ich“, meldete sich die Dame mit der Blindenbinde.
„Sie haben das Wort“, übergab Lembke.
Glockenhell erklang ihre Frage aus dem roten Mund unterhalb der drei schwarzen Punkte auf gelbem Grund: „Sind sie vielleicht ein Lach-Nazi?“ Peinlich fragte sich, was das sein könne. Ob es aus Gummi war? Die Oberfläche fühlte sich gewissermaßen klebrig an. Lächelnd trat ihn Lembke gegen den Knöchel.
„Wie bitte?“ stammelte Peinlich. Er ließ den Gegenstand los und legte die Hände auf den Tisch. Vielleicht würde man ihn in Ruhe lassen, wenn er sich konzentrierte?
„Nun, sind sie ein Lach-Nazi?“ wiederholte die Dame kokett. Mit „ja“ antworten, immer mit „ja“. So war er instruiert worden. Peinlich wandte sich Lembke zu. Der erwiderte den Blick wässrig, hielt den Mund geschürzt und nickte unsichtbar.
„Ja“, sagte Peinlich. Er war hundemüde und hätte sich gern der Länge nach ausgestreckt. Das Publikum, die Jury und sicher etliche tausend Holzköpfe vor den Fernsehapparaten applaudierten infernalisch. Die Jury nahm die Binden ab.
„Tut mir Leid“, jammerte Lembke und klopfte Peinlich kongenial auf die Schulter. „Tut mir wirklich furchtbar Leid, dass es so schnell ging. Leider ist ja kein einziger Reichstaler in ihrer Spardose gelandet. Wirklich zu schade.“
„Schon ok“, versuchte Peinlich zu vermitteln. Ist ja nicht mit anzuhören, dachte er. Es schien dem Ende entgegenzugehen.
„Ihre Handbewegung und das Lachen wird sie verraten haben“, mutmaßte Lembke. „Haben sie dennoch vielen herzlichen Dank, dass sie zu uns ins Studio gekommen sind. Ich wünsche ihnen weiterhin viel Erfolg.“
„Ja“, sagte Peinlich. Für Gummi war es zu weich. Schaumgummi vielleicht? Aber dafür war die Oberfläche zu zäh. Möglicherweise hohl? Lembke schüttelte ihm die Hand. Die Linke behielt Peinlich in der Hosentasche.
„Auf Wiedersehen!“ grüßte der Quizmaster. Hoffentlich nicht, dachte Peinlich. Eine Hostess geleitete ihn hinaus.
Hinter der Bühne übernahmen ihn zwei bewaffnete SS-Männer. Sie führten ihn die Treppe hinab durch den weißgekalkten Kellergang bis zurück in seine Garderobe. Peinlich setzte sich an den Schminktisch vor den großen Spiegel mit den Glühbirnen drumherum. Die Posten standen zunächst noch im Gang und unterhielten sich. Bevor ihre Schritte dann verhallten, rüttelte einer an der Tür, wie um zu prüfen, ob sie auch verriegelt sei. Erst jetzt nahm Peinlich den kleinen Gegenstand hervor. Es war eine Art Tablette. Eine zähe Gelatinehaut umschloss eine trübe, dunkelblaue Flüssigkeit. Obenauf war eine kleine Luftblase.
Peinlich trat vom Küchenfenster weg, legte den Rest der Leberwurststulle in den Abwasch, nahm seine Jacke und verließ Rudis Wohnung. Er stieg die Treppe hinab, durchquerte den Hauseingang, bog nach links ab und ging der darmkranken Backsteinrückseite der Kapelle des St. Martin Friedhofs entgegen. Er passierte die Hermannstraße und marschierte an zig steinernen Engeln und traurigen Omis vorbei über den Friedhof. „Was bin ich?“ Ernsthaft, blindwütig und ohne zu wissen, was er tat, hatte er sich diese Frage gestellt. Er war unachtsam gewesen. Er hatte einer Unsicherheit Gelegenheit gegeben, sich anzupirschen (Unsicherheiten sind stille und einzelgängerische Jäger). Sie hatte die Gelegenheit genutzt. Peinlich spürte sie, wie der Hund den Briefträger.
Durch die taufeuchte Zeltbahn drang nur ein Schimmer. Etwas musste ihn geweckt haben. Ein Geräusch. Peinlich erinnerte sich an kein Geräusch. Er richtete sich auf und öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks, bis seine Arme frei waren. Kalt sickerte es in die Daunen. Es musste früh am Morgen sein. Neben dem zusammengerollten Pullover, der als Kopfkissen diente, lag die Pistole. Ein Knacken, vielleicht ein Atemgeräusch? Jedenfalls ein Geräusch. In rosa Seidenunterwäsche gehüllt verhieß eine Stimme Peinlich schöne Träume, wenn er sich nur wieder zudecken und weiterschlafen wolle. Die Pistole war kalt und schwer. „Schlafe“, säuselte die Stimme, „und vergiss, was du, indem du mir lauschst und meinen Handel erwägst, bereits zu vergessen im Begriff bist“. Lautlos entsicherte Peinlich die Waffe. Er lauschte dorthin, von wo das Geräusch gekommen sein musste. Zeit verstrich, während er mit chirurgischer Präzision die um das Zelt schleichende Stille in ihre Bestandteile zerlegte. War er in Gefahr? – Er war erwacht. Das war alles. Es würde still bleiben. Peinlich schob den kleinen Metallfinger am Schaft der Waffe zurück, bis der kleine rote Punkt verdeckt war. So war es richtig. Dann legte er den Gegenstand zurück neben das Kopfkissen und streckte sich aus. Eine höhere Instanz hatte ihm den Befehl erteilt, aufzuwachen. Peinlich zog den Reißverschluss wieder zu. Die Instanz hatte mit ihrem Handeln nicht auf sich aufmerksam machen wollen. Nein, sie hatte ihn geweckt. Die Daunen wärmten Peinlich. Es war kein Indiz. Es war der Beweis für das Vorhandensein einer Gefahr. Er selbst war es! Er hatte sich selbst geweckt. Aber warum? Um diesem schlaftrunkenen Etwas zu begegnen, das sich leichtgläubig auf die Seite drehte, um weiterzuschlafen? Diesem Schwächling, der sich für harmlos hielt? Krachend fuhr der Blitz in einen salzwassergetränkten Scheuerlappen. Nein, er war nicht harmlos. Er war Peinlich. Er war gefährlich, und er war in Gefahr. Peinlich setzte sich auf und öffnete den Schlafsack bis hinab zum Bauchnabel. Die Kälte des Zelts trat ein und tat gut. Der Schlaf zog alle Register billiger Verführungskunst. Peinlich aber durchwachte die Dämmerung. Geduldig und in der stolzen Gewissheit, dass seine aufmerksamen Ohren keinen Laut vernehmen würden, wartete er auf ein Geräusch, das nicht kam.
So überquerte er den Friedhof, lief durch den Park und kreuzte die Karl-Marx-Straße. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass auf die Bronzegruppe am Karl-Marx-Platz in gehabter Manier die Tauben kackten, lief er weiter über den Richardplatz in Richtung Sonnenalle. Er passierte das abgesplitterte Emailleschild seines Zahnarztes, bog in die Innstraße ein, spuckte aus, als er auf der Brücke angelangt war, und erwartungsgemäß fiel die Spucke in den Neuköllner Schifffahrtskanal. Als er die Stadtmauer erreichte, kam Peinlich für einen Moment zum Stillstand (vielleicht stand ja die Stadtmauer damals noch?). Ohne ein Gefühl von Verwirrung oder Missbehagen wandte sich Peinlich um. Er ging das Kielufer entlang, an den Schrottplätzen vorüber. Er umrundete den Wildenbruchpark, drückte sich am Rathaus Neukölln durch die Menschenmenge, die die Treppe zur U-Bahn emporquoll, und erreichte bald darauf Rudis Haustür.
Während noch Peinlichs Blick über das halb trockene Linoleum schweifte, berührte
etwas seine Schulter. Es war ein Finger (nein, nicht Margits Finger). Das Gliedmaß
war Teil einer jungen Frau, der Peinlich nie zuvor begegnet war (sie hieß Lenka).
Von rechts hinten hatte ihm Lenka auf die linke Schulter getippt, woraufhin
Peinlich eine Drehung von zwei Dritteln eines Ganzkreises gegen den Uhrzeigersinn
vollführt hatte, was sonst nicht seine Art war. Er blickte in ein spezifisches
Grinsen, das zu einem ihm bekannten spezifischen Grinsen unweit von Lenkas spezifischem
Grinsen in einem Verhältnis stand wie Laubbäume zu Nadelbäumen. Peinlich blickte
in einen Mischwald, den kleinsten, den man „Mischwald“ nennen darf.
„Lenka Peinlich – Peinlich Lenka“, introduzierte Rudi. Das Spiegelbild rief in der jungen Frau die Erinnerung an einen Mann wach, einen Onkel, dem Peinlich nie zuvor begegnet war. Sie waren zum Baden ausgeritten. Peinlich hatte vor dem Onkel auf einem kolossalen Pferd gesessen. Der Onkel hatte seinen gewaltigen Arm um Peinlichs damals noch flache Brust gelegt. In der anderen riesenhaften Hand lagen die Zügel. An einem See angelangt hatte sich der Onkel um das Pferd gekümmert, während Peinlich schon vor Vergnügen quietschend sein Hemdchen, sein Röckchen und sein Unterhöschen auszog. Nackt bis auf die Stiefelchen hüpfte er auf der Uferwiese umher. Der Onkel hatte ihm helfen müssen, die Stiefelchen auszuziehen, denn es waren Schnallen daran, die Peinlich nicht allein öffnen konnte. Dann hatte sich der Onkel ausgezogen. Er war groß und Haare bedeckten seinen Körper. Er hatte Peinlich bei den dünnen Beinchen genommen, ihn auf die Schultern gehoben, und sie waren kreischend und brüllend ins Wasser gelaufen. Immer wieder war Peinlich von den Schultern des Onkels auf dessen Kopf geklettert und von dort ins Wasser gesprungen. Während der Onkel dann Peinlich mit einem Handtuch abrubbelte, hatte er etwas erzählt. Was der Onkel erzählte, muss wichtig gewesen sein. Peinlich erinnerte sich an jedes Wort. Dennoch verstand er nicht. Alles hatte fremde Bezeichnungen. Peinlich verstand auch die eigenen Worte nicht, als er den Onkel zitternd und mit vom langen Bad bläulichen Lippen um etwas gebeten hatte. Obwohl Peinlich die fremde Sprache fließend beherrschte, verstand er nicht, was er sagte. Der Onkel hatte eine Decke ausgebreitet und sich in der Sonne ausgestreckt. Es folgten fremde und bekannte Bilder und Gefühle. Dann lief Rudi neben ihm her. Er sprach Deutsch (zumindest das, was Rudi für Deutsch hielt), und wiederum verstand Peinlich kein Wort.
„Lenka versteht kein Deutsch, kein Englisch, nichts. Nur kein Tschechisch versteht sie nicht.“ Rudi verschränkte die Arme. „Sag was. Sie versteht dich nicht.“
„Ich habe in der Nordsee gebadet, als ich klein war“, ließ Peinlich fallen und machte eine Schwimmbewegung. „Da waren mächtige Wellen, und gefroren habe ich.“ Er simulierte, beim Baden seitwärts von einer Welle getroffen zu werden, und schlotterte ein wenig. Rudi hielt eine Hand vor die Stirn und blickte aufs Pflaster. Gleich fängt er wieder an, von dem Buch zu faseln, dass er irgendwann schreiben wolle, ahnte Peinlich. Rudi fing aber nicht davon an. Dafür ergriff Lenka Peinlichs Arm und schüttelte ihn. Seinen Arm, nicht seine Hand.
„Kál eñ kâ le n’kal en k’“, machte Rudi, und Lenka ging: „Ir û dir ùd ir udï
rûd i“. Peinlich saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln. „Schäl mal Kartoffeln!“
hatte Rudi behauptet. Peinlich hatte weder ein Bedürfnis noch eine Abneigung
verspürt, Kartoffeln zu schälen. Er hatte schlicht nicht erwägen wollen, ob
er Rudis Aufforderung nachkommen sollte. Es hätte in seinem Schädel ein taubes
Hin und Her ausgelöst, das sich bestens dazu eignete, genossen zu werden, wenn
man währenddessen Kartoffeln schält. Also hatte sich Peinlich an den Tisch gesetzt
und damit begonnen, von den Knollen der Solanum tuberosum die Rinde runterzusäbeln.
Als dann die kreischende Lenka aus der Küche in Rudis Zimmer flüchtete (Rudi,
im Gleichschritt, hatte sich dabei quasi an ihren Brüsten festgehalten), war
Peinlich bereits der erste Vorteil des Kartoffelschälens aufgegangen. Er bestand
darin, dass man, während man Kartoffeln schälte, in aller Ruhe darüber nachdenken
konnte, was dafür und was dagegen sprach, dass man sich mit eben der Tätigkeit
beschäftige, die man auszuführen just im Begriff war. Leider wollte Peinlich
so ad hoc kein weiteres Pro vor die Linse hopsen. Schälend und mit hängenden
Lidern durchkämmte er seinen Großhirnlappen nach weiteren verloren gegangenen
Geburtstagsgrußkärtchen. Erwartungsgemäß breitete sich alsbald seichte Gleichmut
in ihm aus wie eine bizarr verästelte Struktur über eine weite Ebene. Alles
war ungeheuer kompliziert und beruhigend. So wie Pompeji, dachte Peinlich (er
konnte sich nicht erinnern, je in Pompeji gewesen zu sein – und er war auch
nie dort, außer einmal, im Jahre 79 des Herrn in Gestalt einer Tüte Erdnusslocken,
aber das hatte er zum Glück vergessen).
„Jebej me!“ keuchte es fröhlich aus Rudis Zimmer.
„Aber hallo!“ japste Rudi.
Irgendein Dösbattel hatte einen verlassenen Ozeanliner mit einem einzigen armdicken Tampen an der Mole vertäut. Nun sog die Tide den unbeleuchteten Pott in die Nacht hinaus, und unklar war eigentlich nur, ob die Strippe reißen oder ob der Poller den Geist aufgeben würde (vermutlich dort wo zwischen Rost und Beton Tang und tote Krebse vor sich hinfaulten). Peinlich klaubte einen weiteren Erdapfel aus der Bintjetüte. Pompeji ödete ihn an. Es war eine Sackgasse: groß, kompliziert, langweilig. „Modern Peeling“ hätten es die Schweine in den PR-Abteilungen getauft. Peinlich langte in die Tüte. Das Wissen um Rudis und Lenkas schmatzendes Gekober, ihr quietschendes Vögeln, ihr donnerndes und ratterndes Gebums und Gefick’, ihr elendiges Gebohner, Gehack’ und Gebürst’, ihre horrend’ aufreitende Beschälerei hätte die Rammlerpopulation der Lüneburger Heide in eine tiefe Glaubenskrise gestürzt. Lenka schrie, Rudi schwieg. Sich vorzustellen, warum Rudi schwieg, widerstand Peinlich unter Preisgabe der letzten Zwiebackreserven. Dann waren die Kartoffeln geschält, geschnitten, gewässert, die Schalen in die Abfalltüte befördert, das Schälmesser abgespült, abgetrocknet, ins Schubfach zurückgelegt, der Tisch abgewischt, Peinlich juckte sich, fertig.
Lenka sah Peinlich an, als sei sie ein Pavian, und er sei ein Versuchstier,
das sie ungemein belustige, stand auf und ging aufs Klo.
„Sag ich doch! Sie versteht dich nicht“, prahlte Rudi. „Aber drei Worte Deutsch hat sie gelernt.“
„Als da wären?“ erkundigte sich Peinlich voreilig und befürchtete das Schlimmste.
Rudi war dabei den Inhalt der Einkaufstüten auf den Küchentisch zu häufen. Mit einer eleganten Drehung nach rückwärts schaltete er das fettüberkrustete Dampfradio ein, das am Herd stand. „Ficken, Fressen, Fernsehen“, verkündete er. Dein Glück, dachte Peinlich.
„Und wie viele Worte Tschechisch hast du gelernt?“ fragte er fairerweise.
„Richtig“, gestand Rudi und wandte sich zur Tür. „Lenka, wie heißt „Ficken, Fressen, Fernsehen“ auf Tschechisch?“
„Ficke’, Fresse’, Fernse’n“ sang Lenka. Mit klarer, tragender Stimme sang sie die drei Worte über die Erkennungsmelodie von Radio Plsen. Dann sang sie ein tschechisches Volkslied. Rudi regelte die Lautstärke des Radios herunter. Das Volkslied war eine Ballade und machte den Eindruck, als habe es dreißig Strophen (hatte es auch). Zwischen fünfzehnter und sechzehnter Strophe legte Lenka eine Zäsur ein und furzte in die Schüssel.
„Was macht sie eigentlich beruflich?“ scherzte Peinlich zu Beginn der siebzehnten Strophe, als gesichert schien, dass der weitere Verlauf der Darbietung keine Überraschungen mehr bietet. Rudi regelte die Lautstärke des Radios wieder hinauf.
„Was weiß denn ich? Wenn ich sie was frage, hört sie interessiert zu, schaut mich an, und beißt mir ins Ohr.“ Peinlich nickte. „Aber sie hat mir einen Zettel gemalt. Oben steht „Lenka“, darunter „CS“, dann ein Pfeil und dahinter „Rudi“. Aber da kannten wir uns kaum eine halbe Stunde. Ich kam aus dem Kino. Sie stand da so und fragte mich was Tschechisches. Ich meine, hätte ich da unhöflich sein sollen?“
Peinlich schüttelte den Kopf und biss von einer Mohrrübe ab. Er hatte noch nie den Kopf geschüttelt und zugleich von einer Mohrrübe abgebissen.
„Sie könnte Sängerin sein“, verkomplizierte Rudi.
„Sie ist Sängerin“, biss Peinlich kopfschüttelnd ab (ein altersschwacher Pudel im Streit mit einem Badehandtuch).
Als Lenka vom Klo kam, bat Rudi erneut um die Übersetzung der drei Worte ins Tschechische. Sie fiel ihm um den Hals und summte mit gut eingesungener Stimme: „Ficke’, fresse’, fernse’n.“ Dann biss sie zu.
Die Herkunft des Worts „Kondom“ ist ungewiss. Vielleicht war es ein Arzt namens
Condom oder Conton, der dem angeblich wegen seiner zahlreichen unehelichen Nachkommen
besorgten König Charles dem Zweiten von England (1660-1685) empfahl, seinen
königlichen Pumpenschwengel mit einer Fisch- oder Schweinsblase, einem am Ende
zugeknoteten Stück Schafsdarm oder einem Rinderblinddarm zu überkleiden, bevor
er sich in das betreffende irdische Jammertal hinabbegebe. Seiner königlichen
Majestät royaler Potenz gemahnend, lärmte Charles des Zweiten zahlreiche Brut
in den Gängen seines Schlosses. Nicht aber, weil ihm die Rasselbande auf die
Nerven fiel oder weil derer diverse Mütter beständig mehr Unterhalt für ihre
Nachkommenschaft forderten, ließ sich der König von seinem Arzt zu der befremdlichen
Maßnahme raten, nein, er wollte sich vor der damals unheilbaren Syphilis schützen,
die bereits einen stattlichen Anteil europäischer Gehirne (auch königliche)
munter zersetzt hatte. Vielleicht fühlte sich ja King Charlie dem braven Volk
der Engländer oder auch dem Herrgott persönlich verpflichtet, dennoch hin und
wieder den Brunftbusch zu roden? Als Herrscher jedenfalls war es sein Ziel,
den Katholizismus im Lande zu festigen, was aus heutiger Sicht ebenfalls befremdlich
anmuten mag. Charles der Zweite war also Engländer, Kondombenutzer und Katholik.
Wie jetzt?
Gleich einem Schwarm Wale durch die entlaubten Zweige einer ins Wasser gestürzten
Pappel zog eine Herde Zeppeline an den lindgrün gestrichenen Eisenverstrebungen
entlang, die die zahllosen Scheiben der lang gestreckten Glaskuppel stützten.
Als habe Peinlich sein Leben lang darunter gelitten, sich in zu niedrigen Räumen
aufzuhalten, wurde sein Hals, seine Wirbelsäule, wurden seine Beine, wurde alles
an ihm länger. Er wuchs mit jedem Atemzug, den er der Unendlichkeit entgegenexistierte
(selbstverständlich wuchs er nicht messbar. Peinlich war einen Meter und noch
was groß und blieb exakt einen Meter noch was). Er atmete Seeluft, Bergluft,
Abluft, alle Sorten von Schweißluft, den Kaffeeduft, der aus der angrenzenden
Cafeteria in die Halle zog, er atmete die Ausdünstungen von Lack-, Öl- und Kalkfarbe,
Plastikfolie, feuchtem Filz und den Geruch von ununterbrochen angeschalteten
Neonröhren. Außerdem atmete er die Verbrennungsgase, die entstehen, wenn jemand
mit Kreppsohlen auf Sandsteinplatten umherquietscht. Im Gleichtakt mit der riesenhaften
Halle, diesem wunderbaren Schiff, im Gleichtakt mit all seinen Passagieren und
seiner Mannschaft atmete Peinlich ein und wieder aus. Ständig. Ein und aus.
Er beaufsichtigte Gemälde, Skulpturen und Kunstobjekte der jüngeren Moderne, die im Rahmen der Wanderausstellung einer großen amerikanischen Kunstsammlung in der Halle des ehemaligen Hamburger Bahnhofs im Berliner Stadtteil Moabit gezeigt wurden. Es war ein Job. Peinlich wurde dafür bezahlt, dass er existierte. Er erfüllte diese Aufgabe blendend. Die Höhe seiner Bezahlung war unabhängig davon, wie er sich während der Arbeit fühlte. Peinlich fühlte sich vortrefflich. Er trug ein Klemmschildchen. Es sah so aus:
Peinlich
Aufsicht
Natürlich beaufsichtigte Peinlich gar nichts. Nur zufällig deckte sich sein
Verhalten während der entlohnten Beschäftigung mit der Vorstellung, die sich
ein gewisser Stefan von der Tätigkeit einer Ausstellungsaufsicht machte. Er
hatte Peinlich eingestellt. Stefan saß zumeist im Chefsessel eines Bürozimmers
im ersten Stock des Bahnhofsanbaus und wartete. Gelegentlich machte er eine
Runde, um zu schauen, ob die Aufsichten auch brav auf ihren Posten standen und
arbeiteten.
Hohe Trennwände, die in gleichmäßigen Abständen über die weite Ausstellungsfläche aufgestellt worden waren, unterteilten die ehemalige Bahnhofshalle in ein gutes Dutzend großzügiger Räume. Jeder einzelne war geringfügig großzügiger als der Wohnraum, der einem mittelmäßigen Oberstaatsanwalt durchschnittlich zur Verfügung steht. Bei Öffnung der Ausstellung um 1000 Uhr ordnete Stefan den Aufsichten je einen dieser Räume zu.
Die Hände hinter dem Rücken ineinander gefasst überblickte Peinlich sein Revier. Es gab Leute, die ihn beim entlohnten Existieren störten. Dies waren in erster Linie die Ausstellungsbesucher, insbesondere deren sabbernder und randalierender Nachwuchs. „Die Kunstgegenstände bitte nicht berühren“, erlaubte sich Peinlich von Zeit zu Zeit freundlich anzumerken. „Na!“ rief er, wenn er hingegen ein dringlicheres Bedürfnis verspürte, sich zu äußern. Er erhob seine Stimme scheinbar, um zu verhindern, dass Dinge geschähen, die der Ausstellungsleitung unlieb gewesen wären. Dem war jedoch nicht so. Peinlich gab Laut, wenn er dazu Lust hatte. „Flossen weg da hinten!“ brüllte er (oder auch: „Flossen hoch da hinten!“).
„Eine ältere Dame hat sich bei mir beschwert. Sie sei von einer Aufsicht in rotem Hemd aus nächster Nähe angeschrien und beleidigt worden“, rügte Stefan. „Du bist der Einzige, der heute ein rotes Hemd trägt. Sei bitte etwas höflicher zum Publikum, ja? Denk mal darüber nach, ja?“ Es war Rudis Hemd. „Ja“, sagte Peinlich. Sein Hemd hing in Rudis Küche. Es war unauffällig gefärbt. Frisch gewaschen, unauffällig gefärbt, feucht. Peinlich mochte sein Hemd. Rudis Hemd war auffällig gefärbt und trocken. Stefan schien es zu mögen. Peinlich blickte ihm nach, als er in sein Büro zurückschlorrte. Dann fauchte er: „Bengel! Nimmst du wohl deine blatterngeschwärzten Dreckspfoten da weg!“ Die Energie des Bauwerks durchströmte Peinlich. Sie staute sich in ihm auf und brach in unregelmäßigen Abständen aus ihm hervor. Seine Worte brandeten gegen die Wände der Halle wie der Schrei des Seeadlers gegen die Klippen.
Auf Kunstprofessoren war Verlass. Davon gab es massenweise in der Ausstellung.
Peinlich brauchte nicht auf sie zu warten. Ständig kamen neue angewatschelt.
Es war eine erfrischende Meditation. Peinlich unterschied in ungetarnte und
getarnte Kunstprofessoren. Die Vertreter der ersten Klasse hatten bereits eine
Fragen stellende Meute im Gefolge, während er sie kommen sah, die zweite Klasse
wurde von einer Fragen stellenden Meute erst umringt, nachdem Peinlich sich
den betreffenden Kunstprofessor vorgeknöpft hatte. Die Fragen stellenden Meuten
bestanden aus Kunststudenten. Davon gab es massenweise in der Ausstellung. Peinlich
brauchte nicht auf sie zu warten. Ständig kamen neue angewatschelt. Er war sich
sicher, es gäbe mehr Kunststudenten in der Ausstellung als Besucher, denn auch
der größte Teil des Aufsichtspersonals setzte sich aus ihnen zusammen. Die getarnten
Kunstprofessoren streiften meist in Begleitung einer einzelnen Kunststudentin
durch die Ausstellung und waren auf den ersten Blick nicht von Viehdieben zu
unterscheiden. Viehdiebe waren seltene Besucher. Wenn sich Peinlich mit einem
Kunstprofessor anlegte, so strömten von allen Seiten Kunststudenten herbei und
lauschten interessiert der Auseinandersetzung. Sobald der Streit vorüber war,
löcherten dann die Kunststudenten den Kunstprofessor mit Fragen. Weder die getarnten
noch die ungetarnten Kunstprofessoren wurden ihre Meuten los, bevor sie die
Ausstellung verließen.
Der Vogel war ein Kunstwerk eines Künstlers namens „Zwingli“ oder so ähnlich. Peinlich dämmerte dem zur Seite vor sich hin und schaute verloren drein. Es handelte sich um eine genmanipulierte Drossel mit schwarzem Schnabel und schwarzen Beinen, die auf einem weißen, hüfthohen Sockel stand. Bis auf zwei Drähte, die zur Versteifung in die Krallen und Läufe eingearbeitet worden waren, bestand das Tier aus schwarzem Silikongummi. Gemeinsam mit zwei Hundenäpfen, die aus demselben Material gefertigt und in einigem Abstand links und rechts ebenfalls auf Sockeln montiert waren, bildete die Skulptur ein Werk namens „Trilogie“. Obschon der Vogel aus einem toten Stoff bestand, vermittelte er den Eindruck von Verlorenheit, einer Eigenschaft aus der Welt des Lebendigen (die Gründe hierfür sollen an keiner Stelle dieses Buchs erörtert werden). Wisst ihr, schwarzes Silikongummi ist ein seltsames Material. Den meisten Menschen ist es unbekannt. Es ist weich, und seine Oberfläche macht einen fettigen Eindruck, obwohl sie nicht fettig ist. Peinlich war, bis er den Vogel zum ersten Mal erblickt und verständlicherweise ohne zu zögern angefasst hatte, nie damit in Berührung gekommen. Das Tier hatte sich als äußerst elastisch und reißfest erwiesen. Der Schnabel beispielsweise ließ sich um 180° nach hinten biegen und schnellte, wenn man ihn losließ, sofort in seine ursprüngliche Position zurück.
Unmittelbar beim ersten Anblick des Tiers durchfährt den Betrachter die Frage: „Was, wenn dieser Vogel nun echt ist?“ Ein starkes Bedürfnis wächst in ihm, sich durch einfaches Anfassen Gewissheit über die wahre Beschaffenheit des Gegenstands zu verschaffen. Wohnt dem Tier tatsächlich jene seltsame Lebendigkeit inne, die es ausstrahlt? Je länger man die Amsel anschaut, ohne sie zu berühren, desto dringender wird der Verdacht, einen armen, reglosen, negroiden und durchaus lebendigen Vogel vor sich zu haben, der von zehn Uhr früh bis abends um acht auf einen Sockel montiert ist, um fortwährend gepiekst, gewürgt und geknetet zu werden. Wagt der Betrachter dann, das Kunstwerk zu berühren, und fühlt er deutlich, dass die Dramsel mausetot und aus Gummi ist, so kompensiert er seine bisherige Horrorvision von der gequälten Kreatur, indem er den Silikonklumpen nach Herzenslust piekst, würgt und knetet. Dies zu verhindern fühlte sich Peinlich berechtigt, nicht jedoch verpflichtet (er glaubte übrigens das Kunstwerk verstanden zu haben).
So dämmerte er also neben dem Tier vor sich hin und schaute verloren drein.
Einer war hager. Er trug das dunkle Haar verdächtig kurz. Genau genommen sah er aus wie ein Glas Brackwasser, auf dem eine Lache Roy Orbison schwamm. Peinlich dachte gerade, dass er es jetzt mal wieder ganz gut brauchen könne, als der Kunstprofessor an der Spitze einer Horde studentischer Weicheier zwischen zwei Trennwänden hindurch sein Aufsichtsrevier betrat. Der Mann bewegte sich direkt auf den leidenden Vogel zu. Peinlich und der leidende Vogel unterdes fixierten gemeinsam einen Punkt am Horizont. Von Peinlichs und des Vogels Warte aus waren allerdings weder dieser Punkt noch der Horizont sichtbar. Ein hagerer Kunstprofessor, eine Wand von Kunststudenten sowie eine Großstadt standen ihnen in der Latichte.
OK. Das reicht. Jetzt lieber was anderes.
Fernes Glockengeläut. Der Morgen schimmert durch die Vorhänge. Margit kommt
auf einem Brauereipferd ins Schlafzimmer geritten. Ihr Haar ist zerzaust, es
hängen Blätter und Zweiglein darin. Ihr Körper glänzt und zeigt Narben von vergangenen
Kämpfen. Sie trägt einen Stahlmini und einen Ketten-BH. In der Hand hält sie
ein silbernes Tablett, darauf finden sich ein Plastiklöffel und ein geöffneter
Jogurtbecher. Als sie absitzt, erkennt Peinlich, dass sie unter der Blechwäsche
nackt ist. Margit lässt sich auf der Bettkante nieder. Peinlich gähnt, rekelt
sich und reibt sich die Augen.
Margit Du bist erwacht mein
schöner Prinz?
Ich bringe dir nach unsrer ersten Liebesnacht
Ein Jogurt hier -
Daran sollst du dich stärken.
Zuvor jedoch gib Antwort mir
Auf Fragen, die schwer auf meiner Seele brennen.
Hast du auch keine andre, sprich!
Hast eine andre du gehabt?
Peinlich O Margit, sieh:
Was hat man schon?
Der Mensch ist einsam doch geboren,
Und einsam brät er in der Hölle.
Kann einem Mann denn schön’res widerfahren,
Als dass ein lieblich' Weib ihr Lächeln zum Geschenk ihm macht,
Ganz wie du es getan, sag ehrlich, gibt’s noch Fragen?
Margit Ja Peinlich, sprich
– und glaube mir,
Es fallet meinem bangen Herzen gar nicht leicht,
Das heikel’ Thema anzurühren.
Die off’ne Wunde fehlgegang’ner Liebesmüh,
Sie brennt noch fürchterlich in mir.
Doch will ich’s wagen und dir feste in die Augen schau’n.
Mit allem Mut und aller Kraft frag’ ich dich,
Peinlich: Liebst du mich?
Peinlich Na klar, gewiss
doch, jede Wette!
Man sieht’s ganz deutlich doch daran,
Dass ich die Nacht verbracht in deinem Schoß
Und du mir’s Frühstück bringst ans Bette.
Wie könntest du dies tun,
Wenn du nicht spürtest, Kraft Intuition,
Dass ich dich innigst liebte?
So sei beruhigt und reich’ den Becher mir.
Margit Nun denn, ich will
dir glauben.
Doch will ich dir noch nicht den Becher reichen.
Peinlich Das nenn’ ich fies!
Lass dir versichert sein,
Du gehest fehl, ein solches nicht zu tun.
Margit O Peinlich, das mag
sein.
Doch bist du erst am löffeln,
So wirst du nimmer mehr mir lauschen.
Deshalb vernimm: du sagst, du liebest mich.
Wie aber kann ich wissen,
Dass deine Liebe währen wird,
Dass sie, gleich einer steinern Burges Mauer,
Der Zeit wird trotzen,
Dass sie wird jene überdauern?
Peinlich Sie wird jene überdauern?
Margit So sprach ich.
Peinlich O Margit, wirres
Kind:
Die Mauern einer Burg, sie währen ewiglich.
Wenn an den Poren, Ritzen einer solchen Wand,
Man kaum erkennen kann, dass Zeit verronnen,
Sind ganze Sippen schon verreckt
Und neue auferstanden.
Wie kann denn Liebe währen,
Wenn wir zu Erdöl oder Kohle längst geworden sind?
Margit Nun also, sprich:
Wirst du mich immerfort dann lieben?
Peinlich Ja, wenn das so
ist –
Glaube schon, gewiss!
Margit Gut. Findest du mich schön?
Peinlich He! Ist das hier
ein Quiz?
Ich dacht’ du brächtest Speise mir.
Margit So sprich!
Peinlich OK. Ich wiege wohl
ganz gern
In meinen hohlen Händen deinen Busen.
Margit Nun, das kann ich
sehr gut verstehen.
Ich schmiere ihn auch täglich mit einer Extra-Busen-Creme.
Doch bin ich deshalb schön?
Peinlich Oh, unbedingt! Ich
meine, …
Du weißt schon, was ich meine.
Margit Willst sagen, die Figur …
Peinlich Famos!
Margit Und auch die Nase nicht zu groß?
Peinlich Ein wenig nur.
Doch dafür hast du lange Beine.
Margit Mein Gott, das ist ja wunderbar.
Peinlich Ich glaub’, mein Schatz, es hungert mich.
Margit So bin ich also schön.
Doch bist du sicher, dass du dich nicht irrst?
Peinlich Na ja, …
Margit Halt ein!
Mir bangt, du könntest dich besinnen!
Ich will vielmehr mit adlergleicher Kühnheit
Die Dreistigkeit besitzen, an dich zu appellieren,
Sprich Peinlich: Hat es dir Pläsier berei't,
Heut Nacht mit mir zu kopulieren?
Peinlich Es war nicht schlecht.
Margit Was soll denn das
bedeuten?
Wohl dass es schön war, willst du damit sagen.
Doch jäh bricht Zweifel in mir auf:
War’s etwa schöner noch, mit einem jener Frauenzimmer,
Mit denen du die Zeit vertan,
Als sehnlichst du gewartet hast, tagein, tagaus
Darauf, dass du mich träfest, um meine Hand zu greifen
Und auf den Finger mir den güld’nen Ring zu streifen?
Peinlich He! Finger? Ring?
War denn vom alkoholisch’ Brennevin
Der Sinne ich beraubt?
Ich weiß von keinem Ring.
Margit Ich will nur sagen:
Was nicht ist, das kann noch werden.
Wir sollten also warten, das gehöret sich.
Doch sprich – sonst gibt die Seele keine Ruh’:
Hast du, als du dich einst in andres Weibervolk ergossen,
Noch größ’re Lust verspürt, als heute Nacht mit mir?
Mir schien du wolltest platzen.
Peinlich Was jeglichem Vergleiche trotzt
An unserem Beisammensein,
Das war die Diskussion ums Pro und Contra „das Kondom“
[†] ,
Die wir zu führen hatten,
Bevor ich, in die Gummihaut gehüllt, dann in dich drang.
Fast war’s vom Reden mir verlitten.
Zwar auch des Aidsens
und der vielen and’ren Dinge wegen,
Die sich dabei zu übertragen pflegen,
Ist es in höchsten Maße Pflicht,
Denn: Prävention muss sein, will man keine Kinder nicht!
Margit Mein Liebster: Ich
will Kinder schon.
Doch lass uns jetzt nicht darum streiten.
Gedenk’ des Sprichworts, das da geht:
„Was du heute nicht geschoben,
Das besorge ihr halt morgen.“
Froh bin ich des Gefühles angesichts,
Dass du die erste Nacht mit mir für unvergleichlich hielt'st.
Peinlich Das ist der rechte
Terminus!
Wohl an! Wie steht es um das fruchtig’ Frühstücksmus?
Margit Sogleich. Zuvor noch schwör mir ewig’ Treue.
Peinlich Ja, wenn ich muss:
Ich schwöre.
Sag, welche Sorte ist es?
Erdbeer’ oder Haselnuss?
Margit Nein, diese Gier! Gedulde dich!
Peinlich Ist es etwa Magermilch? Ist’s Müsli oder Malaga?
Margit Ich zog den Deckel
ab, darauf es stand,
Und warf ihn in den Abfallsack.
Und weißt du, was mein Blick erspäht’,
Inmitten all des Unrats dort? -
Du wirst des Nachts, als du zum Urinieren wanktest,
Es wohl zum Mülle fortgetragen haben:
Das gestrig’ Gummihemmnis, gut gefüllt vom Liebesfluidum,
Dem schleimigen Ergebnis unsrer wilden Müh’.
Es wollt’ mir fast das Herze brechen,
Als ich die ehemalig munter Schar
So tot und ungenutzt vor Augen sah.
Peinlich Genug der Worte,
sei bereit!
Das Jogurt rühre!
- und sei es Knollenblätterpilzgeschmack -
Auf dass es wird zu einem zähen Trunk.
Margit Mein Peinlich, du
sprichst ernst.
Was fliegt dich an? Ich höre Flötentöne!
Peinlich Ich glaub’ du hast
jetzt lang genug gerührt.
So reich’ den Becher mir,
Und sei bereit, die Hälfte dieses Trunk’s
In deinen Schlund zu kippen.
Isolde reicht Tristan den Becher. Er trinkt und lässt ihn an sie zurückgehen.
Sie leert den Becher bis auf den Grund. Beide stoßen hin und wieder auf, während
sie einander unverwehrt anstarren. Dann singen sie …
Vom Ausstellungseingang führte eine breite Treppe hinab in die Ebene, über die
Plastiken, Objekte sowie die weißgetünchten und bilderbehangenen Trennwände
verteilt waren. Peinlich riss Eintrittskarten ab. Ihm gefiel, wie kraftlos sie
an ihrem Platz stand.
Sollte sich der erste Akt der Empfängnisverhütung – sicher im streng katholischen Sinne, also ohne Mechanik, aus bloßem Willen, bloßer Wut heraus exerziert – ganz egal, ob sie es war oder er, der da Interruptio übte (oder vorschlug? Sprach man bereits? Und sprach man über Verhütung?) – sollte sich also dieser erste Verhütungsakt mit der Menschwerdung gleichsetzen lassen? Sollte er wirklich?
Sich zu setzen, war untersagt. Vom Liegen hingegen hatte Stefan nie gesprochen. Die da in der Ausstellung streckte sich hin und wieder auf den Bodenplatten aus und avancierte damit von einer Aufsicht über Kunstwerke zum Kunstwerk selbst. War ihre Verwandlung vollzogen – das heißt waren die Ausstellungsbesucher dazu übergegangen, ihre Erscheinung ebenso zu ignorieren wie die anderen Kunstgegenstände und überhaupt alles, was vorhanden und schön, weil vorhanden war –, so erhob sie sich wieder. Vielleicht stand sie aber auch auf, weil ihr auf dem Boden kalt wurde. Peinlich nutzte die Gelegenheit, um aus dem Cockpit seines zebragestreiften Sportfliegers in die Savanne hinunterzuspähen. Und tatsächlich: Beim Aufstehen ähnelten ihre Bewegungen denen einer neu geborenen Giraffe. Bemerkenswerterweise aber musste Peinlich, je öfter sein reißerischer Blick den Weg hinab in die Ebene fand, desto zwingender an ein doppelläufiges Nashorn denken. Keiner weiß, warum.
Beide Kleider waren selbst genäht und erst vor Kurzem fertig gestellt worden. Ihre Länge hatte sich aus dem Spiel zweier einander entgegengerichteter Kräfte ergeben:
1.) ihrer Sparsamkeit beim Stoffkauf,
2.) ihrer Schamhaftigkeit in Sachen öffentliche Zurschaustellung der tiefer gelegenen Rumpfhälfte.
Zwei Tage war sie in dem grünen Kleid erschienen. Nach einem präventiven Gesundheitstag in Jeans und Wollpullover hatte sie sich in ihrem roten Kleid gezeigt. Dann blieb sie für vier Tage weg. Peinlich nahm an, dass sie sich erkältet hatte. Sie lag daheim auf dem einzigen Sofa im einzigen Zimmer ihrer einzigen Wohnung, schlürfte Pfefferminztee, guckte fern, telefonierte und ärgerte sich, dass sie sich erkältet hatte. Außerdem schmiedete sie Pläne für ein gelbes Kleid.
Nachts, wenn die Stille, die eingekehrt war, darauf schließen ließ, dass Rudi
und Lenka – nachdem sie es einander besorgt hatten – simultan einem Herzanfall
erlegen oder eingeschlafen waren, dämmerte Peinlich, pappsatt von einem Svícková
und den Bramborák oder dem Knedlo-vepro-zelo mit nachfolgenden Powidltatschkerl
oder einem kapr ve smetanové omácce oder wie immer das geheißen hatte, womit
sie sich den Abend lang abgemüht hatten; nachts also dämmerte Peinlich in Rudis
Küche auf einem ollen Futon vor sich hin und wichste. Nicht oft – fünfzehn bis
einhundertzwanzigtausend Mal – nestelte er dabei über die unsauber vernähten
Säume ihres grünen und roten Kleids. Peinlich onanierte nicht aus Leidenschaft
(auch nicht, um einschlafen zu können – er konnte sowieso nicht einschlafen).
Das Wissen um den Abwasch, der sich gut einen Meter schräg über ihn auftürmte,
die Erinnerung an ein Gemälde von Kandinsky oder an Agneta, Louise, Petunie,
Silke, Vera, Yvonne oder an wen oder was auch immer, der Teigwarenkonsum im
Nordosten der Halbinsel Kola während des Frühsommers 1931 oder eben auch der
ampelfarben bedeckte Unterleib von der da in der Ausstellung – alles war ihm
gleich. Dennoch führte die repetitive Stimulation gewisser Körperpartien schließlich
dazu, dass Peinlich die Bettdecke umdrehte, die Rudi ihm gegeben hatte, denn
er liebte es schon seit langen nicht mehr in der eigenen Suppe zu übernachten.
Dann blickte er aus dem Fenster auf das Sims, auf dem schwarze Tauben schliefen,
oder er blickte auf das schwarze Dach über dem Sims, auf dem schwarze Tauben
schliefen, oder er blickte auf den schwarzen Himmel über dem schwarzen Dach
über dem Sims, auf dem schwarze Tauben schliefen. Mit anderen Worten: Er wartete
geduldig auf das Ende seiner Wachphase.
Aus der Ionosphäre stürzte ein zweihundert Tonnen schweres Kaffeefilter in den
klappdeckelbewehrten Mülleimer unweit von Peinlichs Kopf.
„Na, Arsch!“ brüllte Rudi.
„Gaah“, erwiderte Peinlich. Das Organ Satchmo’s machte sich gegen seine Stimme aus wie der Popo der zweijährigen Grace Kelly. Wenn sie so bliebe, die Stimme, überlegte Peinlich, könnte er versuchen, als Schlagersänger für tiefe Lieder Karriere machen. Rudi ließ dem Kaffeefilter das Skelett des Karpfens folgen, den sie am Vortage verspeist hatten. Peinlich räusperte sich und schluckte runter: „Gut geschlafen?“ Es klang bereits feinkörniger. Rudi lutschte sich Sahnesauce von den Fingern (Karpfen in Sahnesauce). Er tritt zu kräftig auf das Fußpedal des Mechanismus’, der den Deckel des Mülleimers öffnet, dachte Peinlich. Auch dachte er, dass Rudi diesen Deckel nicht müsse ungebremst zuschlagen lassen.
„Natürlich gut geschlafen. Und selbst?“
„Natürlich“, widersprach Peinlich. Er erwog, Rudi zu verraten, dass alles Künstliche ebenfalls natürlich sei, doch eine Lautsprecheransage forderte ihn unmissverständlich auf, sich umgehend und schweigend in den Waschsaal zu begeben.
In der Küchentür begegnete ihm Lenka. Fast hätte Peinlich etwas gesagt. Aber da schüttelte sie bereits den Kopf.
An diesem Morgen verbrachte Peinlich 16 Minuten und 46 Sekunden in Rudis Badezimmer. Dort gab es eine Badewanne, ein Waschbecken und ein Klo. Gegen die Wand über dem Waschbecken lehnte eine zahnpastabespritzte Spiegelscherbe.
- Was es in Rudis Badezimmer gab, ist nebensächlich.
Unter dem Lack, mit dem die Wände vor langer, langer Zeit angepinselt worden waren, trieb der Hausschwamm Blasen.
- Alter, deine Geschichte treibt Blasen. Was der Hausschwamm treibt, ist belanglos. Jedenfalls treibt es deine Geschichte nicht voran.
Hier und dort ragten weiße, flauschige Kristalle aus der Wand. Und der Putz bröckelte auch ab.
- Sag mal, was willst du eigentlich erzählen? „Und der Putz bröckelte auch ab“ – selten so einen Mist gehört!
Im Badezimmer tat Peinlich Folgendes: Er wusch sich (Gesicht, Hände). Er putzte sich die Zähne (dens).
- Na also!
Er rasierte sich (barba).
- Wie „Na also!“?
Er befeuchtete sich die rasierten Hautpartien mit Rasierwasser (aqua barba).
- Action, Alter! Action ist angezeigt!
Er pinkelte (Pippin der Mittlere).
- Verben, verstehst du? Bring‘ Verben!
Er quetschte an einem Pickel herum, der im Bereich seines linken Nasenflügels aufkeimte, sich jedoch trotz massiven Drucks nicht öffnen wollte (sforza grande).
- Wie „Verben“?
Dabei betrachtete er sein Gesicht in der Spiegelscherbe (guckscherb).
- Na Verben halt, Tuwörter!
Er kämmte sich (striegelstriegel).
- Hä?
Tabellarische Aufstellung der Dauer der Einzeltätigkeiten im Verhältnis zur Gesamtaufenthaltsdauer Peinlichs in Rudis Badezimmer:
Lfd. Nr.
|
Tätigkeit
rasierwässern, sich (Gesicht) pinkeln, sich [‡]
|
Bekloppter Klammerkommentar
|
Dauer in min‘ und sec“
______ 30’43“ |
Anteil
an der Gesamtbadezimmerauf-enthaltsdauer (GBAD) 1,89% 3,38%
183,2% |
„Sag mal, wirst du nochmal fertig da drin? Ich kipp’ deinen Kaffe weg, wenn
du nicht bald rauskommst!“
Eine der Marshall-Inseln, Stiller Ozean, Juli ‘46. Peinlich hatte sie als junger Kormoran überflogen. Er entriegelte die Badezimmertür.
„He! Rudolf das Rentier!“, amüsierte sich Rudi.
„Ich bekomme einen Pickel“, statuierte Peinlich. Keine Girlanden. Schlichte funktionalistische Architektur. Jemand bekommt einen Pickel. Die Druckbehandlung hatte ihn initialisiert.
Lenka saß am Küchentisch. Ihre Schneidezähne lehnten in den Rand des Kaffeepotts, den sie zwischen den Händen hielt. Rudi lärmte mit der Klospülung. Peinlich setzte sich und griff nach einer der beiden Tassen, die auf dem Tisch standen. „Rudiho Kàva!“, tönte eine automatische Stimme aus einem Schacht. Peinlich blickte Lenka an. Aus keiner der beiden gleichartigen Tassen war getrunken worden, seit sie mit Kaffee befüllt worden waren. Auf keiner der dampfenden Flüssigkeitsoberflächen schwamm ein Pfefferminzblatt oder ein vermilbter Borkenkäfer oder eine andersartige Veranlassung, in einer der Tassen die Bessere und in der anderen Peinlichs Tasse zu sehen. „Rudiho Kàva!“ wiederholte Lenka, ohne ihre Zähne vom Porzellan zu heben. Dann nickte sie mitsamt dem Gefäß vor dem Gesicht. Wollte sie ihn provozieren? War dies der Beginn eines würgenden Terrors mit dem Ziel, ihn, Peinlich aus Rudis Wohnung zu vertreiben? – Nein, nicht um diese Uhrzeit! Lenka schwenkte die Tasse abwärts und tippte mit dem kleinen Finger gegen ihre Nase. „Ma’s vimrle“, sagte sie. Ausnahmsweise sah Peinlich ein, dass es bekloppt wäre, sich in sie zu verlieben. „Vimrle“, wiederholte er. Es zerging auf der Zunge. Lenka tauchte die Nase zurück in die Tasse.
„Rudiho Kàva!“ blökte sie aus dem Schacht.
„Na, Ärsche! Wisst ihr nicht, worüber ihr euch unterhalten sollt?“ moderierte Rudi, als er die Küche betrat. „Welcher ist mein Kaffe?“ fragte er.
„Sind beides meine“, entgegnete Peinlich. „Ich trete aber gerne einen an dich ab.“ Es war ihm egal.
„Blödmann, in einer Tasse ist Kaffee. In der anderen ist Zucker. Mit Kaffee. Das ist meine Tasse. Klar? Ich nehme an, du magst keinen Kaffee, der so süß ist, dass der Löffel drin steht.“
Möglicherweise ein Gemälde. Vielleicht auch kein Gemälde. Vielleicht sonst was. Peinlich hatte kein Wort dafür. Wenn es sich auf einer Fläche ausdehnt, überlegte er, könnte es ein Gemälde sein. Wenn es jedoch drei oder gar vier Dimensionen in Anspruch nimmt, musste es etwas anderes sein. Oben das tiefe und gleichmäßige Grün einer tannenbewachsenen Berglandschaft kurz nach der Schneeschmelze, unten das morbide Orange einer am Pier aufgeschütteten Schiffsladung Apfelsinen, die in frühsommerlicher Hitze vor sich hinfault. „Grün und Orange“, der Titel. Ein Gefühl sagte Peinlich, dass dort, wo die beiden Farben aufeinander stießen, die Mitte liegen musste. Wissen konnte er es nicht (schließlich konnte Peinlich nicht alles wissen). Vielleicht aber war es nur eindimensional? Oder es umwölbte ihn wie ein Ball, in dessen Zentrum er sich befand? Er rätselte nicht, ob Grün und Orange an ein Drittes grenzten (schließlich brauchte Peinlich nicht alles zu wissen). Es reichte Peinlich, die Mitte zu spüren. Sie fesselte ihn. O ja, Grün und Orange teilten sich den Raum, die Strecke, die Zeit oder die Fläche, die sie beanspruchten. Das war erfreulich, o ja! Doch kümmerte Peinlich allein die Phase, an der die zwei Farbigkeiten aufeinander stießen. Was ging dort vor? War die zweite über die bereits aufgetrocknete erste Farbe gepinselt worden? Wenn ja, welche war zuerst aufgetragen worden? Bewirkte ein osmotischer Druck eine gegenseitige Durchdringung des orangefarbenen und grünen Raumteils? Vielleicht schob ja die wahrnehmungsbedingte Zeitbeugung Grün und Orange an der Schnittstelle der Gegenwart ineinander? Peinlich taufte es: „Grün und Orange“ (obwohl es gewiss keines Titels bedurfte). Er mochte es. Es bereitete ihm Wohlbehagen. Er saß am Küchentisch, sah Rudi an und genoss es, dass sich von einer mutmaßlichen Mitte her alles so unzweideutig mehrfarbig ausdehnte.
„Also, welcher ist meiner?“
„Keine Ahnung. Probier doch!“ Soll er doch probieren, dachte Peinlich. Rudi probierte.
„Der hier ist meiner“, entschied Rudi. „Übrigens hat Margit gestern Nacht angerufen. Du hast geschlafen. War doch in Ordnung, dass ich dich nicht geweckt habe, oder?“ Peinlich nickte. „Weißt du, all das deliziöse Zeugs: Schweinebraten, Knödel, Kartoffelsuppen, Fische in Sahnesauce, jede Menge Krautsalat und hinterher marmeladegefüllte Teigtaschen, aber eben auch ordentlich Zucker in den Morgenkaffee – das ist gut für den Tank. Verstehst du? Ist alles gut für den Tank.“ Er nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse. Lenka grinste spezifisch.
Überall auf der Welt wurden und werden vielfältige Mittel und Methoden ausgeheckt,
um Frauen vor Schwangerschaft zu bewahren. Die Effektivität dieser Maßnahmen
weicht stark von einander ab. Eine Auswahl: Die Antibabypille, die Enthaltsamkeit
während der Tage erhöhter Infizierbarkeit ermittelt nach der Knaus-Ogino Methode,
das Diaphragma, das Anhalten des Atems während des Orgasmus, die postkoitale
Scheidenspülung, das siebenmalige Rückwärtsspringen der Frau unmittelbar danach,
der Abspritzer in den Scheidenvorhof (Coitus hispanicus), die rückwärts gewandte
Entleerung in die männliche Harnblase (Coitus saxonicus), die Minipille, die
Zauberbeschwörung, das mit kleinen Batterien versehene Intrauterinpessar, dessen
elektrischer Strom Spermatozoen abtötet.
Peinlich saß im hinteren Teil der Halle auf den Treppenstufen unterhalb einer
der Notausgänge und hatte eine Idee. Vielleicht war es eine schöne Idee. Peinlich
konnte die Idee nicht sehen, weil sie in eine kupferbeschlagene Seekiste verpackt
war, die auf einem blaugrünen Berberteppich stand (aller Wahrscheinlichkeit
nach war der Teppich von allein daher gehüpft und hatte sich selbsttätig vor
Peinlich ausgerollt). Die Beschläge könnten mal wieder gewienert werden, krittelte
Peinlich. Und der Teppich hatte Flecken, als habe vor längerer Zeit jemand für
die Dauer einer Party darauf herumgekotzt, und es sei erst am folgenden Nachmittag
versucht worden, die verkrusteten Zeugnisse des vergangenen Festabends zu eliminieren.
Es war kläglich. Nein, ohne ausdrückliche Legitimation durch ein wild über die
Steppe seines Inneren hinweg galoppierendes Verlangen ließ Peinlich nichts vor
sich abstellen oder ausrollen. Man hatte ihm, ohne jedes Getue gegenüberzutreten.
Etwas in seinem Blickfeld abzulagern, ohne ihn zuvor um Erlaubnis gebeten zu
haben, war nicht statthaft.
Dabei war Peinlich im Hinblick auf die Schöpfung ein durchaus devoter Charakter. Wenn sich etwas bis in seine Wahrnehmung hinein vor ihm aufrichtete, so war er allein für diese Tatsache zu einem Gefühl von Dankbarkeit willig und auch fähig. Ja, Peinlich war ein devoter Teil der Schöpfung – beständig schöpfte er aus ihr. Gelegentlich griff er sogar danach. Peinlich war nämlich ein Sonnenschein. Er war nie ungerecht und der beste Mensch auf Erden. Selbst wenn etwas vor Peinlich abgestellt wurde, ohne dass er darum gebeten hatte, erwog er immer sorgfältig, ob daran nicht etwas Reizvolles sei. Peinlich hatte nämlich keine Meinung. Dazu gehört Mut. Den hat man, wenn einem etwas am Herzen liegt. Peinlich lag alles am Herzen. Er war der Größte. Gott war im Vergleich zu ihm ein hämorridenbekränztes Arschloch. Die Seekiste und die darin enthaltene Idee mitsamt der langzottigen Unterlage liegt offenbar jemandem am Herzen, dachte Peinlich. Er nahm es niemandem übel, wenn man versuchte, ihn zu inspirieren. Nein, ganz im Gegenteil. Aber Peinlich hatte keinen Bock auf die Idee. Nicht auf die, die in der Kiste lag, und nicht auf eine andere Idee. Wie verlockend auch immer feilgeboten. Eigentlich schade drum, denn zweifellos hatte die aufwändige Präsentation Mühe bereitet. Doch im Moment sollte es nicht sein.
Peinlichs Gesäß juckte. Er erhob sich und nahm sich ausgiebig Zeit, es zu kratzen. Dann latschte er ein Stück. Er latschte um zwei Kunstobjekte herum, die er zu beaufsichtigen hatte, und dann latschte er eine weite Acht durch seinen Aufsichtsbereich. Beim Latschen dachte er an nichts. Dann blieb er stehen und dachte an etwas. „Pause“, dachte er. Dummerweise hatte er seine Pause soeben genossen und seine zweite Pause war erst in anderthalb Stunden fällig. Also fand Peinlich, dass er jetzt gern in einem Park spazieren gehen würde. Er latschte zur Treppe zurück und setzte sich wieder. Nein, er wollte doch nicht in einem Park spazieren gehen.
Ein verlorener, stadtbekannter Saufaus ohne einen Pfennig in der Tasche, zieht
mit einem gleichwohl verlorenen, jedoch stadtfremden Besitzer einer hinreichenden
Geldmenge durch die Bars. Der Saufaus bestellt, redet, trinkt, entscheidet,
wie lange man in den jeweiligen Bars zu verweilen hat und wo als Nächstes eingekehrt
wird. Dem Stadtfremden bleibt keine andere Wahl, als zu folgen. Frühzeitig in
sein Hotelzimmer zurückzukehren, käme einem Selbstmord gleich und wäre keine
Alternative. Irgendwann und irgendwo dann beendet der Saufaus den Abend, indem
er haubitzenschwer vom Barhocker kippt und damit dem ehemaligen Besitzer einer
hinreichenden Geldmenge gebietet, sich auf den Heimweg zu begeben. Abermals
bleibt dem Stadtfremden keine andere Wahl. Neben dem niedergestreckten Saufaus
sitzen zu bleiben, käme einem Selbstmord gleich und wäre keine Alternative.
Ziellos durch die Stadt zu taumeln, hindurch zwischen Trupps von Müllkutschern,
die ihre Tour beginnen, und Zeitungslieferanten, die ihre letzten Bündel vor
nachtverbretterte Kioske abwerfen, käme allemal einem Selbstmord gleich und
wäre keine Alternative. Aber vielleicht ruft ihm jemand ein Taxi. Es soll noch
Pragmatiker geben (Barkeeper zum Beispiel). Das wäre freundlich, machte letztlich
aber keinen Unterschied. In unwichtiger Weise darüber verärgert, dass er in
der Kloake von Seele, in der er umherpaddelt, nicht einmal die Illusion vorfindet,
eine Glühbirne zu sein, in die vergessen wurde, der Glühfaden einzusetzen, macht
sich der Stadtfremde auf den Weg, betrübt (ja geradezu i-matt) und ledig des
begehrten Gefühls – nennen wir es beim Namen – dieses Gefühls von „Sinn“.
1 Dose Katzenfutter
1 Tütchen Weckgummis
1 Glühbirne (40 W)
4 Zitronen
4 Schnitzel, gebraten
1 Bund Petersilie
1 Glas Mayonnaise (2500 g)
1 Napf Partysalat
2 Näpfe Budapester Salat
1 Napf Krabbensalat
2 Näpfe Waldorf-Astoria-Salat
9 Tafeln Schokolade
Margit hatte weder den Eindruck, dass ihr Verhalten bei der Auswahl der Dinge,
die sie einkaufte, maßlos gewesen sei, noch meinte sie, in unangebrachter Weise
Enthaltsamkeit geübt zu haben. Alles, was sie aus ihrem Einkaufswagen nahm und
auf das Förderband der Supermarktkasse legte, hatte dort seine Berechtigung.
Margit handelte nie maßlos.
Der Warenberg bewegte sich einen halben Meter auf ihren berechtigten Besitzanspruch zu. Mithilfe der Dinge, die Margit kaufte, würde sie Bedürfnisse befriedigen können, denen sie sich in nächster Zeit gegenüberwähnte. Beispielsweise würde sie, wenn endlich bezahlt war, ihren aktuellen Appetit auf Schokolade stillen können.
Während ihres Rundgangs im Supermarkt war Margit von einem körperlichen Unwohlsein erfasst worden. Beim Vergleich des Inhalts ihres Einkaufswagens mit der Erinnerung an die Inhalte von Einkaufswagen, die sie während vergangener Wochen und Monaten vor sich hergeschoben hatte, war ihr aufgefallen, dass ihre Einkäufe sich verändert hatten. Diese Beobachtung wäre nicht notwendig gewesen, da Margit den Gedanken, der darauf zwingend hätte auffolgen müssen, nicht zuließ. So begnügte sie sich damit, über die Veränderung ihrer Einkäufe verwundert zu sein, und respektierte damit in vorbildlicher Weise die haarfeine Trennlinie zwischen überlebensnotwendiger Hirntätigkeit und ausuferndem Freidenkertum. Die Folge war das erwähnte körperliche Unwohlsein. Es rührte daher, dass Margit den zwingend auffolgenden Gedanken – jenen Gedanken, den sie angeblich nicht zuließ – doch zuließ. Sie fragte sich, warum ihre Einkäufe sich verändert hatten. Möglicherweise hatte Margit anschließend noch weitere zwingend auffolgende Gedanken. So könnte sie vermutet haben, dass sich ihre Einkäufe verändert hatten, weil sich ihre Bedürfnisse verändert hatten. Ob sie allerdings so weit ging, zu fragen, warum ihre Bedürfnisse sich verändert hatten, bleibt fraglich. Jedenfalls dachte sie nach, was ihr zwar kaum anzumerken war, was aber dennoch für ein körperliches Unwohlsein reichte. Margit, clever, wie sie war, brach ihre Überlegung also ab, und das Unwohlsein verschwand augenblicklich.
Manche der Gegenstände auf dem Kassenförderband benötigte sie, um Vorhaben zu verwirklichen, die sie erst während ihres Aufenthalts im Supermarkt ersonnen hatte. Andere würden im Rahmen älterer Planungen Verwendung finden. Einige Gegenstände waren für sich allein geeignet, ein Vorhaben ausführbar zu machen. Andere wiederum sollten gemeinsam der Verwirklichung eines Projekts dienen. Manche der Waren nun kaufte Margit aus einer vordergründig unerfindlichen, vermutlich aber mysthisch, religiös oder gar zauberisch bedingten Motivation heraus. Und dann war da noch was: Warum sie das kaufte, ist unerklärlich. Dennoch hatte die Dose Katzenfutter auf dem Kassenförderband seine Berechtigung, denn es ist keine solide Ethik bekannt, nach der man gleich wann gleich wem das Recht absprechen könnte, jederzeit jeden X-beliebigen Gegenstand käuflich zu erwerben.
Fünf neonfarbene und geldgeschwärzt hornhautwulstumrandete Fingernägel strebten auseinander und das Rückgeld samt Kassenbon fielen in Margits aufgehaltene Hand. Sie machte zwei Schritte zum Ende der Kassenanlage, riss die nächstliegende Schokotafel auf, brach ab, kaute, schluckte, und eine Horde „Party!“ johlender Zuckermoleküle trudelte in einen blutgefüllten Swimming-Pool. Margit stopfte die Ware in ihre Ledertasche, die angebrochene Tafel legte sie obenauf. Mittlerweile hatte sie sich mit ihrer gehobenen Schokoladegeilheit angefreundet.
Waldorf-Astoria-Salat hingegen war ein Novum. Auf dem Weg von dort, wo Margit herkam, nach dem Ort, wo sie sich hinbewegte – gemeint ist nicht die Eingangsschranke des Supermarkts und das Ende der Kassenanlage, sondern der kleine, tiefblaue Mittelpunkt in der Unendlichkeit, aus dem alle Linien entspringen, um alsbald wieder in ihn zurück zu münden – auf diesem Weg also, hatte es sich zugetragen, dass Margit, einen Einkaufswagen vor ihrem Bäuchlein herschiebend, an einem Kühlregal vorbei gerollt war, in dem Plastiknäpfe mit Waldorf-Astoria-Salat zwischenlagerten. Wäre es Margits Tag gewesen, so hätte sie finden können, dass Ananasstückchen und ein paar gematschte Nüsse sowie holziges Gemüse mit einer fettig schleimigen Schleimfettsoße zu verrühren und die entstandene Tinke „Salat“ zu schimpfen, zu den größten Verbrechen gehöre, welche die zivilisierte Menschheit seit der mutmaßlichen Ausrottung des Neandertalers durch den Homo cromagnensis begangen hat (es war nie ihr Tag). Margit starrte auf den Deckel eines der Salatnäpfe, es war ein Tag wie jeder andere, und sie war eine langweilige und dumme Tucke. Kurz noch durchpfiff ein Sterbenshauch ihres alten Glanz’ und Pomp’ ihr Empfinden – OK: wie ein in Brand geschossener Jagdbomber, der schnurstracks über eine Blaskapelle hinwegfaucht, die zu seinem unmittelbar bevorstehenden Touchdown den Radetzkymarsch intoniert -, dann kehrte Stille ein. Lediglich vom Rand ihres gallertartigen Bewusstseins aus wisperten zwei spitzbübische Kaulquappen: „Nichts übertrifft ein frisches, in Quellwasser gewaschenes Schikoreeblatt auf einer Wüste aus Porzellan“. Dieses Wispern war gewissermaßen die letzte Zuckung dessen, was sich Margit für Jahre als Lebensstil vorzumachen versucht hatte, was in ihrem Fall aber besser eine ausgeprägte Jugendverkniffenheit genannt werden sollte, sofern es denn überhaupt lohnte, nach Worten dafür zu suchen. Immerhin: obgleich der Gedanke an das einsame Schikoreeblatt noch kurz zuvor im Quadratdschungel ihrer Spießigkeit untergegangen wäre, hatte er doch im Moment seines Auftretens bereits konterrevolutionären Charakter, denn inzwischen war Margit mit Herz und Seele Waldorf-Astoria-Junkie.
Die Ingredienzienliste des Salats wurde vom Dreigestirn „pflanzliches Öl, Branntweinessig, Eigelb“ angeführt. Die Soße schien also kaum mit Ananas, Nüssen oder Gemüse gestreckt zu sein. Eine etwas weiter oben in Margits Schädel angesiedelte Hirnschicht war bestürzt. Hätte die Hirnschicht Worte gehabt, so hätte sie ausgerufen: „Mein Gott, die reinste Mayonnaise!“ Sie hatte aber keine Worte. Hätte die Hirnschicht Zugang zur Motorik gehabt, was ebenso wenig der Fall war, hätte sie Margit die Hände über dem Kopf zusammenschlagen lassen. „Dufte, die reinste Mayonnaise!“ dachte indes eine etwas weiter unten angesiedelte Hirnschicht. Sie dachte es wörtlich, denn ihr wurden aus dem Sprachzentrum die Schablonen für die Worte „die“, „dufte“, „Mayonnaise“ und „reinste“ überspielt. Daraus bastelte die etwas weiter unten angesiedelte Hirnschicht: „Dufte, die reinste Mayonnaise!“ Danach war sie so gut drauf, dass sie Margit diesen Satz auch noch aussprechen ließ. Wie Hamlet vor dem Kühlregal bedachte Margit einen 200g Napf Waldorf-Astoria-Salat mit dem Statement: „Dufte, die reinste Mayonnaise!“ Das Waldorf-Astoria-Zentrum – wir wollen die etwas weiter unten angesiedelte Hirnschicht der ökonomischeren Ausdrucksweise wegen so nennen – unterjochte daraufhin den Hirnteil, dem die Aktivitäten von Margits rechter Hand unterstellt waren, und ließ zwei Näpfe in den Einkaufswagen bugsieren. Dabei entdeckte Margit, dass noch andere Sorten zum Verkauf standen. Genau genommen entdeckte dies nicht Margit, sondern das Waldorf-Astoria-Zentrum, dem es gelungen war, eine ungeprüfte, unbearbeitete und unzensierte Information abzufangen, die gerade über den Nervus opticus eingegangen war. Die besagten Produkte waren ebenfalls als „Salat“ ausgezeichnet, nur, dass dem Begriff ein anderes Substantiv vorangestellt war. In den meisten Fällen ließ dies Präfix auf einen Zusatz schließen, der bei der Salatherstellung angeblich verwendet worden sei. Margit untersuchte ein transparentes Gefäß mit der Aufschrift „Heringssalat“ und erkannte einen in der Mayonnaise zu Boden sinkenden bläulich schimmernden Fetzen, der ehemals zur Flanke eines Herings hätte gehört haben können. Krabbensalat schien weniger verunreinigt. Margit legte einen Napf Krabbensalat in ihren Einkaufswagen, horchte in sich und sah ein, dass sie sich noch nicht vom Salatregal abwenden mochte.
Außer im Aufdruck unterschieden sich die Näpfe vor allem in den Farbstoffen, die ihren Inhalten zugesetzt worden waren. Auch die Preise wichen voneinander ab. Budapester Salat zum Beispiel stach als besonders rot und billig hervor (vielleicht sollte damit der Niederschlagung des Ungarnaufstands gemahnt werden?). Leider verdrängten viele Stäbchen einer abfallartigen Masse namens Fleischbrät ein Gutteil der leckeren Mayonnaise. Während Margit sich keusch abwandte, legte sie zwei Näpfe des Budapester Salats in ihren Einkaufswagen und mit der sündigen Linken ergriff sie noch schnell einen weiteren: „Partysalat“, wie sie erfreut feststellte, als die Griffstange des Einkaufswagens etwas unterhalb ihres Nabels in ihr leicht konvex gewölbtes Abdomen einfederte (und vor Glück und Erregung über ihr erfolgreiches Shopping, richteten sich die wenigen Härchen auf den Innenseiten ihrer Oberschenkel zu einer Gänsehaut auf).
Im angrenzenden Kühlregal tat sich eine Wand von Jogurtbechern auf. Ohne emporzublicken, schob Margit daran vorüber, doch prompt glitt sie aus und stürzte einem kakerlakengroßen Blesshuhn gleich zu Ananasstückchen und Nüssen zweiter Wahl in die Mayonnaise. Selbst als die Jogurtbecher längst außer Sicht waren, rutschte sie wieder und wieder vom Becherrand und plumpste zurück in die elfenbeinfarbene Schmiere. Erst auf der Suche nach einem ihrer Salatschüssel angemessenen Volumen Mayonnaise fand Margit wieder Halt: sie hackte Petersilie, schnetzelte Schnitzel in schmale Streifen und rührte den Saft von vier Zitronen unter. Was ihre Fantasie ihr zur eigenen Errettung vor die Füße spie, war ein leckerer Zuber Schnitzelsalat (er sollte auch noch für Morgen reichen). Als Margit das Regal erreichte, in dem die Zwanzigstelzentnergläser Mayonnaise thronten, versuchte sie gar nicht erst, einen femininen Grunzlaut zu unterdrücken.
Kurz darauf wurde sie von einem Wesen angesprochen, dem Haare im Gesicht wuchsen und das größer, älter und ihr entgegengesetzten Geschlechts war. „Margit, in unserem gemeinsamen Heim ist eine Glühbirne entzweigegangen. Bitte bringe von deinen Einkäufen im Supermarkt eine Glühbirne mit. Soll ich es dir aufschreiben, Schatz?“ Einem anderen Regal entnahm sie ein Tütchen Weckgummis. Vielleicht gedachte Margit Rhabarber einzumachen? Vielleicht hoffte sie, das im Gesicht so apart bewaldete Wesen würde etwas bleiben, wenn sie ihm Rhabarberkompott anböte? Vielleicht würde es ja einen stattlichen Teller davon wegputzen und sie anschließend zur Belohnung gar in die transzendente Zone mitnehmen, in die es sich nach seinen überaus kurzen und raren Auftritten ärgerlicherweise immer wieder verpisste.
Möglicherweise dachte Margit noch weiter, und hiermit betreten wir den Raum bedingungsloser Spekulation, wo jeder Sachverhalt mit jedem anderem Sachverhalt beliebig kombiniert werden darf, und wo über einer solchen Allianz aus mehreren Sachverhalten der schwarzrot durchkreuzte Wimpel flattert, der dem näher rückenden Feind signalisiert, dass es sich bei seinem Gegner um ein möglicherweise mehr als zufälliges Miteinander-verknüpftsein mehrerer Sachverhalte handelt. Vielleicht also dachte Margit über waldige Wesen und Weckgummis hinaus: keinesfalls aber tat sie es sehr lange, denn nun entdeckte die arme, von Schokoladegier und Mayonnaisegeifer gebeutelte, vor allem aber schwangere Margit einen durchaus realen Stapel Katzenfutterdosen. Sie zuckte zusammen, krümmte sich, hielt sich den Bauch und blickte aus getrübten Augen nach dem Stapel. Dann streckte sie ihre Wirbelsäule zu einem majestätischen „S“ und schritt auf den Dosenstapel zu.
Die Vorgänge, die in diesem Moment in ihr abliefen – in ihrem Gehirn, Bewusstsein oder in der zu ihrem mentalen Reihenhaus gehörigen geistigen Tiefgarage –, diese Vorgänge, lassen sich am besten mit einer Kernfusion beziehungsweise mit der Tatsache vergleichen, dass man ein Kaugummi, obzwar auf der Verpackung schriftlich angeraten, bevor man es wegwirft, höchst selten in den silbrigen Papierstreif einwickelt, aus dem man es in freudiger Erwartung des Kaugenusses zuvor ausgewickelt hat. Denn was für den einen ein pfundiger Verkehrsunfall ist, bei dem ihm beide Beine abgefahren werden, ist für den anderen der Anblick einer Sternschnuppe, die in einer Neumondnacht über einem katalanischen Gemüsegarten zerplatzt. Für Margit war es der Augenblick, als sie den Stapel Katzenfutterdosen entdeckte. Er war der Mittelpunkt ihres Lebens. Zu behaupten, sie sei an einem krautumwucherten Markstein vorübergeradelt, in den „½“ eingehauen steht, wäre nicht falsch, hinterließe aber den Eindruck, sie habe begreifen können, was mit ihr vorgeht. Nichts hatte sie begreifen. Ein achtundvierzigjähriger Lustmolch von Supermarktangestelltem, der nach kurzem, aber aufmerksamem Betrachten ihres Hinterns dazu angesetzt hatte, auf sie zuzugehen, um sein wahres Anliegen hinter der Frage zu verbergen, ob ihr nicht wohl sei, bog unbemerkt in Richtung Käsestand ab. Bleibt anzufügen, dass sie eine Dose vom Stapel nahm, in ihren Einkaufswagen legte und zur Kasse abschob.
Rasputin (aus dem Russischen – etwa „ausschweifender Wüstling“): Teilzeithumanoid
mit wirrem Blick, Bauernlümmel, Wanderprophet und Abenteurer, der früh lernte,
wie man bei Menschen Bewunderung entfacht und wie man diese Menschen anschließend
beherrscht. Rasputin lebte zu Anfang des 20. Jahrhunderts für knappe zehn Jahre
am Zarenhof, wo er den bluterkranken Zarewitsch Alexeij mit Hypnose und Magnetstrahlung
behandelte. Der Zarewitsch war der potenzielle Thronfolger und seit über einem
Jahrhundert das erste männliche Blag, das einem russischen Kaiserpaar zu zeugen
gelungen war. Papa Zar Nicolaus II, besonders aber seine Alte, Zariza Alexandra,
glaubten steif und fest daran, dass Rasputin ihren Sprössling heilen könne,
und duldeten jeden Unfug, den Rasputin am Hofe trieb. Der trieb groben Unfug.
Rasputin war der Ansicht, man käme Gott am nächsten, wenn man sich möglichst
oft in den Zustand seelenloser Entkräftung versetzt, wie er allgemein auf jede
Form von Ausschweifung folgt. Als der Zar zum Schießen in den ersten Weltkrieg
ausrücken durfte, blieben der Wüstling und die Zariza in Petersburg zurück.
Bald hatte Rasputin mehr Macht als die Minister des Landes. Er trieb es so wild,
dass er schließlich von einigen Höflingen, die sich für verantwortungsvoll hielten,
vergiftet, in den Rücken geschossen und nächtens durch ein Loch im Eis der Newa
entsorgt werden musste.
The Rasputins
Rasputin der Erste – guitar, vocals
Rasputin der Zweite – backing guitar, backing vocals Rasputin der Dritte – drums
Rasputin der Vierte – bass, harmonica
Beware of the Rasputins!
Rasputin der Erste fürchtete kaum, von Leuten, die sich für verantwortungsvoll
halten, vergiftet und in den Rücken geschossen zu werden. Jedenfalls machte
sich diese Furcht gegen seine übrigen Wahnvorstellungen so unscheinbar aus,
dass man nicht ernsthaft behaupten konnte, Rasputin der Erste leide darunter.
Seine Post bestand vornehmlich aus Briefen, deren Kernzeile lautete: „Konto überzogen, bitte auffüllen.“ Der Absender (ein Geldinstitut) bedruckte die Briefumschläge hartnäckig mit seinen bürgerlichen Namen, obwohl Rasputin der Erste an zuständiger Stelle bereits mehrfach telefonisch gedroht hatte.
Den Bandnamen „The Rasputins“ hatte sich Rasputin der Erste ausgedacht. Diese Verbrecherbande – jeder norddeutsche Kleinstädter mit geregeltem Einkommen hätte den beim Referat für die Förderung freier Musikgruppen der Berliner Senatsstelle für kulturelle Angelegenheiten im Ordner „Rock ‘n’ Roll“ katalogisierten Zusammenschluss vierer musizierender Halbstarker so betitelt – „The Rasputins“ also trafen sich unregelmäßig in einem dreckstarrenden Probekeller, um dort vermittels ihrer Instrumente und Verstärkeranlagen binnen möglichst kurzer Zeit möglichst viel mechanische und elektrische Energie in Lärm umzuwandeln und dabei möglichst viel an Zigaretten und Bier zu verkonsumieren, sowie gewisse wirksame Substanzen, die an dieser Stelle aufzulisten wohl unnötig sein dürfte.
Rasputin der Erste zog eine Halbliterdose Holsten Pils zwischen Bauch und Gürtel hervor. Er öffnete die Dose (Holsten knallt am dollsten), es spritzte. Der Spruch sei Stuss, fand Rasputin der Erste, denn bekanntlich knalle er – Rasputin der Erste – am dollsten. Als er davon überzeugt war, vorerst genug getrunken zu haben, setzte er die Dose ab, verharrte für einen Moment glubschäugig, spannte die Bauchmuskulatur und ließ einen kapitalen Stoßrülpser zur Kuppel der ehemaligen Bahnhofshalle auffahren. „Nimmst du wohl deine pestigen Gichtgriffel von dem verkackten Kunstwerk, du Ratte!“ schrie jemand in weiter Ferne. Im Claim Rasputin des Ersten verhielt sich alles ruhig. Zwei junge Böcke am Beginn der Geschlechtsreife, zwei Rentner sowie drei leidlich begattungswürdige Kühe, eine davon bekalbt, wandten ihren Blick von den Kunstobjekten ab und schauten Rasputin den Ersten teils angewidert, teils besänftigend an. Das Kälbchen, vermutlich männlich, begann leise zu weinen. Rasputin der Erste öffnete einen der elektrischen Luftbefeuchter, von denen ein Dutzend über die Halle verteilt vor sich hingurgelten, und versenkte die leere Dose im Wassertank des Geräts. Dann ließ er einen ballernden Nachrülpser folgen, nur für den Fall, dass die flaumbärtigen Herren Zweifel befallen sollte, über wessen Grund und Boden sie sich bewegen.
Rasputin der Erste fraß so oft er konnte Currywürste (manchmal auch Currybuletten). Zu diesen Mahlzeiten pflegte er, Dosenbier hinunterzustürzen. Nie verzichtete er, sich Pommes zu den Würsten servieren zu lassen. Seine Körpergröße und üppige Leibesfülle gestatteten es ihm, das Bild „Sausage“ eines Künstlers namens „Kesselstein“ oder so ähnlich nahezu vollständig zu verdecken. Er brauchte sich zu diesem Zweck lediglich davor aufzubauen, was er bisweilen tat. Meist aber lief Rasputin der Erste auf und ab, was auf den Konsum jener wirksamen Substanzen zurückzuführen ist, die an dieser Stelle aufzulisten wohl unnötig sein dürfte. Er hatte eine Technik entwickelt, beim Wenden den Druck der Kreppsohlen seiner Schuhe auf eine Weise am Boden zu konzentrieren, dass ein kurzes, schmerzhaft hohes Kreischen laut wurde. Eine schwarze Verfärbung ähnlich einer Verbrennung bezeichnete danach die Stelle, auf der Rasputin der Erste gewendet hatte. Mittlerweile war die Ausstellungsfläche von diesen Flecken übersät. Die übrigen Aufsichten hatten sich notgedrungen an das Geräusch gewöhnt. Schließlich war auch Stefan das Kreischen aufgefallen. Er hatte beschlossen, dass die Ursache hierfür in der Lüftungsanlage zu suchen sei, und sprach den Hausmeister darauf an. Der Hausmeister verweilte für gewöhnlich in einer etwa 3,65 m3 großen Besenkammer, deren Tür er mit der Aufschrift „Privat“ versehen und deren Innenraum er durch Aufhängen von Pornoseiten zum Aufenthaltsraum empordekoriert hatte, und trank Weinbrand. Er werde sich um „ihr verdammtes Geräusch“ kümmern, hatte er gegrunzt, woraufhin Stefan aufgehört hatte, es zu bemerken, und sich auf sein mäßig großes Büro zurückzog.
Das Kondom wird auch Präservativ genannt, was sich von Französisch „préservatif“,
zu „préserver“ = schützen ableitet (womit wohl ursprünglich der Schutz vor einer
Ansteckung mit der französischen Krankheit gemeint gewesen sein dürfte). Salopp
bezeichnet man die nützlichen Mäuseschlafsäcke auch als Pariser (wohl, weil
sie zunächst vor allem in der überparfümierten Baguettemetropole gebräuchlich
waren).
OK. Lebt eine Versuchsgruppe von Frauen längere Zeit beieinander, ohne dass
sich in ihrer Nähe ein Mann aufhält – wie man es beispielsweise für ein Mädcheninternat
annehmen sollte, das einem Nonnenkloster angeschlossen ist –, so haben die Menstruationszyklen
dieser Frauen keinen gemeinsamen Rhythmus. Mal blutet die eine, mal die andere.
Silvester Stalone, erloschenen Kampfgeists und auf der Flucht, muss sich verstecken
und findet bei den barmherzigen Schwestern Unterschlupf. In Ermangelung passender
Räumlichkeiten nächtigt er im Schlafsaal der Jungfrauen. Zwar lässt er die Finger
von den Miezen, doch benutzt er ihren Waschraum, ihren Beichtstuhl und manchmal
(heimlich) ihre Handtücher. Außerdem transpiriert er ständig die Klassenzimmer
voll. Tritt nun ein Mann in den näheren Kreis einer solchen unorganisiert vor
sich hinmenstruierenden Versuchsgruppe, so synchronisieren sich nach einiger
Zeit die Monatsblutungen der Probandinnen. Auf unser Beispiel angewandt heißt
das: Schwester Wasch von der Klosterwäscherei klagt regelmäßig über einen Schwall
japanischer Fähnlein in Unterhöschenform und dann herrscht wieder vier Wochen
Flaute. Dies hat die Wissenschaft festgestellt. Es findet seine Ursache in den
Hormonen, die Männer ständig ausschwitzen und auspinkeln. Rasputin der Erste
hatte nie von diesem Forschungsergebnis gehört. Er interessierte sich für Wissenschaft
nur, wenn sie lautere Verstärker, größere Bierdosen oder wirksamere Substanzen
hervorbrachte, als jene, die an dieser Stelle aufzulisten wohl unnötig sein
dürfte. Hätte er von den Erkenntnissen über die Synchronisation menstruativer
Vorgänge vermittels männlicher Hormone gewusst, so hätte er sich gewiss nicht
gescheut, schweißtreibende Liegestütz zu machen und in den Ecken seines Aufsichtsbereichs
gelbe Streifen an die Trennwände zu pinkeln, alles mit dem Ziel, die Menstruationszyklen
der als Aufsichten in der Ausstellung beschäftigten Frauen unter das Joch seiner
Ausdünstungen zu zwingen, allen voran den Menstruationszyklus von Mona, zu der
er seit einiger Zeit eine, wie Rasputin der Erste fand, zärtliche Liebesbeziehung
unterhielt (manchmal mutete sie ihm so schnuckelig an, dass er sie behandelte,
als sei sie ein Torfsack). Doch Rasputin dem Ersten war nichts von den Erkenntnissen
über die verheerende Wirkung männlicher Ausdünstungen bekannt, also rülpste
er sich den Weg zur Herrentoilette frei. Dabei fragte er sich, wo Mona heute
wohl steht.
„Sagtest du zweiter Stock?“
„Ja! Zum dritten Mal bereits! Willst du mich kirre machen? Warum hörst du mir eigentlich nicht zu?“ Warum antwortet Radio-Eriwan eigentlich auf jede Frage mit einer Gegenfrage, überlegte Peinlich.
„Warum nicht?“ antwortete er. Es war einfach. Er kratzte sich den Handrücken. Hatte er sie schon gefragt, ob ihre Wohnung mit einem Balkon ausgestattet sei? „Mit Balkon?“ fragte er müde. Es war langweilig und schrecklich.
Während er noch kratzte, beging Peinlich einen Fehler. Das Vertrackte war, dass er sich nicht sicher sein konnte, dass es sich dabei tatsächlich um einen Fehler handelte. Er unterlief ihm nämlich bereits seit Jahren. Das entsprach nicht Peinlichs Idealvorstellung von einem Fehler. Er beging ihn, den Fehler, und er spürte, dass er ihn beging. Vermutlich war das der eigentliche Fehler. Derweil überragte sie ihn um die Stärke des Blütenblatts einer Chrysantheme.
Es gewitterte. Nicht im diesseits, draußen zum Beispiel, am Himmel über dem Dach der Bahnhofshalle oder am Jangtsekiang, obwohl es durchaus möglich war, dass es in diesem Moment am Jangtsekiang gerade gewitterte. Es gewitterte auch nicht in Peinlichs Vorstellung oder vor seinem inneren Ohr oder wie immer man das nennen soll. Einigen wir uns darauf, dass es an einem nicht näher bestimmten Ort gewitterte. Man sollte lieber fragen, wie es gewitterte. Also: „Wie gewitterte es?“ – Es gewitterte nicht in der üblichen Weise. Die geht so: eine elektrische Entladung – „Blitz“ ist ein viel zu pfeilförmiges Wort für derlei Tischfeuerwerk –, eine elektrische Entladung fährt in einen eigens zu diesem Zweck verlegten Draht. Lange nachdem das Fünklein vergessen ist, klappert - einem lahmen Maultier gleich - ein asthmatischer Donner hinterdrein. So also nicht. Stattdessen krachte es, wie Peinlich es nie erlebt hatte, und dennoch war das Gewittern Peinlich so bekannt, wie der Geruch seiner Grundschule, aus der er zuletzt als Piefke hervorgestürmt war, die er aber erst kürzlich erneut betreten hatte, als er zufällig in der Gegend herumgestromert war. Unverzüglich löste er seine Uhr vom Handgelenk, zog seine Schuhe und Socken aus, zog seine Hose aus, klemmte sich ein Goldwäschersieb unter den Arm und kletterte zwischen den Sträuchern hindurch die Böschung hinab. Das Wasser leuchtete milchig türkis. Der schnurgerade Verlauf des Flusses ließ sich kilometerweit verfolgen. Er schien direkt aus dem wolkenlosen Himmel zu kommen. Peinlich balancierte über die groben Steine der Uferzone hinweg. Nach einigen Schritten wurde es tiefer und die Strömung drohte ihn umzureißen. Er erreichte eine Art Sandbank aus feinen Kieseln, in die er bis zu den Knöcheln einsank. Die Stelle schien ihm geeignet. In hohem Bogen schleuderte er das Sieb stromabwärts. Das Wasser war so kalt, als käme es direkt vom Mond.
„Hast du kleine oder große Brustwarzen?“, fragte er, indem er sich leicht vorbeugte. Mona schaute geradeaus. „Ich frage mich, ob sie eher nach unten zeigen oder direkt nach vorn, oder ob sie ein wenig nach oben zeigen.“ Ihre Pupillen hatten sich verengt, sie atmete tief. Peinlich beobachtete, wie sich ihr Busen hob und senkte. Sie beobachtete, dass Peinlich beobachtete, wie sich ihr Busen hob und senkte. „Da hast ziemlich Große, denke ich, die ein wenig nach oben zeigen.“ Kurz bevor sie sagen konnte, was sie möglicherweise hatte sagen wollen, murmelte Peinlich: „So wie Margit“. Da hörte sie auf, zu atmen. „Wun-der-bar, ich kann dir sagen!“ Peinlich verrenkte sich zur Pose eines seitengescheitelten Medizinstudenten gegen Ende einer erfolgreich verlaufenden mündlichen Prüfung. Er zählte auf, blickte mehrfach suchend zur Glaskuppel empor und schnippte zwischen den schnell gesprochenen Worten mit den Fingern: „Prall, klein, spitz, eckig, weich, riesig, messerscharf, na ja, knallhart, rund, ach was, ich meine natürlich dumpf.“ Ihre Augen traten hervor. „Nein!“ brüllte Peinlich. „Rumpf meine ich. Himmel, was rede ich denn?“ Ein andalusischer Schneider, der soeben das Erbteil seiner Schwestern verzockt hat, schaute sie an. Dann legte Peinlich seine Handfläche klinisch sanft auf ihren Oberarm, etwa wie der diensthabende Chefarzt der Neurologischen, welcher der Frau Gattin gerade vertellt hat, dass es sich bei der Erkrankung ihres Gemahlen möglicherweise um einen Kleinhirntumor handelt. „Ich denke, sie verstehen“, sagte er. „Vielleicht solltest du jetzt besser ausatmen“, fügte er an.
War er ihr zu nahe getreten? Sie gefiel ihm. Peinlich machte einen Schritt zurück. Ihm gefiel, wie kraftlos sie auf ihrem Platz stand. In letzter Zeit gefielen ihm auch ihre Titten. Das mochte daran liegen, dass sie sich mit dem Ausatmen neuerdings recht schwer tat.
„Verpiss dich!“ sagte sie. Sie presste es nicht hervor, sie flüsterte oder brüllte es nicht, sie schluchzte oder wieherte es nicht und verfremdete es auch sonst in keiner Weise. Sie sagte es. So als habe Peinlich sie gefragt, wie spät es sei, und sie antworte „Vierteleins“. So sagte sie es: „Verpiss dich!“ Es klang aber trotzdem nicht überzeugend.
Bereits im Jahre 1564 hatte der italienische Anatom und Gynäkologe G. Fallopius
empfohlen, man solle zum Schutz vor der Syphilis beim Geschlechtsverkehr ein
mit Medikamenten getränktes Leinensäckchen unter der Vorhaut tragen. Dottore
Fallopio dürfte von jenen, die versuchten seinen Ratschlag in die Tat umzusetzen,
ein „theorievernageltes Dummerle“ geschimpft worden sein (mindestens).
Um die Mittagszeit war die Ausstellung schlecht besucht. In dem Abschnitt, der
Peinlich zugeteilt worden war, hatten sich während der vergangenen Stunde nie
mehr als drei Besucher aufgehalten. Stefan war zu einem Spaziergang im Park
aufgebrochen. Wenn er das Gebäude verlassen hatte, bildeten die Aufsichten untereinander
Grüppchen und unterhielten sich (wie Peinlich vermutete über Kunst) oder sie
brachten einander aus der Cafeteria Getränke mit (Peinlich mochte keine Getränke).
In einer Ecke lagen lose übereinander gestapelt Pappkartons aus Holz. Ein anderes Kunstwerk bestand aus neun grün durchscheinenden, einen guten Meter langen Epoxidharzrohren mit quadratischem, knapp schulterbreitem Querschnitt. Dieses Kunstwerk eines Künstlers namens „Austin“ oder so ähnlich erhob sich wie 3 x 3 uniforme Schachfiguren über ein imaginäres Quadrat auf dem Hallenboden. Von oben konnte man durch die offenen Rohre auf den Boden hinabblicken. An ihrem Grund fanden sich abgerissene Eintrittskarten, Butterbrotpapiere und Kaugummis, welche die Ausstellungsbesucher hatten loswerden wollen. Auch Peinlich benutzte die Rohrabschnitte als Behältnisse für Unrat (den Vormittag lang hatte er in den Elementen des Kunstwerks umherlaufende Kinder abgestellt). Zwischen zwei Trennwänden hindurch gelangte man von Peinlichs Aufsichtsbereich in den angrenzenden Abschnitt, der am Ende der Halle lag und seiner Majestät des Gummivogels hoch herrschaftliche Residenz bildete.
Die da in der Ausstellung saß auf einer der Treppen zu den Notausgängen und las das Paperback einer mäßig humorvollen, aber populären österreichischen Autorin. Peinlich lief eine Weile umher, bis er den Gummivogel erreichte. Er knetete und würgte das synthetische Geschöpf, bis die da in der Ausstellung aufsprang und ihm entgegeneilte.
An dem Tag, als sie zum ersten Mal in einem ihrer selbst genähten Kleider erschienen war, hatte Peinlich sie beim Verlassen der Halle nach Ausstellungsschluss vorausgehen lassen, um die Bewegungen zu studieren, zu denen sich ihre tiefer gelegene Rumpfhälfte aufschaukelte. Rücklings hatte er zugesehen, wie sie ihr Namensschildchen an das nagelbesetzte Brett am Personalausgang hängte.
„Vielen Dank, nicht nötig!“ sagte Peinlich. „Du heißt Mona, weiß ich.“ Meist verbogen die Drähte in den dünnen Vogelbeinen etwas, wenn man das Tier quälte. „Mein Name ist Peinlich“, sagte Peinlich, richtete den Vogel wieder auf und rückte seine Brille zurecht (er trug keine Brille). „Es freut mich, dass du so gut auf diesen Vogel aufpasst“ (das Demonstrativpronomen sollte darauf hinweisen, dass der Vogel ebenfalls eine Brille trug). Mona verschränkte die Arme, verlagerte den Großteil ihres Lebendgewichts auf eines ihrer (langen) Beine und scharrte mit der Stiefelspitze am Ende ihres anderen (langen) Beins in einer Fuge zwischen den Steinplatten.
„Dieser Vogel, wie du ihn nennst, geht mir total am Arsch vorbei“, begrüße sie Peinlich und stemmte die Hände in die Hüften. Fein, dachte Peinlich, zog eine Augenbraue hoch und den gegenüberliegenden Nasenflügel zusammen.
„Das Wort „total“ dürfte in deinem Satz wohl total überflüssig sein.“ Alles in allem machte Mona einen erwartungsvollen Eindruck. „Wenn überhaupt, dann ginge dir das Tier doch nur total, will sagen als Ganzes am Arsch vorbei. Oder meintest du, der Vogel würde den Weg auch stückchenweise beschreiten – als Drosselklein etwa oder als Amselragout? – Ich heiße übrigens Peinlich“, repetierte er, nahm seine Brille ab und steckte einen der Bügel in den Mund. „Sagte ich das bereits?“
„Du sagtest es bereits“, gähnte Mona.
„Gut. Bleibt die Aussage: „Dieser Vogel geht mir am Arsch vorbei“. Weißt du, ich kenne unseren geflügelten Gummikollegen bereits seit einigen Jahren.“ Er blickte zu den unzähligen Scheiben empor, aus denen die Glaskuppel der Halle zusammengesetzt war. „Es müssen grob geschätzt um die vierzigtausend sein. Dennoch will ich nicht behaupten, dass wir zwei Freunde sind.“ Peinlich setzte die Brille wieder auf und klatschte dem Gummiklumpen kollegial auf die Flügeldecke. Das Kunstwerk vibrierte. Dann wies Peinlich mit dem Zeigefinger auf die Stelle, an der er die Rotationsmitte von Monas Gebärmutter vermutete. „Wenn ich eines mit Sicherheit weiß, dann, dass dieser Vogel nicht daran vorbeigehen würde.“ Monas Blick fuhr über Peinlichs Schulter an seinem Oberarm entlang. Er rutschte über Peinlichs Ellenbogen und Unterarm bis hinab zu seiner sehnigen Handwurzel, glitt über den von Äderchen überzogenen Handrücken und erreichte den ausgestreckten Finger. Dort angelangt, strich Monas Blick mehrfach über dessen Flanken hinab bis zu seiner wohlgerundeten Spitze. Der zylinderförmige Auswuchs war lang, kräftig und ausnehmend gerade gewachsen: ein schöner Finger. Er zeigte in ihre Richtung. Wie hieß der Typ noch gleich? Peinlich. Nicht ganz bei Trost, aber ein schöner Finger.
Peinlich bestätigte der Bodenkontrolle, dass die Trägerstufe soeben planmäßig abgesprengt worden sei. Er benötigte nun dringend etwas, womit er Mona weiterhin würde bei der Stange halten können. Es durfte nicht zu dick aufgetragen sein, es hatte frisch aus ihm hervorzusprudeln, es hatte ihm augenblicklich einzufallen, und er hatte nicht den geringsten Zweifel daran zu hegen, dass es uneingeschränkt dazu geeignet war, Mona aufs Äußerste bei der Stange zu halten. Peinlich blickte im Halbkreis auf den Teil der realen Welt, in dem sich sein Körper gerade herumtrieb. Um etwas freizulegen, das ihn selbst begeisterte (denn nur was ihn selbst begeisterte, war auch dazu geeignet, Mona bei der Stange zu halten), hievte er unterdessen Lage für Lage eines dicken Stapels Grassoden beiseite, die auf den Deckel eines mächtigen, ornamentierten Sarkophags geschichtet waren, von dem Peinlich annahm, er enthalte seine Erinnerungen. Der Sarkophag stand neben einer Unzahl anderer steinerner Sarkophage in einem Dom, einer Ruhmeshalle oder der Gruft einer Kathedrale oder sonst was – irgendwas Großes jedenfalls, das Peinlich für etwas hielt, wofür er das Wort nicht kannte. Er beendete seinen Rundblick. Nicht einmal die eigene Begeisterungslosigkeit vermochte ihn bei der Stange zu halten.
Mittlerweile standen in Monas grün- oder blau- oder braungrauen Augen je ein kleines dreibeiniges Nierentischchen – die Sorte, auf denen üblicherweise fade Erdnüsse in halbvollen Schälchen vertrocknen oder Aschenbecher ungenutzt einstauben. Auf einem dieser Tischchen lag ein Granatapfel, auf dem anderen eine längliche Spiegelscherbe, von der sich ein ansehnliches Quantum eines weißen Pulvers abhob, in dem Peinlich goldrichtig ein hochwirksames Aphrodisiakum vermutete. Er war über diese Entdeckung alles andere als erfreut. Machte er etwa den Eindruck, als sei es nötig, ihn mit Symbolen und Hilfsmitteln künstlich zu stimulieren? Das war es doch, was Mona bezweckte? Peinlich sah erneut hin. Nein, es bestand kein Zweifel.
Mona verlagerte ihr Gewicht vom Standbein auf die im Sandstein knirschende Stiefelspitze, wand sich elegant um und schritt mit wiegendem Gang davon. Wie ein Taucher, in dessen Blut allerlei Gase frei werden, weil er nach längerem Aufenthalt in der Tiefe zu schnell zur Wasseroberfläche emporsteigt, spürte Peinlich eine unangenehme Form von Entspannung in sich aufschäumen. Etliche Einfälle, Tatsachen und Erinnerungen, die ihn durchweg begeisterten, sprudelten in ihm auf. Der Zustand hielt nur wenige Millisekunden an, dann begeisterte ihn uneingeschränkt alles: die umgebende Luft, Nilpferde, seine Schuhe (Peinlich hatte seine Schuhe zeitlebens gehasst), die schnöden Bilder an den Wänden, das Prinzip der rückwärtigen Verdoppelung, Krankenschwestern, Alleinunterhalter, der Gummivogel, die parlamentarischen Systeme der konstitutionellen Monarchien Mittel- und Nordeuropas, alles. Es war unerträglich. Peinlich vollführte eine schnelle, mit einer heftig rupfenden Armbewegung kombinierte Drehung und riss dem Vogel den Kopf ab.
Erfüllt von innerem Frieden genoss er, wie Mona auf die Wand seines Aufsichtsbereichs zuwackelte. Bevor sie ihren Schritt wenden und er in ihr Blickfeld zurückkehren würde, legte Peinlich den Gummischädel zwischen die Krallen des Vogels auf den Sockel.
Zwei Monate später – die Wanderausstellung ging weiter nach Madrid – wurde die Stelle, an die Peinlich den Vogelkopf gelegt hatte, von einem frisch promovierten Kunsthistoriker in eine eigens dafür angefertigte Zeichnung auf eine Weise eingetragen, dass sich die Ausrichtung des Körperteils exakt daraus rekonstruieren ließ. Der bei seinen Kollegen beliebte junge Wissenschaftler verfertigte im Anschluss an die Zeichnung noch zwei weitere, allerdings weniger gelungene Zeichnungen, die vermutlich Hundenäpfe darstellen sollten. Außerdem formulierte er einen metapherngeladenen Text über Hühnerköpfe in altgriechischer Sprache (seinem zweiten Prüfungsfach). Der junge Mann war damit beauftragt worden, vor dem Abbau der Ausstellung den Zustand der Exponate zu dokumentieren. Allerdings hatte er sich, bevor er mit einem Aktenordner voller Unterlagen bewaffnet seinen Rundgang begann, eine durchaus sportliche Dosis einer jener wirksamen Substanzen zugeführt, die an dieser Stelle aufzulisten wohl unnötig sein dürfte. Die von ihm angefertigten Zeichnungen und Notizen fügte er der Mappe bei, die sich in der Klarsichthülle mit der Aufschrift „Trilogie“ befand. In Madrid wurden die Unterlagen für Autographen des Künstlers gehalten und führten nach einer hitzigen Debatte in feurigem Spanisch dazu, dass das Werk so wieder ausgerichtet wurde, wie es sich ausgemacht hatte, nachdem Peinlich es modifiziert hatte. Bleibt überflüssigerweise anzumerken, dass Stefan die Veränderung nicht auffiel und jede der Aufsichten beschloss zu schweigen, sobald sie bemerkte, dass der Vogel enthauptet worden war.
Mona wendete. Peinlich hatte sich vor die Skulptur gestellt. Entlang der optischen Achse zwischen dem Vogelhalsstumpf und Monas Nasenwurzel schritt er ihr entgegen. Dabei lud er sie freundlich dazu ein, sich den angrenzenden, seinen Aufsichtsbereich zeigen zu lassen. Wie alle Aufsichten hatte auch Mona bereits stundenlang in den verschiedenen Abschnitten der Ausstellung herumgestanden. Peinlich las in ihrem Gesicht, dass sie seine Einladung für eine saublöde Offerte hielt. Also eröffnete er, dass er ihr nebenan etwas Einmaliges zeigen werde. Ausgiebig beschrieb er Mona die Einmaligkeit dessen, was er ihr zu zeigen gedenke, ohne allerdings durchblicken zu lassen, worum es sich dabei handeln könnte. Das war auch nicht anders möglich, denn Peinlich blickte selbst nicht durch, worum es sich dabei handeln könnte. Dennoch (oder vielleicht gerade deshalb) begeisterte ihn die Einmaligkeit dessen, was er Mona zu zeigen gedachte, in einem Maße, dass er sich allmählich ernsthaft dafür zu interessieren begann, was denn in dem Ausstellungsbereich jenseits der Trennwand so interessant sei. Seines Wissens gab es dort nichts, wofür es sich lohnte, die Augen auch nur halb geöffnet zu halten. Während Peinlich noch die Schilderung der Einmaligkeit des unspezifizierten Gegenstands oder Ereignisses von nebenan beschäftigte, erinnerte er sich plötzlich, angekündigt zu haben, dass er plane, Mona im angrenzenden Aufsichtsbereich etwas Einmaliges zu zeigen. Also lauschte er seinen Worten und siehe: der Verdacht erwies sich als gerechtfertigt. Wäre nun in diesem Moment nicht der größere Teil von Peinlichs Hirn damit beschäftigt gewesen, Sätze hervorzubringen, die zumindest in Monas Ohren einen Sinn machen sollten, so wäre er möglicherweise zu der Erkenntnis gelangt, dass er die Kraft, weiter zu reden, einzig aus der Tatsache schöpfte, dass er nicht wusste, wovon er redete. Stattdessen beauftragte er den verfügbaren Rest seiner Geisteskapazitäten, eine Liste einmaliger Gegenstände und Ereignisse zu erstellen, die im benachbarten Ausstellungsabschnitt aufzufinden beziehungsweise zu erleben waren. Hier die Liste:
1.) Die hölzernen Pappkartons eines Künstlers namens „Warhola“ oder so ähnlich.
2.) Die Struktur der Kalkverkrustungen an der dampfenden Öffnung des Luftbefeuchters, der neben der Säule steht.
3.) Die Konstellation der Kaugummis am Grund der Epoxidharzrohre.
4.) Einmalige Ereignisse fielen Peinlich keine ein.
Derweil beschrieb er Mona, wie sich ihre Augen vor angenehmer Überraschung beim Anblick dessen, was er ihr zu zeigen plane, weiten würden, um alsdann nahtlos dazu überzugehen, ihre grün- oder blau- oder braungrauen Augen zu beschreiben. Dieser narrative Einbruch schien Mona nicht zu stören, denn sie lauschte mit halb geöffnetem Mund. Peinlich gefielen Monas geweitete Augen. Sie waren einmalig. Er hätte sogar zu der Behauptung gestanden, dass der Luftbefeuchter einmalig ist, obwohl von diesem Modell auf der Welt sicher einige zehntausend Stück vor sich hindampften. Genau genommen war selbst das Wasser darin einmalig. In dem Meer von Befremdung, aus dem Mona zu ihm aufblickte, wucherten allmählich feuerrote Inselchen. Noch überragte sie ihn um die Stärke des Blütenblatts einer Chrysantheme.
Präzise in dem Maß, in dem Monas Bereitschaft, Peinlich zu folgen, zunahm, ließ er die Überzeugungskraft seines Redestroms abebben. Schließlich bedurfte es noch einer knappen Handbewegung, um sie aus dem Totenreich der Vögel in sein Reich hinüberzubefehligen. Sie ging ihm voraus.
„Wenn du zu kichern anfängst, ist alles verloren“, ermahnte sich Mona stumm, als sie zwischen den Trennwänden hindurchtrat. „Tu nur, wozu du Lust hast. Überlege, bevor du etwas sagst. Bleib‘ locker!“ Außerdem dachte sie natürlich an Peinlichs Finger, aber vielleicht ist ja „denken“ in diesem Zusammenhang nicht das richtige Wort. Die Haie schwimmen halt unten in der Milch, die Enten in der Sahne obenauf. Peinlich ging drei Schritte hinter ihr und ihn hielt bereits die Einmaligkeit bei der Stange, mit der sie einen Fuß vor den anderen setzte.
Als er zwischen den Trennwänden hindurchtrottete, wandte er sich nicht um, denn: Peinlich war kein Idiot. Der Vogel stand auf seinem Sockel, ohne sich zu regen, ohne zu bluten, ohne zu leiden, frei von Gedanken, bar jeder Sinne, in aufrechter, ja geradezu würdevoller Haltung und war dennoch so kopflos, wie ein schäbiger Gummivogel nur kopflos sein kann. Er war „Der kopflose Gummivogel“. Das wusste Peinlich (schließlich hatte er ihn zudem gemacht, was er war). Deshalb zwinkerte er dem toten Silikonklumpen nicht zu (eigentlich war er nämlich doch ein Idiot). Dann betrat er die Arena.
„Magst du eigentlich Tiere?“ fragte er halblaut, nachdem sie einige Schritte gegangen waren. Augenblicklich fühlte sich Mona maßlos unwohl. Sie hatte es nicht ernst genommen, als Peinlich angekündigt hatte, dass er ihr etwas zeigen werde, nein, nur für einen kurzen Moment musste sie es wohl ernst genommen haben. Sie wünschte sich, Peinlich würde wortlos verschwinden und sie nie wieder ansprechen. Verstohlen blickte sie ihn an. Er sah nicht aus, als habe er vor, zu verschwinden. Wenn sie ehrlich zu sich war – und Peinlich ließ ihr die dafür erforderliche Zeit – so sah er aus, als würde er in exakt dem ernsthaften und idiotischen Ton weiterfragen, der Mona, nun da er ihr in vollem Ausmaß bewusst geworden war, unsäglich auf die Nerven ging. „Magst du eigentlich Tiere?“ – was wollte er jetzt damit wieder ausdrücken?
Peinlich guckte Mona an, als läge ihm die Gedichtzeile auf der Zunge, mit der irgendwer irgendwann den letzten einer Reihe sehnsuchtsausgezehrter Liebesbriefe hatte enden lassen. Dann presste er die Zähne aufeinander und furzte.
„Verzeihung“, bat er.
„Macht nix“, entfuhr es Mona (in diesem Moment sprach ihre verstorbene Großmutter aus ihr - es war das erste Mal).
„Äh ja, sehr“, antwortete sie erschrocken. Mona besaß einen Kater und war fest davon überzeugt, Tiere zu mögen.
„Und? Besitzt du einen Kater?“ fragte Peinlich in exakt dem ernsthaften und idiotischen Ton, der Mona, nun da er ihr in vollem Ausmaße bewusst geworden war, unsäglich auf die Nerven ging.
„Wie kommst du denn darauf?“ gab sie zurück, ganz als besäße sie keinen Kater und sei nicht fest davon überzeugt, Tiere zu mögen. Sie fühlte sich so was von unwohl.
„Wie ich darauf komme? Gute Frage“, stutzte Peinlich. „Gute Frage, weil ich sie dir nicht beantworten kann. Hast du eine Wohnung?“
Wie hatte sie das nur vergessen können! Raus aus der Defensive!
„Und wieso kannst du sie mir nicht beantworten?“ strahlte Mona. Über Peinlichs Gesicht peitschte ein tollwütiges Pferd hinweg und ließ den Pfefferminzbruch-süßen Pomp auf ihren Lippen erstarren wie schnell härtenden Kraftkleber. Dann sah Peinlich sie traurig an. Traurig und ein bisschen müde.
„Und. Hast du eine Wohnung?“ wiederholte er.
Mona antwortete.
Peinlich fragte.
Sie antwortete und er fragte erneut. Mona antwortete.
Peinlich bat sie, ihre Antwort zu wiederholen.
Mona wiederholte ihre Antwort.
Peinlich fragte, sie antwortete, und dann fragte er noch einmal eine der Fragen vom Anfang des Gesprächs. Sie antwortete. Darauf stellte er eine neue Frage, sie antwortete, und dann fragte er Mona, wie alt sie sei.
Sie sei achtzehn oder vierundzwanzig Jahre alt, antwortete Mona. Sie machte nur eine Angabe: „achtzehn“ beziehungsweise „vierundzwanzig“. Das Problem war, dass Peinlich sich vorgestellt hatte, sie sei entweder erst achtzehn oder schon vierundzwanzig. Dann hatte es geheißen: „achtzehn“ beziehungsweise „vierundzwanzig“. Mona hatte nur eine der Zahlen genannt. Dessen war sich Peinlich sicher. Ebenso sicher war er sich, dass seine Annahme falsch gewesen war. Welches aber die Zahl gewesen war, die er für richtig gehalten hatte, und welches jene war, die Mona kurz darauf genannt hatte, wusste er nicht. War sie nun erst achtzehn oder schon vierundzwanzig? Peinlich nahm an, dass es ihm egal sei (es war ihm auch egal, scheißegal sogar). Allerdings beanspruchte ihn die ganze Überlegerei in einem Maße, dass er nicht mitbekam, was Mona auf seine letzte Frage geantwortet hatte. Also musste er sie bitten, ihre Antwort zu wiederholen. Mona wiederholte ihre Antwort. Bei der darauf folgenden Frage benötigte Peinlich die Wiederholung der Antwort sogar, um auf seine Frage rückschließen zu können.
Peinlich konnte nachvollziehen, dass sie verärgert war. Vermutlich dachte sie, dass er ihr nicht zuhöre. Dennoch überkam ihn kein schlechtes Gewissen oder etwa Schuldgefühle, denn Peinlich überkamen nie schlechte Gewissen oder Schuldgefühle. Er bat Mona ihre Antworten zu wiederholen, er versuchte ihr Alter zu erfahren, er vollzog nach, dass sie verärgert war. Er beschäftigte sich doch ausschließlich mit ihr.
Obendrein gefiel ihm, wie kraftlos sie auf seinem Platz stand. Ihre Titten gefielen ihm, ihre geweiteten Augen, ihr halb geöffneter Mund. Ihm gefiel, dass sie erst achtzehn beziehungsweise schon vierundzwanzig war, und ihm gefiel, dass ihr Befremden bald in Handlung umschlagen würde. Ja, sie gefiel ihm.
Schließlich sagte sie dann: „Verpiss dich!“ Sie presste es nicht hervor, sie flüsterte oder brüllte es nicht, sie schluchzte oder wieherte es nicht und verfremdete es auch sonst in keiner Weise. Sie sagte es. So als habe Peinlich sie gefragt, wie spät es sei, und sie antworte „Vierteleins“. So sagte sie es: „Verpiss dich!“. Es klang aber trotzdem nicht überzeugend.
Überzeugend hingegen klang das Schleifgeräusch eines Epoxidharzrohrs auf dem
Sandsteinboden einer für Kunstausstellungen genutzten ehemaligen Bahnhofshalle.
Es war ein durch und durch gelungenes Geräusch, das unmittelbar nach Monas vielversprechendem
Satz vom Ende des vorangegangenen Kapitels laut wurde. Es war ein gewagt komponierter
Cocktail, zum Wohle Peinlichs kreiert und kredenzt von einem Barmixer, der,
als er ihn auf einen Drink einlud, wohl wusste, worauf er sich einließ, dessen
Herz jedoch beim Auswählen der Ingredienzien ruhig weitergeschlagen hatte. Das
Geräusch war die akustische Antithese von Langeweile. Es war so überzeugend
wie die ersten zwei Takte von Johannes Brahms’ Tragischer Festouvertüre als
Musik oder der Arschklaps, der einem nach der Geburt erteilt wird, als freundlicher
Ratschlag.
Natürlich schleift die Kante eines Hohlzylinders aus glasfaserverstärktem Kunstharz nicht über den Fußboden, ohne dass in das stabile Kräftegleichgewicht eingegriffen wird, das zwischen diesem Körper und seinem Untergrund herrscht. Ein kleiner Mann hatte das Rohrstück angekippt und es schwungvoll auf einer Ecke drehend aus dem geordneten Verband ausscheren lassen. Der kleine Mann war in Begleitung einer Frau, die zwischen fünfundvierzig und siebzig Semester auf dem Buckel haben musste und obendrein Kunststudentin war, was aber nichts zur Sache tut. Der kleine Mann war alt genug, um das Gefühl von Lebensmitte bereits vergessen zu haben. Es handelte sich per definitionem um ein besonders dreistes Exemplar eines getarnten Kunstprofessors. Sein plötzliches Auftreten kam Peinlich überaus gelegen. Er beschloss ohne Umschweife, den kleinen Mann nach Strich und Faden zur Schnecke zu machen.
„Komplett den Arsch offen?“ feldwebelte Peinlich durch die Halle, etwa in der Lautstärke eines modernen Mantelstromtriebwerks unter Viertellast. Dann schnellte er los. Während der außerordentlich kurzen Phase seines lift-offs, als er sich zwar noch an der Seite Monas befand, als seine Aufmerksamkeit jedoch längst irreversibel von ihr abgeglitten war, versuchte Mona auf verhalten-fürsorgliche Weise, Peinlich am Hemdsärmel festzuhalten. Selbst als er die Reichweite ihres Zugriffs längst verlassen hatte, verharrte sie weiter reglos in der Position, in der ihr das Flanellgewebe seines unauffälligen Hemdes zwischen Daumen und Zeigefinger entrissen worden war. So vorsichtig, wie du ihn gerade festzuhalten versucht hast, dachte sie, indem sie Peinlich nachblickte, wäre dir selbst Fridolin entwischt. Mona war vierzehn, als er starb. Fridolin war ein Mesocricetus-auratus-Männchen. Oft hatte sie ihn auf ihren blutjungen Brüsten umherklettern lassen. Sein Fell war weich und warm gewesen. Fürwahr, damals hatten ihre Nippel ein wenig nach oben gezeigt.
Der Kunstprofessor blickte Peinlich über den Rand seiner Brille an, gerade als zweifele er daran, das Ziel der sich ihm spurtstark nähernden Person zu sein. Peinlich hatte mittlerweile etwa ein Drittel der Wegstrecke zurückgelegt und erreichte gerade das Ende der Beschleunigungsphase. Es kostete ihn weniger als die Zeit eines Laufschritts, eine Liste der möglichen Gründe für die Reaktionsträgheit seines Zielobjekts zu erstellen. Die Liste existierte nur für kurze Zeit und sah so aus:
1.) Der Kunstprofessor entstammt einer sehr bergigen oder einer sehr flachen Weltgegend.
2.) Der Kunstprofessor ist im Begriff in einen traumatischen Angstzustand zu fallen und benötigt deshalb eine kurze Pause.
3.) Der Kunstprofessor leidet unter den Folgeschäden des langjährigen Konsums jener wirksamer Substanzen, die an dieser Stelle aufzulisten wohl unnötig sein dürfte.
4.) Als Folge des Konsums gewisser noch weit wirksamerer Substanzen, als jene, die an dieser Stelle aufzulisten wohl unnötig sein dürfte, erblickt der Kunstprofessor in dem sich ihm nähernden Gegenüber die temperamentvolle Eisverkäuferin, die ihm damals, ’57 in Rimini, so dermaßen den …
5.) andere Gründe.
Peinlich sah sich durch keinen der möglichen Gründe in seiner Vorfreude, den Kunstprofessor kennen zu lernen, bedämpft.
Leider hatte er während seiner folgenden Schritte mit anzusehen, wie der Kunstprofessor seine Brille abnahm und sie routiniert seiner lächelnden Assistentin reichte. Eines kam zum anderen. Bei der Brille handelte es sich augenscheinlich um eine Ausführung mit Sportbügeln. Peinlich, der sich seinem Ziel nunmehr bis auf wenige Schritte genähert hatte, leitete eine Sohlen quietschende Abfangbewegung ein und keulte, das Gesicht vor Interesse an der Entwicklung seiner Geschicke absonderlich verzerrt, in olympischem Tempo an dem Kunstprofessor vorüber. Sekundenbruchteile später verschwand er im Durchgang zwischen zwei Wänden zum angrenzenden Aufsichtsbereich. Dabei fühlte er sich angenehm erregt, etwa so wie manche Leute, wenn sie zuschauen, wie sich eine Blütenknospe öffnet, und andere, wenn sie tagein tagaus acht Stunden an der Stanze stehen.
Juste à coté des Durchgangs, den Peinlich durcheilte, kratzte gerade ein ebenso neugieriger wie fantasievoller Nachfahre eines alten Samuraigeschlechts mit den gepflegten Nagel seines linken Ringfingers an dem großen, durchgehend silberschwärzlichen Rahmen, aus dem wirklichkeitsgetreue Nachbildungen menschlicher Schädel und Gebeine herausragten (das leidlich figurative Tafelbild war das Kunstwerk eines Künstler namens … oder so ähnlich). Zumindest hatte der einsame Asiat im Laufe der vergangenen drei Wochen seiner Europareise etlichen Reisebekanntschaften gegenüber erfolglos behauptet, Nachfahre eines alten Samuraigeschlechts zu sein. Vor Schreck über Peinlichs jähen Auftritt entfuhr dem Mann aus dem Land der aufgehenden Sonne ein Schrei, der den in seinem Chefsessel dahindämmernden Stefan erwägen ließ, ob es nicht an der Zeit sei, unten mal wieder nach dem Rechten zu sehen.
Peinlich joggte und rieb sich das östliche seiner Ohren. Barbarische Schlächter hatten dem Gummivogel den Kopf abgerissen. Joggend nahm er die Amputation zur Kenntnis, bedauerte den Vandalismus und beschloss, niemandem davon zu erzählen. Er joggte ein kurzes Stück auf einen taumelnden Herrn mit Schlitzaugen zu, passierte ein zur Hälfte in Beton eingegossenes Mofa, Typ Velosolex (dem Frühwerk eines Künstlers namens „Foztell“ oder so ähnlich) und lief an einem Durchgang zwischen zwei Trennwänden vorüber, durch den er für einen Augenblick eine ägyptische Göttin gewahrte, die mit angewinkeltem Arm und einander berührendem Zeigefinger und Daumen den Kopf eines Ibis' beziehungsweise die Erfindung der Abisolierzange symbolisierte. Sie gefiel Peinlich. Er joggte weiter, erreichte die Außenwand, stieg über das Stromkabel eines Luftbefeuchters hinweg, zwängte sich zwischen der Mauer und einem säulenartigen Stahlträger hindurch, an den die stumpfe Seite der Trennwand anstieß, und enterte so unbemerkt seinen Aufsichtsbereich.
Mona – ihm abgewandt – stand in auffälliger Körperhaltung kraftlos auf seinem Platz. Sie gefiel Peinlich. Ein Kunstprofessor klopfte auf ein Rohr, redete auf eine runzelige Kunststudentin ein und lachte. Peinlich versteckte sich hinter einem Haufen hölzerner Pappkartons und verschnaufte.
Der weit verbreitete Gebrauch von Kondomen begann in den 40er Jahren des 19.
Jahrhunderts, als die animalischen Membranen durch ein leistungsfähigeres Material
verdrängt wurden. C. N. Goodyear hatte im Jahre 1839 mit der Erfindung der Vulkanisation
von Kautschuk die Herstellung von Gummi ermöglicht. 1870 waren Gummikondome
in den Vereinigten Staaten so populär, dass Verhütungsgegner Kampagnen organisierten
und den Gesetzgeber zum Verbot der effektiven Spermatütchen aufforderten.
Als hätten ihn die Kinder umgestoßen und achtlos liegen gelassen, drückten seine
harte Nase und sein harter Bauch auf den harten Boden. Unten in der Standfläche,
dort wo Peinlich nicht lackiert war, hatte er ein Loch. Vielleicht damit das
Wasser abfließen kann, das sich in mir ansammelt, überlegte er. Möglicherweise
aber ließ sich bei der Massenproduktion hohler Steingutkörper ein Loch in der
Standfläche nicht vermeiden. Peinlich war froh, dass er das Loch nicht im Kopf
oder in der Brust hatte. Neben ihm lag ein Klemmschildchen. Es sah so aus:
Peinlich
Aufsicht
Er begriff sich nicht als das Werk eines Künstlers namens „Pheinlich“ oder so
ähnlich, der einer Komposition, bestehend aus einem Gartenzwerg, der mit dem
Gesicht zu unterst auf einer sandsteinernen Bodenplatte liegt, den Titel „Aufsicht“
gegeben hatte. Peinlich begriff sich keineswegs als Gartenzwerg, musste aber
zugeben, dass er einer war, denn seine harte Nase und sein harter Bauch drückten
auf den harten Boden. Neben ihm lag ein Klemmschildchen. Es sah so aus:
Peinlich
Aufsicht
Dann rappelte er sich auf und klopfte sein Röckchen ab. Es war aus dichtem rotem
Samt gefertigt und mit breiten, braunen Revers und goldenen Applikationen in
Eichelform versehen. Dazu trug er rustikale Stiefelchen und ein großzügig geschneidertes
Zipfelmützchen aus grober grüner Shetlandwolle. Chic, dachte Peinlich (obgleich
es Konfektionsware zu sein schien).
Er tippelte um den Haufen hölzerner Pappkartons herum, die sich aus seiner Perspektive ausnahmen, wie lose übereinander geschichtete Baubuden. Die Bilder an den Trennwänden hingen himmelhoch. Ein Glück, dass Hunde in der Ausstellung verboten sind, dachte Peinlich. Kinder hingegen waren erlaubt, Eile schien geboten. Er trat aus dem Schatten der Kartons heraus, erkannte Mona und den Kunstprofessor und rannte auf die Mitte des Ausstellungsabschnitts zu. „Na, Arsch!“ schrie Peinlich, als der Kunstprofessor ihn bemerkt hatte. Das eigene Stimmchen klang hell und war lauter, als Peinlich es erwartet hatte. „Wenn du nicht augenblicklich das Rohr wieder da hinstellst, wo es gestanden hat, …“. Das reichte. Hatte er sich nicht lange genug über diesen Wicht geärgert? Es gab Dringlicheres zu erledigen.
„Hey Baby!“ piepste Peinlich, als er vor Mona angelangt war (aus seiner Perspektive ließ sich ziemlich tief unter ihr Kleid blicken). Sie starrte ihn aus geweiteten Augen an. Es gefiel Peinlich. „Ich möchte, dass wir gemeinsam einen Spaziergang machen. Irgendwo im Park, oder besser noch an einem See. Ich werde dir jedoch im Anschluss nicht meine Briefmarkensammlung zeigen, klar? Also: kein Sex! Kein Geknutsche, kein Gefummel!“ Mona war wie vom Donner gerührt. Sie fällt in Ohnmacht und stürzt auf dich nieder, befürchtete Peinlich. Wütend stapfte er mit einem Stiefelchen auf. Es klickte und wirbelte ein wenig Staub auf. „Habe ich mich verständlich ausgedrückt?“ herrschte Peinlich. Mona nickte kaum merklich.
„Sag es!“ befahl Peinlich und stapfte erneut auf.
„Kein Sex“ quoll es zähflüssig zwischen Monas Lippen hervor. Es war eine Zauberformel. Du lügst, dachte Peinlich.
„Nächste Vollmondnacht. Ich kann es nicht leiden, wenn man nichts sieht.“
„Ja“, hauchte sie.
„Bis denne!“ grüßte Peinlich und trollte sich.
Sie blickte ihm nach, bis er hinter irgendetwas verschwunden war.
OK. Diktiergerätnotiz in Robbennähe (Schaukasten):
Äh, Zoo hier. Äh, der geöffnete Magen unseres See-Elefanten Roland, der am 21.8.61 ein – … ein Gebiet … – Scheißding, ein qualvolles Ende fand. Kratzpruhu.
Vier Eisstiele, ‘n Pu… äh, ‘n ‘n Anstecker, äh, Pudel , ein zerkautes Einwegfeuerzeug, nee so’n Fläschchen eher, ‘n kleener Metallanker, ‘ne Lufthansa -Anstecknadel, ‘n Flaschenöffna, ‘ne Haarklemme, ‘n äh, blecherner Billicharmreif, ‘n Bleistift mit Herzchen druff, blau, grün, schwaaz, ‘ne Spritzpistole, rot, ‘n Fallschirm, ja dit is so’ne Art Fallschirm oder so’n Leinensäckchen, ne Flasche, so’n so’n Flachmann, ‘n Streichholz, ‘n Plastikmesser, noch’n Einwegfeuerzeug, ‘ne Bierdose Schultheiss , ‘n Aufst Anstecker Sauber bleiben! , so jroß, ‘n Stück Kette, fümunzwanzich Zentimeta, ‘ne Feder ‘zz siebm Zentimeter, ‘ne Sonnenbrille für Kinda, ‘nen bl äh, ‘ne ‘ne Sonn’nblende vom Auto, ‘n abjewicksta zabroch’na Taschenspiegel, drei Nägel, ‘n äh, ‘n Plasik- nee ‘n ‘n Matchboxauto, grün, alt, so Ford T-Model, ‘n Alukamm, ‘n äh, Burg äh, Sch Vorhängeschloß, klein, off’n, ‘n Schlüsselbund mit sechs Schlüsseln, nee mit vier, fümf Schlüsseln, ähm, noch ‘ne nee ‘n Pfeifenporrer, ‘n Lut ‘n Nuckel, ‘n Taschenmesser: jeöffnet, ‘n ‘n Kleenemädchenschuh, schwaaz, ‘n Kompaß, ‘n Autoschlüssel vom Op’l und zwee Jroschen und ‘n Pfennich und noch’n zawicksta Jroschen, ahja, und so’n so’n Nähetui mit Schnur drinne.
„The Rasputins“ hatten einen Auftritt in einem Laden in Kreuzberg (inzwischen
garantiert pleite). Ein Vorverkauf fand nicht statt. Es gab keine Sitzplätze.
Stehplätze waren in ausreichender Zahl vorhanden. Der Eintrittspreis betrug
7,00 DM (keine Ermäßigung). Am Ende des Konzerts beliefen sich die Einnahmen
der Konzertkasse auf 78,50 DM (in Worten achtzig). Daraus errechnet sich die
Zahl der Gäste, die für den Eintritt abgedrückt hatten, mit zwölf (der Typ,
der am Eingang kassierte, hatte sich fünf Mark für Zigaretten abgezwackt). Zeitweise
waren dennoch knapp vierzig Zuhörer anwesend, da etliche Bekannte der Bandmitglieder
auf der Gästeliste gestanden hatten und umsonst herein gekommen waren. Trotzdem
herrschte gähnende Leere im Saal, der Laden in Kreuzberg war nämlich ziemlich
groß.
Verschiedene Personen wohnten dem Konzert aus beruflichen Gründen bei. Diese waren:
1.) Die Tresenkraft. Sie hatte das Eis aus der Eisbox geholt, den Kühlschrank mit Bier vollgestopft und Orangen und Zitronen geschnitten. Ihr Arbeitstag hatte gerade erst begonnen, dennoch war sie bereits etwas unsicher auf den Beinen. Bevor sie die Wohnung ihres langjähriger Lebensgefährten verlassen hatte, um ihren Job anzutreten, hatte sie der Schönling wieder einmal über einige aktuelle Fakten seines Liebeslebens aufgeklärt. Als Reaktion darauf hielt es die zart gebaute Barmaid für angezeigt, sich vollaufen zu lassen. Während der dreiundvierzig Minuten, die vergangen waren, seit sie ihre Jacke neben die Espressomaschine gepfeffert hatte, waren bereits Kostproben aller verfügbaren Spirituosen durch ihre Kehle gelaufen, was viel ist. Derartiges kam öfter vor. Die Tresenkraft war gewissermaßen dafür bekannt, dass sie ihre Furcht vor sich vermeintlich anbahnender Veränderung ihrer Einordnung ins soziale Gefüge dadurch abzufangen versuchte, dass sie sich einen auf die Lampe goss. Allerdings bedauerte sie niemand für diese Angewohnheit, was immerhin auch der Grund dafür sein könnte, dass sie sich so oft einen schüttete.
2.) Der Kassierer am Eingang. Er machte ein Nickerchen oder rauchte, oder er kassierte. Vor einer Stunde war er aufgestanden. Kurz zuvor war er ins Bett gekommen (1730 Uhr). Das Konzert war für 2100 Uhr angesetzt, würde also keinesfalls vor 2300 Uhr beginnen.
3.) Die beiden Hippies von der Beschallungsfirma. Beim Beladen des Transporters hatten sie sich darauf geeinigt, den Tag ruhig anzugehen und abends zu klotzen. Bis eben hatten sie die Anlage aufgestellt und der Band einen Soundcheck im Schnellverfahren abverlangt. Nun waren sie fertig. Um sich zu beschäftigen, entwirrte der Kurzhaarige einen Haufen klebriger, ineinander verwundener Mikrofonkabel. Der Langhaarige löste ein Kreuzworträtsel. In regelmäßigen Abständen, die zueinander in keinem ganzzahligen Verhältnis standen, nippten sie an ihren Bierflaschen. Der Langhaarige war nicht sehr gut darin, Kreuzworträtsel zu lösen. Der Kurzhaarige hingegen war sehr gut darin einen Haufen klebriger, ineinander verwundener Mikrofonkabel zu entwirren. Ohne es zu wissen, war er darin der Schnellste in Europa. Lediglich ein gewisser Gregory Bloomford, ein bärtiger Roadie aus Dallas, Texas, war noch schneller als er. Da aber in der Disziplin des Entwirrens von Haufen klebriger, ineinander verwundener Mikrofonkabel nie interkontinentale Wettbewerbe ausgetragen werden, sollten sich die zwei nie kennen lernen (zum Glück, denn Gregory Bloomford war ein extremes Arschloch).
Rasputin der Erste hatte ein knappes Dutzend Personen aus Medien und Musikindustrie persönlich zu dem Konzert eingeladen. Konkret sollte davon nur eine einzige Gestalt erscheinen. Es war ein Neuberliner von einem Zwei-Semester-Publizistikstudenten, von dem Rasputin den Ersten einige Tage vor dem Auftritt im Lärmdickicht eines China-Imbiss’ um die Sojasauce angegangen ohne Umschweife und in ein Gespräch verwickelt worden war. Bereits mit seinem zweiten Satz (dem Satz nach dem Satz mit der Sojasauce) hatte der Bürstenhaarschnittler die Tatsache, dass er seit einer Woche in der Unterhaltungsredaktion des Sender Freies Berlin hospitierte, derart beschönigt, dass er, noch während Rasputin der Erste ihm die salzige Soße rüberreichte, schon als der Assistent eines stadtbekannten Radiomoderators da gestanden hatte: „Klar spielt er Tapes von unbekannten Bands, wenn ich sie ihm zustecke.“ (Ein Bündel ähnlich harmloser Lügen hatte dem Emporkömmling zuvor die Hospitantenstelle eingebracht.) Rasputin der Erste zahlte seine Leichtgläubigkeit mit einem Platz auf der Gästeliste sowie der Zusendung einer C-20 Demokassette. Als er um die Sojasauce angebellt wurde, hatte er gerade über den Resten einer Frühlingsrolle zusammengesunken eines Schulfreunds gedacht, der inzwischen erfolgreich einen Hundesalon leitete.
Alle anderen aus Medien und Musikindustrie eingeladenen Personen blieben dem Konzert fern. Auszugsweise waren dies:
1.) Der Besitzer eines lokalen Plattenlabels. Er lebte davon, musikalische Lokalmatadore zu bescheißen, zu denen sich Rasputin der Erste mit seiner Band gerne gezählt hätte. Den Abend verbrachte er, indem er erfolglos versuchte, seine Frau zum Schweigen zu bringen.
2.) Eine Radiomoderatorin (die Stimme wie Seide, sonst doof wie Stulle). Sie beschloss einen Bildungsabend einzulegen, guckte sich im Fernsehen eine Quizsendung an und ging früh zu Bett.
3.) Eine Musikjournalistin. Als Rasputin der Erste bei ihr anrief, um sie zu dem Konzert einzuladen, hatte sie gerade den Mut gefunden, sich zur Ader zu lassen. Rasputin der Erste machte der sympathischen Redakteurin mit eindringlichen aber freundlichen Worten klar, dass sie unbedingt das Konzert besuchen müsse, weil „The Rasputins“ die beste Band der Welt seinen. In der Linken die Klinge des Einmalrasierers, mit dem sich die Zeitungsfrau wöchentlich die Beine enthaarte, in der Rechten den Telefonhörer nahm Rasputin des Ersten Gequassel ihr nicht nur das Bedürfnis, sich auch die linke Pulsader zu durchtrennen, sondern bewirkte darüber hinaus, dass der Wunsch in ihr aufspross, weiterzuleben. Während also ihr Journalistenblut das gewundene Kabel des Telefonhörers hinabrann, versprach sie zu dem Konzert zu kommen, und als sie den Hörer einhängte, hatte sie eine Bombenlaune. Sie torkelte ins Bad, schlang einen Verband um ihr Handgelenk, zog einen kurzen Rock an, legte ein aktuelles Exemplar des Stadtmagazins, für das sie arbeitete, auf die Lache zwischen Telefontischchen und Sofa und machte sich auf den Weg in eine Diskothek. Leider wurde sie, als sie aus dem Haus trat, von einem blutrünstigen Yorkshireterrier angefallen, und beim Versuch dem verhaltensgestörten Nagetier auf die Straße zu entkommen, erfasste sie ein vorüberfahrender Tanklastzug, der aber weit gehend unbeschädigt blieb (sie hingegen brach sich einen Nackenwirbel und verlor ein Auge). Just zum Zeitpunkt des Konzerts erwachte die Journalistin auf der Intensivstation des Rudolf-Virchow-Krankenhauses aus dem Koma (natürlich zahlte die Versicherung des Terrierführers keinen Pfennig).
4.) Ein Journalist des Stadtmagazins, das mit dem unter 3.) erwähnten Stadtmagazin in hartem Konkurrenzkampf steht. Der Mann war erst wenige Tage vor dem Anruf Rasputin des Ersten vom Freelance-Schreiber in fest angestellte Position aufgerückt. Die Stelle war frei geworden, nachdem sich sein Vorgänger vergiftet hatte (er war Zeit seines Lebens ein Mann der Tat gewesen). Der frisch gebackene Musikredakteur sagte zu und notierte sich Ort und Uhrzeit des Konzerts der Rasputins, und zwar auf der falschen Seite seines Terminkalenders. Folgerichtig saß er am Veranstaltungsabend in fröhlicher Journalistenrunde beim Leichenschmaus. Eine Woche darauf – am Tag des Kalendereintrags – erschien er pünktlich am Eingang des Kreuzberger Ladens und behauptete auf der Gästeliste zu stehen. Wenn ihm die Band gefiele, so dachte er, würde er über sie schreiben. Der Kerl an der Kasse erklärte dem Journalisten verschlafen, dass er bezahlen müsse, denn sein Name sei nicht auf der Liste zu finden, woraufhin den Berichterstatter eine ihm bislang unbekannte, plötzliche Melancholie überkam. Er berappte schweigend den Eintritt und gehörte damit zu den sechzehn zahlenden Gästen, die einer westfälischen Garagenband lauschten. Im Verlauf der Darbietung kam er an der Bar mit einer leidlich gestörten Westfälin namens Franziska ins Gespräch, zu der er binnen der kommenden Wochen eine vorübergehend ausgeglichene Partnerbeziehung entwickeln sollte. Im Nachhinein begeisterte das kreuzlahme Konzert der Provinzler den Schreiberling in einem Maße, dass er in der nächsten Ausgabe seiner Programmpostille ein halbseitiges Feature über sie durchsetzte. Rasputin der Erste sollte den Artikel neiderfüllt und auf ein ketschupschmieriges Pommesbudenbrett gestützt zur Kenntnis nehmen.
Mona stand an erster Stelle auf der Gästeliste. Sie kam aber auch nicht (Heiwei, was hatte aber nicht Rasputin der Erste für ein abscheuliches Pech).
In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts sorgte abermals ein neues Material für
verbesserte Wirksamkeit. Penislange Glasformen wurden in flüssiges Latex getaucht,
das aufgetrocknet und vulkanisiert wurde. Die Latexkondome waren den alten Gummihauben
in jeder Hinsicht überlegen. Erste Modelle waren noch für mehrmalige Anwendung
vorgesehen, bald aber setzte sich der heute übliche Einweg-Latex-Nuppel durch.
Und hier noch einige Bemerkungen zum Konzert selbst:
1.) Rasputin der Erste entließ ein von gelegentlichen Rülpsern durchknattertes Geschrei, das Philologen als mäßig artikuliert bezeichnet hätten. Das Publikum bestand ausnahmslos aus Nichtphilologen. Es war begeistert. Die Texte hatte sich Rasputin der Erste selbst ausgedacht. Sie waren in einem Idiom gehalten, das er für Englisch hielt.
2.) Die Kompositionen stammten ausschließlich von Rasputin dem Ersten. Es handelte sich um beliebige Aneinanderreihungen von Tonika, Subdominante und Dominante eines pentatonischen Modus, dessen Grundton um den Kammerton a1 pendelte, abhängig davon, wie stramm die Saiten der elektrisch verstärkten Zupfinstrumente gespannt waren. Wiedererkennbare Melodien gab es keine, dafür war aber alles schön laut.
3.) Die Show bestand aus einer Reihung etwa dreiminütiger Phasen angestrengten Lärmens aller Bandmitglieder. Ziel schien, den klanggewordenen Anfall kollektiver Tollheit für die Dauer der Phasen darbieterischer Aktivität möglichst ungebrochen auf einem gehobenen forte fortissimo zu halten, was auch gelang. Das Ende der Kompositionen war daran zu erkennen, dass die Musikanten vorübergehend mit dem Traktieren ihrer Instrumente aussetzten und der Lärm bis auf das Verstärkerrauschen abebbte. Das Publikum teilte den „Rasputins“ daraufhin mittels Gepfeife, Geschrei, Getrampel und Geklatsche kund, dass es die kurze Unterbrechung der kultischen Akustikfolter durchaus zu schätzen wisse.
Also. Die Show der Rasputins hatte etwas von dem Emotionsdschungel, den es zu durchwaten gilt, wenn man in einer regnerischen Novembernacht in einer gürtelbereiften und stoßdämpferlahmen Ford Badewanne von Ulm nach Stuttgart mitfährt, um dort gewisse wirksame Substanzen abzuholen, die an dieser Stelle aufzulisten wohl unnötig sein dürfte. Das Fenster der Fahrertür schließt nicht, und am Steuer hält sich ein seltsam regen- und zugluftresistenter und eigentlich keineswegs nüchterner Rocker fest, der einem nach Fahrtantritt unaufgefordert und haarklein auseinander zusetzen beginnt, von welch garstig’ Dämon er sich besessen glaubt (man braucht allerdings bei Schnitt 163 km/h vom einen hübschen Städtchen ins andere bloß 35 Minuten).
Es wurde viel Bier verkauft (ein gutes Konzert).
„The Rasputins“ waren eine hervorragende Band. Sie waren es nicht aus diesem
oder jenem Grunde, sondern sie war’s: hervorragend (vielleicht taten ihnen ja
bei Bareé-Griffen manchmal sogar die Finger weh). Im Sinne des Musikjournalismus
hingegen waren „The Rasputins“ eine schlechte Band (und „Hermann, Roman“
solltet ihr auch mal lesen).
Schlecht sind für Musikpresse und Rundfunk jene Bands, die vom nächst auflagestärkeren Musikkäseblatt beziehungsweise vom nächst populäreren Radiosender nicht besprochen beziehungsweise gespielt werden. Man meint also nicht das Gegenteil oder wenigstens das Gegenteil vom Gegenteil, und man meint es nicht aus Begeisterung, sondern aus lupenreinem Opportunismus. Würde sich allerdings Begeisterung besser verkaufen, so ginge der Musikjournalist seiner Beschäftigung konsequenterweise aus Begeisterung nach. Begeisterung verkauft sich aber nicht besser, und das ist nur gut so, denn (Zitat): „Wir können ja nur froh sein, dass der Musikunterricht an deutschen Schulen so schlecht ist. Sonst würden sie ja alle Musik machen.“
OK. Der Musikjournalist ist:
M Für handwerkliche und körperliche Arbeit (Proleten) zu ungeschickt und zu faul.
M Für die Universität (Bildungsbürgertum, Akademiker, Intellektuelle und anderes Gesocks) zu blöde.
M Für merkantile Beschäftigung (Dealer, Abzocker, Vermieter und andere Wirtschaftsverbrecher) zu verträumt, zu ungeschickt, zu faul und zu blöde.
Für Wunst zu feige (kein Zitat: Wunst kommt von Wollen. Käme es von Können, hieße es Kunst).
Der Musikjournalist ist an sich Musiker, allerdings hält er den Gedanken, Musiker zu sein – dieser zeichnet einen Musiker bekanntlich aus – für zu abenteuerlich. Der Musikjournalist hat kein Selbstwertgefühl.
Also verschreibt er sich, statt zu musizieren, der Vermarktung dessen, was Musiker zähneknirschend im Rachen der Musikindustrie verschwinden sehen (die Musikpresse ist eine große, unterbezahlte Werbeagentur der Musikindustrie). Indem er sich aber verdingt, gewinnt der Musikjournalist Einfluss auf die Geschicke der Musiker (verträumt, ungeschickt, faul und blöde, wie Musiker sind, glauben sie sich von seiner Gunst abhängig). Umgekehrt proportional zum Mangel an Selbstwertgefühl wird dem Musikjournalisten von seinen Helden der Hof gemacht. Das ist zu viel für ihn. Er möchte sich vom Erdball tilgen.
Am Rande des großen, gepflegten Rasenquadrats bürgerlicher Berufe kauert der Musikjournalist: verarscht, verachtet, grau, die Beine eng geschlossen. Unablässig schielt er hinüber in die Ferne zu den plätschernden Fontainen der Musiker. Die anderen, die Werkzeugmacher, die Wissenschaftler, Politiker, Lehrer und Händler, die Berufenen halt, die auf ihrem Rasen munter eine Cricketpartie nach der anderen durchziehen, interessieren den Musikjournalisten nicht – er wäre lieber Musiker.
Der Berufsgruppe als Ganzer sei Mut zugesprochen, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Der erdkreisumspannende Gesang aus den Mündungen unzähliger Feuerwaffen – ein geiles Konzert – das geilste, das Musikjournalisten je zu Stande brächten (gilt auch für Literaturkritiker, aber logo!).
Freilich war das Rezept für die Erfolglosigkeit der „Rasputins“ entschieden
komplizierter. Doch dient ja das vorstehende Bonsai-Essay zum Traumberuf innerhalb
des weiten Felds der öffentlichen Kulturrezeption nicht der Wahrheitsfindung,
sondern - ähnlich den Produkten des Musikjournalismus’- der Unterhaltung (merke:
Alles dient der Unterhaltung).
Viele Menschen hatten zum ersten Mal Kontakt mit Kondomen, als die männlichen
Mündungsschoner während des zweiten Weltkriegs an die Soldaten der deutschen
und amerikanischen Armee ausgeben wurden. Nach dem Krieg stieg der weltweite
Kondomverbrauch rapide an. In den ersten Nachkriegsjahren dürfte der Qualitätsunterschied
der Produkte verschiedener Kondomhersteller noch beträchtlich gewesen sein,
denn es wurden erst allmählich einheitliche Qualitätsstandards eingeführt (USA
1949, Schweden 1951, Japan 1952, Großbritannien 1964). Versuche, die Pfeifenschoner
aus Plastik herzustellen, schlugen fehl.
In jeder Körperzelle trug Rasputin der Erste mindestens ein Alkoholiker-Chromosom
sowie mehrere Looser-Chromosomen mit sich herum. Einige davon mutierten immer
lustig zwischen Looser-Chromosom und Alkoholiker-Chromosom hin und her. Dazu
bedarf es lediglich einer geringfügigen Änderung der Aminosäuresequenz – einer
viel geringfügigeren Änderung noch als die geringfügige Änderung der Zahlenkombination,
die einen, beim Versuch im Vollrausch die anonymen Alkoholiker anzutelefonieren,
beispielsweise den trostspendenden Anrufbeantworter eines Bestattungsinstituts
erreichen lässt).
Gängigerweise wird angenommen, Persönlichkeit entwickele sich als Folge einer Unterversorgung mit Zuneigung im Kindesalter oder auf Grund eines Mangels an Prügel im Rahmen der Sozialisation oder weil sich irgendein Götze im Off Zeit dafür genommen hat, jemanden zu dem Arschloch werden zu lassen, dass der Betreffende nun einmal ist. Eine besonders haarsträubende Theorie besagt, man könne wählen, was zu tun und was zu lassen sei. Nichts davon ist wahr (merke: Nichts ist wahr).
Jedenfalls hätte die genetische Müllhalde, unter deren Diktat sich Rasputin der Erste durchs Leben bölkte, manch einen von euch kontemporären Wichten frühzeitig dazu angeleitet, sich vom Wickeltisch zu hechten. Also Leute: mehr Respekt bitte! Rasputin der Erste hielt sich wacker. Gelegentlich, wenn er auf der Treppe vor seiner Haustür saß, weil er wieder mal seine Schlüssel verloren hatte, oder weil er so besoffen war, dass er die Tür nicht aufbekam, oder beides, gelegentlich also war er echt stolz auf sich.
Peinlich war am Ende eines Lebensabschnitts angelangt. Das bloße Gefühl, am
Ende eines Lebensabschnitts angelangt zu sein, bedeutet noch nicht, dass sich
das Leben wahrhaft aus Abschnitten zusammensetzt. Vielleicht ist es einfach
nur da und unterliegt überhaupt keinem Wandel, dachte Peinlich. Den Blick in
die Vergangenheit gerichtet, wollte es ihm jedoch nicht gelingen, in seinem
Leben etwas anderes zu sehen, als eine Reihe einander auffolgender Abschnitte.
Peinlich hätte lieber einen amorphen Klops darin gesehen. Das hätte besser gepasst
als diese royalistisch-dekadente Unterteilung in Abschnitte, die beim Emporheben
der Rumkugel Leben vom silbernen Tablett des Daseins so etepetete den kleinen
Finger abspreizte.
Peinlich verweigerte seinem Leben gewissermaßen die souveränstaatliche Anerkennung. Alle wussten es. Gleich hinter dem Zaun fängt sie an. Das wurde nie bezweifelt. Dennoch ignorierte man die DDR, wo es nur ging, während sie (die DDR) nach Kräften versuchte, der BRD (sprich Peinlich) auf die Nerven zu fallen. Er sträubte sich, sein Leben dadurch quasi anzuerkennen, dass er versuchte, sich vorzustellen, wie es verlaufen würde. Irgendwie wird’s schon verlaufen (Peinlich machte sich darum keine Sorgen). Gleich, wie viele Gelegenheiten zur Entfaltung sich seinem Leben auch bieten sollten, von all diesen möglichen Wegen würde es immer nur einen einzigen beschreiten können. Damit war jede Diskussion über den Verlauf seines Lebens hinfällig: Dass es einen anderen als den zukünftigen Weg einschlüge, war schlicht unmöglich.
Jedes Gerangel um die Qualität seines Lebens fiel damit ebenfalls flach. Will man die Qualität einer Sache bewerten, muss man sie zu mindestens einer zweiten in Beziehung setzen – eines ist besser, das andere schlechter. Da Peinlichs Leben aber immer nur einen Weg nehmen konnte und daher zu jedem Zeitpunkt nur einmal vorhanden war, schien der Versuch, über dessen Qualität etwas auszusagen, wenig sinnvoll, denn was nur einmal existiert, kann sich nicht von sich selbst unterscheiden.
Die Cheopspyramide hingegen weiß, dass ihr Grundriss quadratisch ist. Sie weiß zwar nicht, dass ihr Grundriss nicht rund ist, denn sie weiß nicht, was rund ist, weil in ihrer Welt keine Entsprechung für das vorkommt, was üblicherweise mit dem Begriff „rund“ in Verbindung gebracht wird. Dennoch weiß sie, dass ihr Grundriss quadratisch ist. Verständlicherweise teilt sich die Cheopspyramide nicht jedem dahergelaufenen Neckermanntouristen mit, und nebenbei bemerkt gehört schon eine recht stolze Portion Ignoranz dazu, die Cheopspyramide darauf anzusprechen, ob ihr Grundriss rund sei.
Peinlich war Peinlich, und er würde es bis zu seinem Tode bleiben. Wenn er Pech hatte, sogar darüber hinaus. Seine privaten Wünsche – beispielsweise der, sein Leben möge ihm als ein amorpher Klops vorkommen – nahm er nicht ernst. Sie glichen einem inneren Fernsehprogramm, das sich gelegentlich und ohne sein Zutun einschaltete und lautstark Werbespots brachte, die er sich jedoch nicht ansah, da er zur eigenen Überraschung jedes Mal die Kraft aufbrachte, sich aus seinem inneren Fernsehsessel zu erheben und das innere Programm wieder abzuschalten. Private Wünsche waren Peinlich sozusagen peinlich. Sie klingelten ihm in den Ohren wie schlechte Reime. Es war fruchtlos, sich etwas zu wünschen, dass sowieso eintrat oder auch nicht eintrat.
Peinlich war am Ende eines Lebensabschnitts angelangt. Das zwang ihn, sein Verhalten seinem Leben gegenüber in einer Weise zu verändern, wie man beim Hinabsteigen der Treppe eines elend hohen Mietshauses die Fortbewegungsrichtung ändern muss, wenn man auf dem Treppenabsatz angelangt ist und nicht gegen die Wand laufen möchte. Jeder Trottel kann gegen die Wand laufen, dachte Peinlich. Also änderte er die Richtung, um sein Leben einige Meter über die Horizontale zu lotsen, dorthin, wo die Stufen ansetzen, die zum nächst tiefer gelegenen Treppenabsatz führen. Bei Nicht-Seefahrern mag das Verb „lotsen“ den Eindruck hinterlassen, als stünde Peinlich die Möglichkeit offen, sein Leben auch in eine andere Richtung zu geleiten. Diese Möglichkeit bestand: Sie führte mit dem Kopf gegen die Wand. Für Seefahrer gesprochen: Sie führte mit dem Kiel auf die Sandbänke. Zwar fand Peinlich es mühsam, sein Leben zwischen den Sandbänken hindurch die Treppe hinabzulotsen, es kam ihm jedoch nicht mühsam vor, denn er kannte es nicht anders. Stellt man sich vor, dass Peinlich und sein Leben umsichtig eine Treppe hinabstiegen – etwa wie jemand, der einen braven Hund eine Treppe hinablotst, oder wie ein braver Hund, der jemanden eine Treppe hinablotst, oder wie ein Blindenhund, der brav einen Blinden eine Treppe hinablotst, oder wie ein braver Blinder, den ein blinder Hund brav eine Treppe hinablotst –, so ist man auf dem Holzweg. Peinlich hätte es gewiss begrüßt, wenn sein Leben so folgsam gewesen wäre, doch nein, es trat und biss nach ihm, was Peinlich wiederum für den Normalzustand hielt und ihn langweilte. Meist war sein Leben störrisch und wollte nicht weiter, dann wieder drohte es, ihn über den Haufen zu rennen. Peinlichs Leben war etwas größer als er (der Vergleich mit dem blinden Hund lahmt also – wir empfehlen, sich Peinlichs Leben als neurotischen Paarhufer vorzustellen). Peinlich lief rückwärts. Er musste darauf Acht geben, nicht gebissen und getreten zu werden. Auch dies hielt er für den Normalzustand. Wollte sein Leben nicht weiter, so zerrte Peinlich es an einer Leine hinter sich her. Machte es hingegen Anstalten, über ihn hinwegzugaloppieren, schlug er ihm mit einer Gerte auf die Nase. So stiegen die zwei die Treppe hinab. Sie folgten einander und wichen einander aus, wobei belanglos ist, wer wem folgte oder auswich, denn beide waren voneinander abhängig, wie jemand von etwas oder etwas von jemandem nur abhängig sein kann. Stockwerk um Stockwerk strebten sie dem Erdmittelpunkt entgegen. Das tun viele Dinge. Aber davon hatte Peinlich keine Ahnung. Aus seiner Sicht sah alles ganz anders aus. War’s aber nicht. Es sah nur anders aus.
Jedenfalls hätte Peinlich in seinem Leben lieber einen amorphen Klops gesehen, einen durchgehend blöden Knödel, den er platt klopfen, zusammenrollen und bei Bedarf in der Manteltasche verschwinden lassen konnte. Peinlich konnte sein Leben leider nur als ein ziemlich sperriges Etwas fassen, das obendrein in Abschnitte unterteilt schien und sich unter allen Umständen dagegen wehren würde, platt geklopft, zusammengerollt und in die Manteltasche geschoben zu werden.
Also arrangierte sich Peinlich mit seinem Leben. Natürlich blieb er misstrauisch, aber diese Denkungsart findet sich oft unter Freunden. Wie unendlich homogen muss doch der Tod sein, seufzte Peinlich und drosch seinem Leben mit einer Gerte zwischen die Augen. Dennoch: Er wollte besser nicht versuchen, es irgendwo auf der Treppe zurückzulassen. Bei dem neu anbrechenden Lebensabschnitt schien es sich, um den besonders nervtötenden Nachfolger des vorausgegangenen zu handeln.
Die Verpackung sollte vorsichtig geöffnet werden, da der Replikationsbremsgummi
Gefahr läuft, an der Risskante des Verpackungsmaterials einzuschneiden. Einmal
über den Ladebaum abgerollt, sollte die sensible Latexmembran keine Falten schlagen.
Für die Motschka muss im oberen Bereich entsprechender Platz vorhanden sein.
Man drückt die Luft aus dem Reservoir, setzt an und rollt vorsichtig über den
Rammsteven ab. Jemand, der sich außer Stande sieht, ein Kondom ordnungsgemäß
anzulegen, ist vermutlich so besoffen, dass er kaum aufrecht zu sitzen vermag.
Bahnt sich trotz (oder gerade wegen) dieser Verfassung ein Geschlechtsverkehr
an, so sollte sich der Betroffene helfen lassen.
Carlo war klein und durchscheinend. Er hatte die Form einer kopfstehenden Birne.
Zur Seite ragte eine Membran aus ihm hervor, die von seinem Scheitelpunkt hinab
bis auf die Höhe seines größten Umfangs reichte. Diese Membran konnte er in
Wellenbewegungen versetzen. Nach unten hin ging sie in ein Schwänzchen über,
das Axolyt genannt wird. Außerdem setzten an Carlos Scheitelpunkt vier Geißeln
an. Diese ähnelten dem Axolyt, waren jedoch erheblich länger und darüber hinaus
beweglich. Indem Carlo mit seinen Geißeln ruderte, seine Membran in schwirrendes
Wedeln versetzte und mit dem Körper wackelnde Bewegungen ausführte, konnte er
sich in der umgebenden Flüssigkeit fortbewegen. Dabei rotierte er um die Längsachse.
Das lag in der Familie.
Carlo gehörte dem Geschlecht der Protozoen an und war ein Flagellat. Sein vollständiger Name lautete Carlo di Trichomonas vaginalis. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass der Name des Orts, den er bewohnte, darin enthalten war.
Zwischen den Menstruationsblutungen durchwanderte er Monas Scheide einmal der Länge nach. Diese Strecke hatte ihm bereits während seiner Jugendzeit einiges an Durchhaltevermögen abverlangt. Indem Carlo wanderte, bewies er sich, dass er nicht zum alten Eiweiß gehörte. Unterwegs erinnerte er sich seiner Erlebnisse oder stellte philosophische Betrachtungen an. Oft genoss er auch in schlichter Gemütsergötzung das muntere Treiben in seiner Heimat. Hier wurde er von einer Horde Mycobakteriæ smegmates gegrüßt, dort erfreute er sich des Anblicks einer perlschnurförmigen Reihe kindischer Peptostreptokokken, die sich in albernem Ringelpiez aneinander festhielten. Ja, beim Wandern lagen Sinneslust und Disziplin auf wunderbare Weise im Einklang.
Mit gleichmäßigen Schwimmzügen ruderte Carlo an einem quaderförmigen Spross aus der Familie der Poxviren vorüber. Ehrfurchtsvoll unterbrach es die Zersetzung einer Döderleinschen Bazille und rasselte anerkennend mit den Molekülketten. Ein jeder spürte, dass es besser war, Carlo zu grüßen und unbehelligt weiterziehen zu lassen, als ihn aufzufressen.
Carlo war kein König oder Kaiser und auch kein Häuptling. Das Weltgefüge, in dem er lebte, bedurfte solcher Amtmänner nicht. Er war weder Bürger noch Diktator, und er war niemandem leibeigen, sah man einmal von seiner Wirtin ab, der gewissermaßen alles gehörte: die Zellen, der Schleim, die allmonatlichen Fluten von Blut und das Stückchen Unterhose, das am äußeren Rand seines lang gestreckten Biotops bisweilen zwischen den inneren Labien aufschimmerte. Mona gehörte alles, was es gab.
Eine Vorstellung vom Spiel der Kräfte in seiner Heimat zu entwickeln, war Carlo schwer gefallen. Es hatte lange Zeit gedauert, bis er eine Sichtweise gefunden hatte, die ihm Ruhe, Zuversicht und inneren Frieden spendete. Je weniger versucht wurde, seine Welt zu verwirren, desto stabiler verhielt sich ihre Unordnung und desto geringer war das Leid derer, die dort lebten. Jede Aggression störte das gesunde Chaos. Ob sich beispielsweise übermütige Torulopsis glabrata in der Harnröhre ansiedelten und dort maßlos Sporen trieben, oder ob sich Mona zwischen den Beinen wusch, war letztlich einerlei.
Gegenwärtig ging es in Monas Vagina eher beschaulich zu. Während einer den anderen verschlang, wurde der Meuchler von einem dritten phagozytiert, dessen Zellwand unterdessen von einem vierten durchbohrt wurde. Die einen prassten, während andere Mangel und Hunger litten. Es gab massenhaft Zellteilung, Unterjochung, Volksfeste und Epidemien. Doch im Vergleich zu dem, was Carlo bereits zweimal hatte erdulden müssen, war dies friedvoll.
Er erreichte den Rand des wärmenden Scheidenepithels. Bis hier hatte sich Carlo fürs Erste zu wandern vorgenommen. Die hinter ihm liegende Etappe hatte ihn ermüdet. Er umschlang seinen Körper mit den Geißeln und legte sich zur Ruhe.
Bald nachdem die Trichomonade, bei deren Teilung er in Leben getreten war, sich von ihm losgelöst hatte, war schon der erste Antibiotikakrieg über Carlo hereingebrochen. Damals hatte er zwischen zwei Bindegewebszellen versteckt ausgeharrt. Vor Hunger und Erschöpfung kaum fähig, noch eine Geißel zu bewegen, war er lange nachdem Mona die Behandlung abgesetzt hatte aus seinem Versteck hervorgekrochen. Seine Heimat war in einen gewaltigen Friedhof der Einzeller verwandelt worden. Die Überlebenden waren mutlos. Etliche siechten und starben qualvolle Tode. Die wenigen Nachkommen entwickelten sich kläglich. Langsam nur kam der geschundene Rest von Monas einst blühender Vaginalflora wieder zu Kräften. Klein Carlos Seele aber war gebrochen, bevor sie sich hatte entfalten können.
Während Bakterien, Pilze und Viren zu den Pflanzen gezählt werden, stellte er als Protozoon ein Zwitterwesen zwischen Tier und Pflanze dar. Unablässig glaubte Carlo seine Andersartigkeit zu spüren. Das Gros der Mikroben war unfähig, sich aus eigener Kraft fortzubewegen. Carlo wuchs heran und bald übertraf sein Leibesumfang selbst den der weißen Blutkörperchen. Er empfand sich komplexen Organismen wie Mona entwicklungsgeschichtlich näherstehend als den Kreaturen seiner ungefähren Größe.
Das jugendliche Erlebnis des Kriegs hatte sein Gemüt erschüttert. Er fühlte sich gedemütigt, weil Mona seine Einzigartigkeit ignoriert und ihn den anderen Wesen seiner Welt gleichgestellt hatte. Nur zu gern hätte Carlo ihr verziehen, denn in der Tiefe seines Zellkerns liebte er sie. Leider wusste er nicht, wie er Monas Bekanntschaft machen sollte. Wenn es ihm nur gelungen wäre, ihre Aufmerksamkeit zu wecken! Gewiss hätte sie dann auch mehr Respekt für ihn gezeigt. Vielleicht wäre sie sogar seine Freundin geworden? Doch Mona war zu groß und Carlo war zu klein.
Als Carlo nach dem zweiten Antibiotikakrieg in beschämter Pose erneut auf eine Unzahl hinweggeraffter Mikroorganismen hinabblickte, dämmerte ihm, dass er zumindest versuchen sollte, alle Wesen zu lieben. Man sollte ihm das nicht vorwerfen: Schließlich war Carlo bloß eine Trichomonade. Sich Mühe zu geben, dass es überzeugend wirkt, war das Beste, was er hatte tun können. Nach kurzer Besinnung gab Carlo dann einfach vor, alle Wesen zu lieben. Das war geschickt von ihm. Eine dritte Antibiotikabehandlung hätte er nicht überlebt.
Begriffen zu haben, dass man lieben sollte, ist grundverschieden davon, zu lieben. Carlo hatte die Wesen seiner Welt nicht zwischen den Kriegen geliebt, und er tat es nicht danach. Im Gegenteil, er verachtete sie – es war ihm ein tiefes Bedürfnis. Der Grund hierfür schien Carlo darin zu liegen, dass er sich in Monas Scheide ausgeliefert fühlte. Doch: War es nicht natürlich, dass ein Trichomonas vaginalis jederzeit von seiner Wirtin ermordet werden konnte? Nein, befand Carlo, auf diese Bedrohung musste seine Psyche eingerichtet sein. Offensichtlich aber war sie es nicht. Also grub sich allmählich die fixe Idee von einer angeborenen Existenzuntüchtigkeit in ihn ein. Etwas Böses hatte von ihm Besitz ergriffen und würde ihn peinigen, solange er lebte. In der Verachtung, die er für seine Mitwesen empfand, sah Carlo den Beweis dafür.
Nach dem Elend der zweiten Niederlage hatte eine Aura von stiller Weisheit und dezenter Größe Zukunft. Aristokratie war in, Adel en vogue. Carlos bisheriges Image hatte ausgedient. Er stülpte seiner Geisteshaltung eine allumfassende Gleichgültigkeit über und schuf sich das Charisma eines bei Bakterien, Viren und Pilzen gleichermaßen hochgeschätzten Regenten oder Staatsmanns. Freilich war Carlo weder Regent noch Staatsmann, doch verbreitete er das Flair, gelangweilt über dem gemeinen Volk zu stehen. Das gemeine Volk liebte es, dass sich jemand über es stellte. Wo immer Carlo auftauchte, ging Bewunderung um. Wagte man, ihn um Rat zu bitten, so gab er vieldeutige Aphorismen von sich, ganz als überbeanspruche man seine Güte und störe ihn bei wahrhaft wichtigen, ernstzunehmenden Gedanken. Wäre bekannt geworden, was tatsächlich in ihm vorging: Man hätte ihn zum Gegenstand einer deftigen Mahlzeit gemacht. Dennoch waren seine Überlegungen keineswegs schlecht, falsch, boshaft oder gemeingefährlich. Sie waren lediglich überflüssig. Er aber sprach nicht aus, was er dachte.
Carlo gab sich nunmehr überzeugt, dass das Wissen um die Gefahr einer Apokalypse von weit schlimmerem Ausmaß als der vorangegangenen Kriege fest in seinem und den Zellkernen seiner Mitwesen verankert sei. Ginge jeder bescheiden seinen Bedürfnissen nach, hielte man dabei die natürlichen Grenzen ein, ernährte und vermehrte man sich maßvoll und vermied man, Monas Schleimhäute über Gebühr zu reizen, so war die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Götterdämmerung durch Antibiotika gering. Selbst die Jugendlichen, welche die Schrecken der Kriege nicht erlebt hatten, sollten das begriffen haben. Jeder bleibe ruhig und besonnen und sei den anderen ein Vorbild.
Nach außen hin lebte Carlo von wertlosen Molekülen, die er durch seine Zellwand aufnahm. Wähnte er sich hingegen unbeobachtet, so riss er sein Zytostoma sperrangelweit auf und verschlang eine leckere Mikrobe. Die Erinnerung an den Hunger seiner frühen und mittleren Jahre saß tief. Ständig drängte es ihn, sich für kommende Zeiten eine Reserve anzufressen. So genehmigte sich Carlo weit mehr, als erforderlich gewesen wäre. Längst hatte er es zu ungesunder Leibesfülle gebracht. Carlo kam sich fett und unersättlich vor. Ohne Unterlass quälte ihn ein schlechtes Gewissen. Dann suchte und fand er in der Friedfertigkeit, die man ihm entgegenbrachte, den Beweis dafür, dass er eine liebenswerte Kreatur sei. Letztlich schienen sein Verhalten und sein bisheriger Lebensweg richtig gewesen zu sein. Carlo glaubte, wie man ihn behandele, habe damit zu tun, wie er sei. Doch wie gesagt war er bloß eine Trichomonade.
Bald nach dem ersten Krieg war der jugendliche Carlo zu ausgedehnten Reisen aufgebrochen. Er hatte seine Heimat von Monas hinterem Scheidengewölbe bis an den unmittelbaren Rand ihrer inneren Labien durchstreift. Schon damals fand er sich den formunbeständigen Ureaplasmen, den arbeitsscheuen Herpes Simplex Viren, den lächerlichen Donovaniæ granulomates, eigentlich allen Parasiten, die in seiner geliebten Heimat stoffwechselten, überlegen. Carlo fühlte sich höher stehend als diese „Pflanzen“, wie er sie insgeheim titulierte. Er dachte über sie nach, und bald kannte er ihre Wünsche und Sehnsüchte.
Damals schien ihm die Welt einzig in der Vorstellung schön. Carlo wünschte sich, dass sie von hehren Idealen durchformt sei. Alles Chaotische und Schwache, alles, das unkontrolliert Gestalt angenommen hatte, widerte ihn an. Die Wirklichkeit kam ihm krank vor. Er fragte sich, warum es das Schwache überhaupt gab, und kam zu dem Schluss, dass sich die Überlegenen den Existenzanspruch der Unterlegenen nicht länger durften bieten lassen. Das Schwache existierte zu Unrecht. Erst ein endgültiger und unumstößlicher Sieg des Überlegenen machte wahres Glück möglich. Davor aber stand der Kampf. Carlo beschloss, sich und seine Welt zum Sieg, das heißt ins Glück zu führen. Alle Wesen hatten seinen Vorstellungen zu entsprechen. Was er sich einzubilden vermochte, meinte er verwirklichen zu können. Seine Ideen gingen ihm über alles.
Die verbreitete Bitterkeit über das Leid des ersten Kriegs diente Carlo als Mittel, Monas Vaginalpopulation aufzuwiegeln. Er verstand es, die Begeisterung der Masse zu entfesseln. Hilflos saßen sie seinen Phantasmen auf. Nach seinen Hetzreden blickte Carlo hinab auf die Scharen von Mikroorganismen und badete in ihrem Jubel. Im Stillen aber fürchtete ihn die Masse. Carlo kannte ihre Angst. Einst hatte er sie selbst verspürt. Doch andere ideologisch zu infizieren, linderte sein eigenes Leid unter dem Joch seiner Ideen. Sie durchzusetzen, machte es ihm erst erträglich, diese Ideen überhaupt in sich zu tragen.
Carlo scharrte gewissenlose Kumpane um sich: ein Verband Neisseriæ gonorrhoe – aggressive nierenförmige Diplokokken, die in Paaren aneinander haften, und vor denen es ihm eigentlich graute, weil sie sich in ihrer Boshaftigkeit gegenseitig zu übertreffen suchten – sowie eine vor nichts zurückschreckende Bande Treponema pallidum – fiese Bakterien in Form lang gestreckter Spiralen, die zur Fortbewegung aus eigener Kraft fähig waren. Carlo schwor diese Wesen auf sich ein und baute mit ihrer Hilfe einen Polizeiapparat auf, der alles kontrollierte. Wer Kritik übte oder sich widersetzte, wurde phagozytiert.
Bis zum zweiten Krieg – und unter geänderten Vorzeichen auch danach – glaubte Carlo, der Einzige zu sein, der unter den Ausgeburten seiner Einbildungskraft leide. Vor allem aber glaubte er sich mit dem tiefsten und verstecktesten seiner Wünsche allein. Carlo empfand diesen Wunsch als persönlichen Makel, ja als Frevel: Zu gern hätte er ein stilles und unauffälliges Leben geführt. Er schämte sich dafür und fürchtete, ausgelacht zu werden. Er fürchtete sich so sehr, dass er diesen innigsten Wunsch nicht einmal mehr zu spüren wagte.
Damals war Carlos Plan, aus Monas Geschlechtstrakt auszubrechen und sich in einem beispiellosen Eroberungsfeldzug in ihrem Körper auszubreiten. Unter Carlos baumeisterlicher Anleitung setzte Monas illustre Vaginalflora zu dem Experiment an, aus der wirklichen Welt heraus eine Brücke in die Welt ihrer Vorstellung zu schlagen und diese in wahrhaft halsbrecherischem Transit zu überqueren. Man wollte Monas Darm, ihre Leber, ihr Herz und ihr Gehirn. Man wollte sie im Sturm nehmen, um endlich von ihr bemerkt zu werden. Die vaginale Katastrophe war nicht mehr abzuwenden.
Noch am Tage bevor Mona zu ihrem zweiten Antibiotikaschlag ausholte, krächzte Carlo über den Scheidenvorhof: „Wollt ihr die totale Infektion?“ Und aus Millionen Zytostomen drang es, so laut, dass die Vulva erbebte: „Geil! Geil! Geil!“
Und dann brachen sie eine Seuche vom Zaun, einen gelblich schäumenden und atemberaubend stinkenden Ausfluss, so fürchterlich, dass Mona sofort überzeugt war, ernsthaft erkrankt zu sein. Sie suchte umgehend einen Arzt auf, der verordnete Antibiotika, und der Untergang von Carlos widerwärtigem Ideenwahn war besiegelt.
Nachdenken, sich erinnern – Carlo liebte es. Hin und wieder allerdings verspannte er sich dabei, denn er glaubte, weil er seine Welt reflektieren könne, trüge er Verantwortung für sie. Möglicherweise war ja sein Intellekt nichts als eine Laune der Natur? Zuweilen schien es ihm fast möglich, dass er auch ohne selbstbewussten Denkapparat hätte existieren können.
Wie schön es doch war, ausgeruht zu sein, und der herausfordernden Etappe einer langen Wanderung entgegenzublicken. Carlo reckte seine Geißeln und machte sich auf den Weg.
Zunächst umrundete er eine grazile Fussel. Unweit davon war eine Anhäufung stäbchenförmiger Clostridien damit beschäftigt, Proteine zu spalten. Als sie Carlo bemerkten, unterbrachen sie ihre Arbeit und applaudierten voller Begeisterung mit ihren trommelschlegelförmigen Sporen. Der Nimbus von geistiger Größe und Reife machte Carlo unantastbar.
Er war zu klein für Mona, das hatte er einsehen müssen. Doch gab es wahrhaft keine Möglichkeit ihr ebenbürtig zu sein?
Eine hilflose Hæmophilius ducrei, die gerade von einem Zytophagen gefressen wurde, kreuzte seinen Weg. Carlo versicherte sich, nicht beobachtet zu werden, und verschlang gleich alle beide. Dann erinnerte er sich, dass er sich als Denkzelle und nicht als Fresszelle verstand, und schämte sich seiner unrechten Tat.
Vor seinem innerem Auge erstrahlte der Tempel seiner Persönlichkeit. Nicht durch Empfindung und Träumerei, nicht durch Macht und Sieg, nein, einzig vermittels seines Intellekts würde er sich zu einem Wesen erhöhen können, das Mona ebenbürtig war. Während er auf dem weiten Fundament seiner Erlebnisse und Erfahrungen betete, spannte sich über ihm sein Intellekt auf: als wunderbares, von kunstvollen Säulen getragenes und mit Figuren verziertes Satteldach. Ja, es gab einen Gott. Dieser Tempel konnte nur das Geschenk eines Gottes sein.
Doch immer wenn sich Carlo klar machte, dass er würde sterben müssen, verschwand das erhabene Gefühl wieder, das ihn beim Reflektieren seiner Persönlichkeit ergriff. Hätte er sich die Erlebnisse und Erfahrungen, all die Mühen und Anstrengungen etwa ersparen können? Sollte dies alles unwiederbringlich hinweggerafft werden? War all das Leid umsonst gewesen? Die Vorahnung des Unvermeidlichen ließ Carlo die Zellflüssigkeit in den Mitochondrien stocken. Jeder Tod ist der Tod eines Trottels, versuchte er gegen seine Furcht anzulachen. Aber bevor noch der letzte Lebensfunke aus ihm gewichen sein würde, sollte ihm sein geliebter Intellekt entrissen werden. Keine der trauten Figuren, nicht die Erinnerung an eine der Säulen seines heiligen Tempels würde er mit sich nehmen dürfen. Er würde verblöden – zum Henker! - und schließlich, unfähig sich des eigenen Namens zu erinnern, verrecken. Den Tod fürchtete Carlo nicht. Was er fürchtete, war die Kadenz dessen, wofür er sich selbst erachtete, hinab zu dem, was er für einen Sterbenden hielt.
Als Carlo des Wegs ruderte, unterbrach sich ein weißes Blutkörperchen höflich dabei, ein Calymmatobakterium in sein wabbeliges Zellplasma einzuschließen.
Musste nicht zwischen dem, was er sich unter Existenz vorzustellen vermochte, und dem, was an Existenz überhaupt möglich war, ein grundsätzliches Missverhältnis bestehen? Doch einzig aus einem Fehler bei der Anpassung seiner Seele an die Wirklichkeit konnte eine Unzufriedenheit mit der eigenen Existenz erwachsen sein. Aber worauf sollten seine Bemühungen ausgerichtet sein, wenn das Leben tatsächlich ungeordnet, ziellos und chaotisch war?
Der Anblick einer Gruppe lebensfroher Listerien lenkte Carlo im Strom seiner Gedanken ab.
Oder wurde Wirklichkeit erst dadurch wahr, dass man sie sich vorstellte?
Eine Abteilung Chlamydiæ trachomates, an der Carlo vorüberruderte, nahm hochachtungsvoll Haltung an.
Nein, mit eisernem Widerstand wollte er sich dem unvermeidlichen Los entgegenstemmen. Woran aber würde er sich klammern können, wenn es ans Sterben ging? Welche kraftstrahlende Quintessenz war geeignet, die dahinschwindende Zeit seiner Glorie bis zu letzten Moment in ihm wachzuhalten?
Carlo di Trichomonas vaginalis wackelte auf Monas Muttermund zu. Er wackelte, und er rotierte.
Vielleicht war ja die Lösung zu all diesen Fragen ganz einfach? Vielleicht bedurfte es nur, sich aus dem metaphysischen Sumpf zu erheben und sich wieder den Erinnerungen zuwenden? Vielleicht war alles so simpel? Hätte Carlo vor Rührung über sein Lebensglück eine Träne hervorbringen können, er hätte sie geweint.
Und dann wurde er von einem riesenhaften, in allen Farben schillernden, einem monströsen, brüllenden, einem alles mit sich reißenden, von giftgasgleich spermizidem Gestank umwaberten und hinter einer feisten Kondomwand furchterregend pulsierenden Penis gegen das Epithel geschleudert. Seine Geißeln und ein Großteil seiner Membran rissen dabei ab. Der gigantische Lindwurm wütete, fuhr entfesselt hin und her und rieb eine Unzahl von Mikroben zu Tode. Noch kurz bevor Carlos Zellkern platzte, betete das, was zu diesem Zeitpunkt noch von ihm übrig war, zur heiligen Idee vom ewigen Dasein in der Geborgenheit von Monas Muschi.
Menschen treten in gegensätzlichen, trotz wesenhafter Zusammengehörigkeit unvereinbaren
Formen als Exemplare männlichen und weiblichen Geschlechts auf. Erstere werden
Männer, letztere Frauen genannt. Sie unterscheiden sich deutlich im Aufbau ihrer
Geschlechtsorgane.
Schwarze erkennt man an ihrer dunkelbraunen oder schwarzen Haut. Weiße sind rosafarben, so wie Hausschweine. Schwarze haben eher die Farbe von Wildschweinen.
Geht der Unterschied zwischen Männern und Frauen, wie auch der zwischen Schwarzen und Weißen über das Physische hinaus?
Eine wissenschaftliche Studie zu dieser Frage hielte eine Reihe arbeitsloser Akademiker zumindest zeitweise davon ab, noch größere Dummheiten zu begehen, als ihre Kenntnisse in eben diese Studie einzubringen. Das Ergebnis wäre mit Sicherheit ein Haufen bedrucktes Papier. Kurz und knackig zusammenfasst könnte der darauf ausgewalzte Inhalt lauten: „Schwarze tanzen lieber, während Weiße lieber schweigen, und Männer angeln lieber, wohingegen Frauen lieber bügeln“. Denkbar. Ein wissenschaftsverherrlichender Artikel in der größten deutschen Illustrierten, der beschreibt, wie es zu dieser Offenbarung kam, würde gewiss Abertausende von Lesern für eine Weile von ihren persönlichen Problemchen ablenken.
Jeder Verkündung des Ergebnis’ einer Studie, deren zu Grunde liegende Wissenschaft sich auf bloße Erfahrung stützt, gehört die Formel „Im Allgemeinen“ vorangestellt, denn die darin getroffenen Aussagen sind für den Einzelfall keineswegs zwingend – allerhöchstens sind sie wahrscheinlich. Was verkündet wird, ist also nicht notwendigerweise wahr. Im Hinblick auf die Wahrheitsfindung ist der Wert einer solchen wissenschaftlichen Studie daher mit seinem bloßen Unterhaltungswert identisch. Zum Glück hat sich das bei den Damen und Herren Wissenschaftlern noch nicht herumgesprochen, weshalb sie (im Allgemeinen) zu den besseren Unterhaltungsliteraten gehören (übrigens gemeinsam mit jenen, die amtliche Formulare verfassen).
Mit anderen Worten: Verallgemeinerungen sind heikel. Immer besteht bei Verallgemeinerungen die Gefahr, jemandem Unrecht zu tun. Jemandem Unrecht zu tun, ist unfair, daher sind Verallgemeinerungen heikel. Dennoch sind Verallgemeinerungen ein Quell ständiger Freude. Merkwürdig, ne?
Mäße man der erwähnten wissenschaftlichen Studie also einen Wert bei, der über ihre bloße Eignung zur Befriedigung unschuldiger Vergnügungssucht hinausgeht, so ließe sich wie folgt ins Blaue theoretisieren:
Judith F. (31), schweinchenrosahäutige Zahnärztin mit Sommersprossen, bügelt lieber, als zu angeln, und am liebsten schweigt sie. Voilà: falsch! Schon täte man der süßen Judith Unrecht! Am liebsten tanzt sie nämlich, wenn auch schlecht. Angeln findet sie zehnmal besser als plätten, obwohl sie beides, im Vergleich zu bohren, noch ärgerlicher findet als den karierten Faltenrock, den sie von ihrem bekloppten Freund zum zweiten Staatsexamen bekommen hat. Oder Malcolm Port-McRover (41), negroider Dozent für Grönländisch an der Universität von Reykjavik, der von seinen Studenten auch „Raksuga“ genannt wird, was ins Deutsche übersetzt „Staubsauger“ bedeutet. Er habe zu Angeln und Bügeln und dem ganzen Kram keine Meinung. Schweigen finde er genauso überflüssig wie tanzen, und wir sollten besser nach nebenan gehen, Zimmer 212, Nils Runadottir, Dozent für Altnordisch, der sei doch schon vor zwei Jahren bei der Sache mit den Stinkheringen dabei gewesen und würde sich gewiss auch auf diesen ausgemachten Blödsinn wieder einlassen. Über Frauen, Schwarze, Männer und Weiße kann man alles Mögliche behaupten: alles Mumpitz! Wer sich mit beseelter Materie einlässt, kommt darin um. Gedankenfreiheit gibt’s nur ohne Wirklichkeitsbezug. Mahalia Jackson als Tuttibratscherin im Berliner Philharmonischen Orchester unter Herbert von Karajan ist genauso denkbar wie Freddy Mercury als Türsteher beim Treffen eines radikalfeministischen Black-Panther-Ablegers in der Bronx. Theorie und Praxis. Plätten und Angeln. Dig it!
Beim Menschen findet sich das Geschlechtsorgan am unterer Rumpfende, mittig, etwas nach vorn gewandt, ungefähr dort, wo der Arsch aufhört und die Beine anfangen. Männer kennzeichnet ein schlaff herabhängendes oder versteift abstehendes, zylindrisch-schlauchförmiges Organ, an dessen Wurzel die Haut zu einem Sack erweitert ist, in dem zwei weitere Organe lose herumbaumeln. Bei Frauen hingegen findet sich an dieser Stelle eine von Hautlappen überdeckte Öffnung. Im Rumpfinneren von Frauen erstreckt sich ein System röhrenförmiger Gängen und dehnbarer Hohlräume, deren Verlauf zu kennen für den erfolgreichen Vollzug eines Geschlechtsakts nicht erforderlich ist. Wissenswert ist lediglich, dass sich der zylinderförmige Teil des männlichen Geschlechtsorgans in den Eingangskanal schieben lässt, der in die betreffende Dame führt. Aber Vorsicht! Unweit findet sich ein zweiter Eingang, der ins Verdauungssystem führt. Der korrekte Geschlechtsakt besteht darin, dass das männliche Geschlechtsorgan für einige Sekunden bis Stunden in dem weiter vorne liegenden Eingangskanal hin- und herbewegt wird, wobei die Beteiligten eine rauschhafte Erregung überkommen kann, die in der Regel als angenehm empfunden wird. Mit dem Geschlechtsakt können Gefühle von Zuneigung einhergehen, auf die allerdings auch verzichtet werden kann.
In einer Welt, in der die Evolution beim Überqueren der Straße noch nicht von den eigenen Kindern und Kindeskindern mit Eisenkrampen beschossen wurde, damals, als sie noch nicht so verbiestert war, von wegen der Intoleranz und Respektlosigkeit, mit der sie zu behandeln über die jüngsten Jahrtausende in Mode gekommen ist, früher also, als sozusagen mehr Lametta war, zur Zeit eines rein ideellen Damals also, da wurde die Lust am Vögeln und die Zeugung noch auf einem Teller serviert. Der herzenskalte Hochsicherheitsfick existierte nicht, weil niemand auf die seelenlose Idee kam, ihn zu exerzieren. So m u ß es gewesen sein. Inzwischen ist die Evolution eine Runzelomi, die knirschend hinter den rasanten Wucherungen des Denkapparats der Hominiden neuester Zeit herradelt (Spitzengeschwindigkeit 12 km/h).
Konfirmanden lernen, dass der Herrgott ziemlich alt ist – vermutlich, weil sich so sein offenkundig zerrütteter Geisteszustand besser entschuldigen lässt. Beide, Evolution und Herrgott, sind letztlich Modelle, aber das führt zu weit.
Halbseidene MittelinksschwätzerInnen nehmen beruhigt zur Kenntnis, dass sich der überirdische Führungskader streng nach der Quotenregelung zusammensetzt. Obwohl ER gewohnt ist, dass alles so läuft, wie von IHM befohlen (vergleiche 1. Buch Moses, Kapitel 1, Vers 3), ist das Handeln des Kaders nicht von patriarchalischen Prinzipien bestimmt. SIE gibt ihrem Alten nämlich Saures. SIE sät fleißig Unbill und schreckliche Mutationen. ER hingegen hat sich schon seit knapp zweitausend Jahren nicht mehr getraut, einen Werbevertreter zu schicken. Wahrscheinlich fürchtet seine Lordschaft, der Knabe würde gelyncht, bevor er den Mund aufmacht oder die Hand zum Gruße hebt, und möglicherweise ist diese Furcht nicht einmal unbegründet. Warum schickt er nicht zur Abwechslung mal ein Mädchen? Wo sie die wohl antackern würden? Oder ER fürchtet, dass jemand ein Videoclip vom frühen Ende seines kreuzschleppenden Leptosomen drehen könnte. In einschlägigen Szenebars käme es dann selbstverständlich in Mode, sich allsamstäglich über den Messias-gibt-den-Löffel-ab-Clip scheckig zu lachen. Während die Träger zeitgenössischer Jugendkultur dann Sonntagmorgens mit abklingenden Promille in ihre Betten sabbern, ertappen sich randständige Gestalten (die unverdrossen lieber langatmige Scharteken lesen, statt astreine Videos zu gucken) dabei, aus Mitleid mit einem senilen Götzen in die Kirche zu gehen. Gott und Evolution – betrachten wir die zwei als unter dem Siegel der heiligen Ehe vereint.
IHNEN geschieht Recht! Der gemeinsame Fehler unseres Herrscherpärchens fiel solange nicht auf, wie sich Menschen bei der Herstellung und Anwendung von Verhütungsmittel dusselig anstellten. Einst führte nämlich eine durchvögelte Vollmondnacht mit gehobener Wahrscheinlichkeit zu einer Schwangerschaft. Warum ist das heute anders? Warum diese blödsinnige Konstruktion von Lust beim Samenerguss? OK. Bei den Damen mag noch der eine oder andere ungespritzte Abflug hinzukommen. Aber warum ist es nicht die Zeugung, die den Spaß bereitet? Warum? War denn dies die einzige Möglichkeit, die Menschenwesen dazu zu bringen, sich zu paaren? Hätten nicht göttlicher Wille und natürliche Zuchtwahl eine weniger mittelbare Belohnung für das schweißtreibende Rumgemache ersinnen können? Es gehört ernsthaft erwogen, ob sich hier ein sinnvoller Ansatz für eine kontrollierte Manipulation am menschlichen Erbmaterial bietet. Wir wissen doch selbst am besten, was gut für uns ist. Die Zeit ist gekommen, sich von diesen zwei verkalkten Stümpern zu befreien, die an jedem Dackel, jeder Stubenfliege, jedem Grashalm einen besseren Job gemacht haben als an uns. Danke.
Doch nein, kein dünnes Klopfen über den Bänken. Diese Zeiten sind lang vergessen. Man rekelt sich. Zwischen den Sitzreihen keimt Geschnatter auf, während Taschen und Rucksäcke mit Schreibwerkzeugen und Kollegblocks gefüttert werden. Die wesentlichen Notizen auf den karierten Seiten sind filigrane Bleistiftzeichnungen: Aus dem Inneren der Quadrate des karierten Papiers kritzeln feine Linien gegen die von außen näherrückende Langeweile an. Und obwohl es manchen nach einer Zigarette gelüstet oder einer Tasse Kaffee dürstet, gelingt es doch, dem Ausgang des Hörsaals ohne Eile entgegenzustreben. Das Studium ist lang. Ja, das Studium ist lang.
„Lass mich! Ich sage, hör auf damit!“ Es erinnerte an das in Norddeutschland
verbreitete Laster, in einem Haufen Grünkohl, über den ein Streifen glasig gebratener
Schweinebauch drapiert wird, eine Mahlzeit zu sehen.
Im Kopf Rasputin des Ersten lief ein Tarzan-Film. Leider war in keinem der Tarzan-Film, die er gesehen hatte, eine Szene vorgekommen, in der Tarzan Bier trinkt.
„Lass mich in Ruhe! Du bist widerlich!“ Seine Bewegungen hätten eine Gruppe Dreijähriger garantiert zum Lachen gebracht. Man hätte Rasputin den Ersten für einen Kindergärtner halten können. War er aber nicht. So blieb einem nur stillzuschweigen und es schade zu finden, dass er es nicht zum Kindergärtner gebracht hatte.
„Schluss jetzt! Verdammt, hör auf damit!“
Abgesehen davon, Bier zu trinken und sich gewisse wirksame Substanzen zuzuführen, die an dieser Stelle aufzulisten wohl unnötig sein dürfte, gefiel es Rasputin dem Ersten, sich zu entspannen. Je mehr er sich entspannte, desto intensiver dachte er daran, dass er, an Stelle sich zu entspannen, lieber Bier tränke beziehungsweise sich gewisse wirksame Substanzen zuführte, die an dieser Stelle aufzulisten wohl ungebrochen unnötig sein dürfte.
„Flossen weg! Du kriegst gleich eine geschwalbt!“ Rasputin der Erste beugte sich über Mona, die auf dem einzigen Sofa im einzigen Zimmer ihrer einzigen Wohnung saß, und trank definitiv lieber Bier, als sich zu entspannen.
Ärgerlicherweise war kein Bier griffbereit. Weder auf der runden Glasplatte des Tischs stand Bier noch lagerte welches in Monas Kühlschrank. Und in der Hand hielt Rasputin der Erste auch keines.
„Nimm deine unegalen Finger weg!“ keifte sie. Wäre Mona mit dem Klang nass geregneter Glöckchen entfahren „Au ja, fass mich da an!“ – Rasputin der Erste hätte sich unverändert mies gefühlt. An Bier war dabei halt nicht zu denken. Er hätte das meiste verschüttet.
Insbesondere gegen Ende seines Vorhaben wurden vermittels winziger Drüsen geringe Mengen gewisser wirksamer Substanzen in Rasputin des Ersten Blutbahn entlassen, die ihn in eine gemäßigte Form von gehobener Stimmung versetzte. Zwar ähnelte dieser körpereigene Glückssaft im Hinblick auf chemische Struktur und psychotrope Wirkung jenen wirksamen Substanzen, die in Rasputin des Ersten ausgebrannten Schädel üblicherweise künstliche Reizfeuer entfachten (unter denen sein zentrales Steuerungsorgan bisweilen unter so einfachen Aufgaben zusammenbrach, wie der, ihn unverletzt zwischen zwei Laternenpfählen hindurchzulotsen), damit Rasputin der Erste jedoch einen Rausch als solchen überhaupt zur Kenntnis nahm, hatten weit größere effektive Stoffmengen an der Basis seiner Denkrinde zu nagen. Kein allein aus triebhaftem Tun bedingter Tørn (und sei er noch so steil), hätte diese Stoffmengen je freizusetzen vermocht. Nein, eine gemäßigte Form von gehobener Stimmung reichte ihm nicht. Mit anderen Worten: im Bett war Rasputin der Erste eine Flasche, aber das war er auch außerhalb.
Im Folgenden und bis auf Widerruf wird das Trinken von Bier und die Konsumtion jener wirksamen Substanzen, deren Auflistung an dieser Stelle wohl unnötig sein dürfte, in der Buchstaben/Zeichenkombination Bier „!“ zusammengefasst.
Zuzüglich zu Rasputin des Ersten Unwohlsein aufgrund des Nichttrinkens von Bier „!“ kam, dass Tarzan heute anders auf Mona zu wirken schien als üblich. Dieser Umstand steigerte Rasputin des Ersten Bedürfnis, Bier „!“ zu trinken, erheblich.
Tarzan trank nie Bier „!“.
Als Rasputin der Erste noch frei von Scham- und Achselbehaarung (und möglicherweise noch nicht ganz so peinlich) gewesen war, hatte es ihm die größte Freude bereitet, einen Chinaböller in einen Scheißhaufen zu stecken, den ein darmkranker Hund neben ein knochenfarbenes 280er Daimler Sportcoupé abgelegt hatte. Aber vielleicht hielt er ja bereits damals in der einen Hand ein Streichholz und in der anderen eine Gerstenkaltschale?
Tarzan versuchte, Mona zu besteigen (Rasputin der Erste konnte echt ziemlich peinlich sein).
„Immerfort vernahm er das Schwirren eines bratwurstförmigen Gongs, dessen Klang ihn zum Trinken anhielt.“ Solche oder ähnliche Verse hätte wohl der größte deutsche Dichter gefügt, selbst besoffen bis zur Halskrause und in unverkennbarer Missachtung des Tragischen an der Gestalt Rasputin des Ersten. In seinem Sinne: hoch die Tassen! Rasputin der Erste fühlte sich hundsmiserabel. Die Tassen hoch, das Tor macht weit! Tarzan versuchte, Mona zu besteigen. Sie zu besteigen, rangierte in der Topten Hitliste seiner Lieblingsbeschäftigungen auf Platz 3. Hier die Liste:
Platz 1 Platz 2 Platz 3 Plätze 4 – 10 |
Bier „!“ sich entspannen Mona besteigen N.N. |
Ein talentierter deutscher Jungfilmer (42), der aufgrund seiner frühen, zum Teil preisgekrönten Arbeiten in Kreisen der Filmkritik und -förderung für vielversprechend gehalten wurde, drehte seinen ersten, ärgerlicherweise abendfüllenden Spielfilm. Man engagierte Tarzan als Statisten, was nichts Besonderes war, da jeder halbwegs zivilisierte Affe die Rolle spielen konnte. Seine Szene wurde auf der Terrasse eines Schlosses aufgenommen. Tarzan stellt einen grünbeschürzten Gärtner dar, der im Bildhintergrund einen Torfsack quer über den Rasen des Schlossgartens bis fast zum linken Bildrand schleppt, wo er die Last neben ein Blumenbeet auf einen Kiesweg ablädt, während sich im Vordergrund die Hauptdarstellerin und der Hauptdarsteller über ihre Beziehungskiste streiten. Die Handlung des Films besteht einzig aus dem ewig währenden Zwist dieses Paars. Bestenfalls – wenn nämlich der talentierte deutsche Jungfilmer während einer vergangenen Phase jugendlicher Entwurzelung die Sinnlosigkeit seines Daseins auf einer Landkommune in der Toskana hatte spüren dürfen – werden die endlosen Dialoge um Probleme und noch mehr Probleme in eine hanebüchene und an den Haaren herbeigezogene Kriminalstory geschnürt, die, im Verhältnis zur klebrigen Wirklichkeitssüchtigkeit des wechselseitigen Geseires des Darstellerpärchens, quälend unrealistisch wirkt.
Das projektionsfertige Endprodukt jedenfalls ist nicht auszuhalten. Bereits nach wenigen Minuten kann man nur noch auf die Statisten achten. Sie sind die eigentlichen Hauptdarsteller. Leider war ihnen ihre Bedeutung während der Dreharbeiten nicht bewusst, weshalb sie halbwegs unauffällig spielen, was dem Streifen in zweiter Instanz und damit endgültig den Garaus macht.
Die Dreharbeiten erwiesen sich als schwierig: Der Hauptdarsteller vergaß fortwährend seinen Text. Die Hauptdarstellerin zerschmiss aus Wut über ihren unfähigen Partner ein Weinglas, wurde gerügt und blieb folgerichtig für den nächsten Drehtag unauffindbar. Der entnervte Kameramann sabotierte die Aufnahmen, indem er eine aufkeimende Bindehautentzündung simulierte, bis die Regie einen Nervenzusammenbruch erlitt, und endlich alles noch einmal von vorn aufgenommen wurde.
Tarzan durchlief während der Dreharbeiten den Zenit seiner Schauspielkunst. Seine Szene musste zig mal wiederholt werden. Von einer pickeligen Regieassistentin instruiert, was er zu tun, vor allem aber, was er zu lassen habe, schleppte er den zentnerschweren Torfsack unermüdlich über den Rasen. Schweißdurchnässt durfte er schließlich den Kiesweg und das Beet erreichen. Wütend über das Missverhältnis zwischen mieser Bezahlung einerseits und der Einbuße an integrer Würde als Schauspieler und Mensch andererseits schleuderte er den Ballen in den Kies, dass die Steinchen nur so spritzten.
Ohne zu ahnen, dass dieses oder jedes beliebige andere Tarzan-Anekdötchen für
Rasputin den Ersten handlungsbestimmend war, hatten sich alle erforderlichen
Handlungen, die schlussendlich in die besagte gemäßigte Form einer gehobener
Stimmung mündeten, daraus ergeben, dass er Mona einem Torfsack gleich packte,
sie in die Luft stemmte und auf das einzige Sofa im einzigen Zimmer ihrer einzigen
Wohnung wuchtete. Rasputin der Erste hatte lediglich dem Ruf der Wildnis zu
folgen gehabt. Bislang hatte Mona ihm dies gedankt, indem sie ihn hinter halb
geschlossenen Lidern anschaute, als sei sie stramme siebzehn.
Diesmal hingegen kontrahierte sie einen kräftigen Muskel eines ihrer (langen) Oberschenkel, woraufhin das an dessen Ende befindliche Knie in der Gegend von Rasputin des Ersten Testikel einschlug.
Die Vorstellung eines mit talgstinkender, schmutzigweißer und braunschwarzer Schafwolle gefüllten Containers wurde verdrängt durch die Vorstellung einer als Punkt am Horizont verschwindenden Herde unlängst geschorener Schafe, denen ein frisch herausoperierter Granatsplitter nachgeworfen wird. Blödsinn! Alle Gefühle machten einem einzigen, chromglänzenden Gefühl Platz: „Der Schmerz!“ Er bewegte sich durch Rasputin des Ersten Rückenmark wie eine dienstbeflissene Polizeistaffel durch Bad Godesberg, unterwegs zu den Flammen lodernden Überbleibseln der amerikanischen Botschaft, die mithilfe einer großzügig dosierten Autobombe just effektiv planiert worden war. Rasputin der Erste feitstanzte für eine Weile in einer wechselweise knallgelb und pechschwarz beleuchteten Disco, dann kauerte er auf dem Teppich in Monas Diele und hielt sich die Klöten. „Der Schmerz!“ hatte ihn gelähmt. Mona hätte mit ihm machen können, was sie wollte. Sie wollte aber nichts mehr mit ihm machen. Allenfalls hätte sie ihren Bekannten in Säure aufgelöst, aber es war gerade keine Säure griffbereit. Außerdem hätte sie sich dabei womöglich ihr Selbstgenähtes verätzt. Also hatte sie ihn an den Füßen in die Diele hinausgezerrt.
Stufenweise erinnerte sich Rasputin der Erste an seinen Namen, an seinen bürgerlichen Namen und daran, was geschehen war. Sein Gesicht lag auf dem Teppich in Monas Diele – jenem Teppich, auf den Monas Kater pisste, wenn das Katzenklo längere Zeit nicht gereinigt worden war. Mona reinigte das Katzenklo, bevor ihre Eltern zu Besuch kamen. Monas Eltern kamen selten, da es bei ihrer Tochter „nach Katze“ rieche, wie sie sich vor und nach, nicht aber während ihrer Visiten ausdrückten. Dafür hatte sich einmal während eines elterlichen Besuchs Monas Kater ausgedrückt: wie zu erwarten war nicht über dem Katzenklo, sondern über dem Teppich in der Diele (Nervosität wahrscheinlich oder Gewohnheitssache).
Über diesem Teppich also heulte Rasputin der Erste 2,6 ml Tränenflüssigkeit ab, was vergleichsweise viel ist (ein Todesfall im engeren familiären Kreise erbringt über Wochen kaum 20 ml, die Trennung einer langjährigen Liebesbeziehung nur in Ausnahmefällen mehr als 35 ml).
Mona unterdes sah fern. Gezeigt wurde ein Eishockeyländerspiel. Irgendwer verlor gerade gegen Schweden. Auf dem einzigen Sofa im einzigen Zimmer ihrer einzigen Wohnung sitzend wartete sie darauf, dass „Der Schmerz!“ soweit nachgelassen hatte, dass Rasputin der Erste sich erheben würde. Auch Rasputin der Erste wartete darauf. Es war das letzte, was die zwei gemeinsam taten.
Mona hatte die Tür zwischen Diele und Zimmer verriegelt. Das einzige Zimmer ihrer einzigen Wohnung war mit zwei Türen ausgestattet. Eine führte auf den Balkon. Von dort aus kam man nur als Vogel oder Kandidat weiter. Mona hielt die Arme verschränkt. Zu ihren Füßen stand das Telefon. Der Hörer lag vor ihr auf dem Glastisch. Die zwei Einsen hatte sie bereits gewählt. Sollte Rasputin der Erste versuchen, durch die Tür zu brechen, würde sie die Null folgen lassen. „Die Null dauert verdammt am längsten“, dachte sie.
Es war bereits eine Ewigkeit her, dass Rasputin der Erste das Quietschen vernommen
hatte. Vermutlich lag der Bauer längst auf dem Kutschbock und schlief. Das Geräusch
war ertönt, als der Bauer den Korken aus der Flasche gezogen hatte. Eine Ewigkeit
war das bereits her.
Seither war ihnen niemand begegnet. Die Mittagshitze machte Rasputin dem Ersten zu schaffen, und das schwere hölzerne Joch, das um seine Nacken lag, erlaubte es ihm nicht, hinter sich zu blicken. Bisweilen aber, wenn die staubige Brise aus der Ebene verwirbelte und das Fuhrwerk für einen Moment von hinten anwehte, konnte Rasputin der Erste den wodkaschweren Atem des Bauern durch die Nüstern saugen. Die Zügel waren entspannt. Rasputin der Erste würde seinen Karren weiterziehen wie bisher.
Auf einer Karte Eurasiens markierte ein kurzer Strich ihren Weg. Zunächst schien es gar nur ein Punkt zu sein. Sah man aber genauer hin, so erkannte man, dass die Markierung ein kurzer Strich war. Er verlief unmittelbar auf der Grenze zwischen osmanischem Reich und russischem Zarenreich. In Wirklichkeit, von der ja die Karte Eurasiens nur eine verkleinerte Abbildung war, lag diese Grenze eine Tagesreise entfernt. Hätte die Straße zur Grenze geführt, wären Rasputin der Erste, der Karren und der betrunkene Bauer von einem Reich ins andere gelangt. Die Straße führte aber nicht zur Grenze, sondern parallel dazu auf armenischem Gebiet durch die Ebene südlich des Araratmassivs und endete in Alessandropol oder einer anderen großen Stadt dieser Weltgegend. Dem Strich auf der Karte entsprach ein Wegstück. Es war das Wegstück, das Rasputin der Erste seinen Karren bereits gezogen hatte. Wie weit er ihn noch würde ziehen müssen, war aus der Karte nicht ersichtlich. Straßen waren dort nicht eingezeichnet. Ozeane, Ströme, Kontinente, ja. Aber keine Straßen. Hätte sich Rasputin der Erste wie Pegasus in die Lüfte erheben und mitsamt Bauer und Wagen über die Berge zu seiner Rechten hinwegfliegen können – der Strich auf der Karte wäre abgeknickt. Mehr wäre dort nicht zu erkennen gewesen. Hätte der Bauer die Zügel angezogen, wäre Rasputin der Erste stehen geblieben. Doch der Bauer schlief, und die Straße flimmerte von der Hitze. In der Ferne hob sich der mächtige Ararat schwarzblau vom Himmel ab.
Peinlich musste ganz schön abkacken. Seit einer halben Stunde saß er am Küchentisch
und hätte nichts Dringlicheres zu tun gehabt, als aufzustehen und unter Aufbringung
der geballten Kraft seines Afterschließmuskels die 7 Meter bis zum Klo zurückzulegen.
Stattdessen saß er in darmverschließender Positur am Küchentisch und dachte
nach. Tausend komplizierte und überflüssige Gedanken funkten in seinem Kopf
herum, denn er begriff sich als großtechnische Anlage zur Verbrennung von Gedankenschrott.
Außerdem begriff er sich als großtechnische Anlage zur Verbrennung von Käsebroten,
Wurstbroten, Broten mit Ei, Eibroten, Stullen mit Käse und Ei, Salamibrötchen,
Sandwichs mit dick Käse und Leberwurst oder Ei und Salami sowie verschiedener
anderer Schnittchen. Peinlich huckte also da, prallvoll der unbedingten Notwendigkeit
abzukacken, die er ignorierte, weil er ein latent homosexueller anal fixierter
Päderast oder sonst was war – irgendwas Alltägliches jedenfalls (es interessierte
Peinlich schon lange nicht mehr, was er war) –, als das Telefon klingelte, das
auf dem Tisch stand. Peinlich hatte keineswegs auf dieses Signal gewartet –
wenn überhaupt, so hatte er auf ein inneres Signal gewartet. Dennoch griff er
es bereitwillig auf, riss den Hörer von der Gabel, brüllte „Jawoll!“ und stürzte
aufs Klo. Wer anrief, fragt ihr? – Na, Margit! Als es ihr gelang, die ersten
Worte zu stammeln, warf Peinlich seinen Hintern gerade auf den feuchtkalten
Ring der Klobrille, die Rudi vom Vormieter, und der wiederum von Vormieter,
und der auch schon von Vormieter, und auch der vom Vormieter, und der einst
vom Vermieter übernommen hatte. Das war zur der Zeit der Wirtschaftskrise. Welche
Wirtschaftskrise fragt ihr? – Egal welche! Klobrillen halten ewig, wenn man
nicht ständig darauf herumscheuert.
„Hallo? Peinlich? Hallo?“ flennte Margit. „Ich weiß, dass du dran bist! Peinlich, bitte! Leg nicht auf! Sag was!“ Unterdessen gaben Rudi und Lenka beim gerade Geräusche von sich, welche sich mit denen mischten, die Peinlich auf dem Klo ausstieß. Sie erreichten die Sprechmuschel des Telefonhörers, der vom Küchentisch baumelte, wo sie in niederfrequenten Wechselstrom umgeformt wurden, der ein kompliziertes System aus Leitungen und Verstärkern durchfloss, bis er in die Hörmuschel gelangte, die Margit ans Ohr hielt. In Schallwellen zurückverwandelt mündeten die Urlaute schließlich in Margits Bewusstsein, wo sie – als Peinlichs erwartungsvoller Atem auf der fernen Sprechmuschel fehlinterpretiert – den Anstoß dafür gaben, dass sie loslegte.
Derweil presste Peinlich unter großer Kraftanstrengung eine kolossale Elle Kot in die Porzellanschüssel. Dabei vernahm er einen interessanten Gesang, der verblüffende Ähnlichkeit mit den Textzeilen „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet sein“ aus dem ersten Satz des Deutschen Requiems, Opus 45, von Johannes Brahms aufwies. Die Ursache hierfür ist wohl in der Belastung von Peinlichs Kreislauf aufgrund der vehementen Kontraktion seiner Beckenmuskulatur gepaart mit dem Gefühl der Befriedigung im Moment seiner Niederkunft zu suchen.
Eine Ejakulation hat ein Volumen von 2 bis 6 Kubikzentimeter und enthält zwischen
60 und 300 Millionen Spermien. In einem Kubikzentimeter frisch abgespritztem
Bibber wimmeln also bis zu 100 Millionen Samenzellen. Es ist fraglich, ob ein
Kondom, das mikroskopische Löcher aufweist, keinen Schutz vor einer Schwangerschaft
bieten. Damit die Zeugung eines Kindleins einigermaßen wahrscheinlich wird,
müssen sich mindestens 20 Millionen Spermien durch das Loch im Latex drängeln.
Der Schutz vor Geschlechtskrankheiten geht hingegen eher verloren. Unter ungünstigen
Umständen reicht hier ein einziger, durch das Loch im Pariser geschlüpfter Krankheitserreger.
Was Margit alles erzählte, als sie loslegte, ist unwichtig. Vermutlich nahm
sie an, Peinlich sei beleidigt, weil sie ihn aus ihrer Wohnung geworfen hatte,
oder weil sie schwanger war oder so ähnlich. Sie hatte merkwürdige Vorstellungen.
Die Ansteckung mit einer Geschlechtskrankheit erfolgt im Allgemeinen durch direkten
Schleimhautkontakt. Beim Mann finden sich die winzigen einzelligen Erreger auf
der Eichel oder sie treten aus der Harnröhre aus. Bei der Frau sind sie über
den gesamten Vaginalbereich verteilt. Meist gehen sie an mikroskopischen Verletzungen
der Haut auf die gesunde Person über. Diese Verletzungen lassen sie selbst bei
vorsichtigem Geschlechtsverkehr kaum vermeiden, die Beteiligten vermögen sie
nicht zu spüren. Einige Erreger von Geschlechtskrankheiten können auch unverletzte
Schleimhaut durchdringen. Bis auf eine Ausnahme können alle Geschlechtskrankheiten
sowohl vom Mann auf die Frau als auch umgekehrt von der Frau auf den Mann übertragen
werden.
Die Weitergabe der keimzellenbedingten Geschlechtskrankheit ist nur vom Mann auf die Frau belegt. Männer sind mit Erreichen der Geschlechtsreife Infektionsträger. Sie bleiben es unter Umständen bis ins Greisenalter, ohne jedoch selbst Symptome der Erkrankung zu zeigen.
Die männliche Keimzelle bewegt sich mithilfe einer lang gestreckten Geißel fort. Ihr Ziel ist es, tief in den weiblichen Geschlechtstrakt vorzudringen, wo sie unter Umständen auf eine weibliche Keimzelle trifft. Allein dieser Kontakt kann zu einer Übertragung der Erkrankung führen. Der Kontakt einer männlichen Keimzelle mit jeder anderen Zelltype der Frau bleibt ohne pathogene Folgen.
Die weibliche Keimzelle unterliegt einem mehrwöchigen Reifungsprozess, an dessen Ende sie für einige Tage infiziös ist. Bleibt eine Infektion aus, so wird sie vom Körper der Frau abgestoßen. Bald darauf reift eine neue heran. Die Reifung und Abstoßung erfolgt in regelmäßigen Intervallen. In etwa einem Fünftel aller Fälle werden die von männlichen Keimzellen infizierten weiblichen Keimzellen kurz nach der Infektion ebenfalls abgestoßen. Nicht jedes Aufeinandertreffen ungleichgeschlechtlicher, infektiöser Keimzellen führt also zwangsläufig zum berüchtigten Vollbild der keimzellenbedingten Geschlechtskrankheit: der Schwangerschaft. Sie wurde im Rahmen jahrtausendealter Irrlehren vielfach mystifiziert und verklärt und wird noch heute vielerorts nicht als Folge einer Erkrankung verstanden.
Nach einer Infektion mit der keimzellenbedingten Geschlechtskrankheit wuchert in der Gebärmutter der Frau ein Parasit heran. Wird er nicht durch einen ärztlichen Eingriff entfernt, so führt sein Wachstum zu einer Unterbauchgeschwulst von lebensbedrohlichem Ausmaß. Anders als bei Krebserkrankungen, bei denen Geschwüre ähnlicher Größe beobachtet werden können, geht die keimzellenbedingte Geschlechtskrankheit vergleichsweise selten tödlich aus. Die Erkrankung endet rund neun Monate nach der Infektion, indem sich der Körper der Erkrankten vaginal öffnet und der Parasit vergleichsweise plötzlich austritt. Für die Patientin ist dieser Vorgang äußerst schmerzhaft, meist aber gesundet sie kurz darauf. Auch der Parasit – nunmehr Neugeborenes, Säugling, kleines Scheißerchen, verfressenes Bankert, Andilein, Tinchen oder so ähnlich genannt – überlebt den Vorgang in der Mehrzahl der Fälle. Sein Anblick löst bei der ehemals erkrankten Frau, aber auch bei dem Mann, von dem der Krankheitserreger stammte, das anhaltende Bedürfnis aus, für sein gesundes Heranwachsen zu sorgen. Diese Reaktion kann allerdings auch ausbleiben.
Die anderen beim Geschlechtsverkehr übertragbaren Erkrankungen sind in ihren Auswirkungen zumeist weniger heftig als die Schwangerschaft. Gleichwohl werden sie von der infizierten Person als unangenehm empfunden. Diese sind: die Syphilis, der Tripper, die Herpes, der weiche Schanker, die durch Geschlechtsverkehr übertragbare Form der Lymphknotenschwellung, die Zytomegalie, die durch Geschlechtsverkehr übertragbare Form des Granulationsgeschwulst, die Hepatitis der Gruppe B, die übertragbare Schwäche des Immunsystems (AIDS), unspezifische Entzündungen, hervorgerufen durch Chlamydien, Ureaplasmen, Mykoplasmen, Pilze und Protozoen, außerdem Fieberblasen an den Geschlechtsorganen sowie Dell- und Feigwarzen.
In allen Fällen verringert die Verwendung eines Kondoms die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung. Nicht hilfreich ist es beim Befall des Liebesgartens mit Milben oder Filzläusen. Es schadet jedoch auch nicht.
Ein fieser, kleiner Piratensender strahlte ein Anti-Programm zu Margits Sendung
aus. Seine Sendefrequenz betrug 15,258 Mega Hertz. Das liegt im oberen Kurzwellenbereich,
genauer gesagt im 19-Meter-Band. Die populär psychologische Unterhaltungssendung,
bei der Margit mitwirkte – es war ihr erster Auftritt im Radio –, wurde von
einer lokalen UKW-Station ausgestrahlt. Der Ultra-Kurzwellen-Bereich erstreckt
sich zwischen 88 und 108 Mega Hertz. Etliche Millionen von Schwingungen pro
Sekunde trennten also die beiden Sendungen. Und auch wenn das Sendungsbewusstsein,
das den beiden Programmen zu Grunde lag, ähnlich gewesen wäre, ja, selbst wenn
es ein und das selbe Sendungsbewusstsein war, kamen doch mit jedem Kehrwert
einer Sekunde viele Millionen trennender Schwingungen hinzu.
Der Piratensender entsandte sein Anti-Programm unter Außerkraftsetzung des gegenstandslosen und ohnehin längst überfälligen Lehrsätzleins „Ein Ding kann zu einer Zeit nur an einem Ort sein“:
1.) Er sendete im selben Augenblick, als Margit durch das Telefon die 34 Kubikmeter Luft in Rudis Küche vollquatschte.
2.) Er sendete irgendwann nachdem Margit durch das Telefon die 34 Kubikmeter Luft in Rudis Küche vollgequatscht hatte.
Wichtig: Der Piratensender tat beides gleichzeitig.
Demnach wurden beide Sendungen – betrachtet man es einmal streng chronologisch – sowohl zum selben Zeitpunkt als auch zeitlich versetzt in den Äther entlassen. Also in ein und demselben Moment hintereinander. Wer das nicht verstehen will, ist ein Arschloch. Blödsinn! Ein Arschloch ist, wer das verstehen will. Wer überhaupt irgendwas verstehen will, ist ein Arschloch.
OK. Ein Schriftsteller ist verpflichtet, irre lange nachzudenken, bevor er etwas aufschreibt. O ja. Schon weil der Leser der Kanalratte zumindest im Hinblick auf die Lesegewohnheiten haushoch überlegen ist (vielleicht sollte man doch besser auf die einschlägigen Werke der Verfasser von Verständnisliteratur zurückgreifen? Verlangen Sie einfach „deWdVvV“ – erhältlich in allen schlechten Buchhandlungen). Überhaupt versteht der Mensch alles, kann alles, er vermag die Welt zu kontrollieren, regieren, planieren, jonglieren, ratifizieren, usw.
Also. Aufgrund dieses simplen temporärzeitlichen Sachverhalts lässt sich jeder hinreichend starke Kurzwellensender jederzeit auf allen Klos der Welt empfangen (es sei denn die Stätte der Notdurft befindet sich unter einer eisernen Brücke, in einem Bunker mit Stahlbetonwänden oder einem anderen abgeschirmten Ort).
Das Anti-Programm begann mit der Einspielung einer Tonbandaufzeichnung der UKW-Sendung, bei der Margit mitgewirkt hatte (bzw. mitwirkte – in ein und demselben Moment hintereinander, remember?). Hätte Peinlich den Piratensender hören können, ohne ein geeignetes Gerät zu Hilfe zu nehmen, so hätte er Margits Redebeitrag mitbekommen. Aber ebenso wenig wie Margits Telefonstimmchen aus der Küche bis an des abkackenden Peinlich’ Ohr drang, war er ohne einen geeigneten Rundfunkapparat in der Lage, Kurzwellen zu decodieren. Peinlich war nämlich kein Übermensch (sofern denn ein körpereigener Weltempfänger überhaupt Charakteristikum des Übermenschen ist). Nein, Peinlich war Peinlich. Er saß auf dem Klo, kackte ab und bekam weder Margits Gesülze noch das kurzwellige (aber langweilige) Freibeutergeschwafel mit.
Doch trösten wir uns: Beide Sendungen existierten. Einerseits als niederfrequente Küchenluftschwingung, die aus der Hörmuschel des Telefonhörers flüsterte, andererseits als Hochfrequenzmodulation auf einer elektromagnetischen Welle, die verdammt oft pro Sekunde ihre Polung wechselte. Wie und wann auch immer: Die beiden Sendungen existierten. Peinlich existierte ebenfalls, auch wenn ihn gerade nichts anderes beschäftigte als Chor und tiefe Streicher.
Ein Spermatozoon ist etwa sechs hundertstel Millimeter lang. Der ovale Ball,
der beim Rugby verwendet wird, ist eiförmig und muss laut Bestimmung des IRB
(International Rugby Board) eine Länge von 28 bis 30 Zentimeter aufweisen. Hätte
der Kopf einer Samenzelle die Größe eines Rugby-Eies, so ergäbe sich daraus
für das gesamte Spermatozoon eine Länge von 3,6 Meter. Vom Eingang des oberen
weiblichen Genitaltrakts (Muttermund) bis zu einer infizierbaren weiblichen
Keimzelle müsste sie eine Strecke von 8 bis 10 Kilometern zurückzulegen, was
sie mit einer Geschwindigkeit von 12 km/h täte (so schnell wie eine eilig radelnde
Runzelomi). Die Wand des schützenden Latextunnels von rund 2 km Durchmesser
hätte eine Stärke von 3,9 bis 4,5 Metern. Carlo di Trichomonas vaginalis entspräche
einem feisten Cockerspaniel. Ein HIV-Virus hätte die Größe einer Erbse aus einer
Dose Erbsen, mittelfein, oder die eines Projektils aus einer Kleinkaliberpistole
(Preisfrage: Wie bekommt man eine Erbse, mittelfein aus der Wartburg heraus?
Antwort: Man schnippt sie mittelfein durchs offene Fenster).
Ein scharfkantig’ Sandkorn hätte übrigens zwischen 5 und 20 Meter Kantenlänge. Der Superpongo, aus dem die Samenzelle gemeinsam mit etlichen Millionen anderen haifischgroßen Spermien hinausgespritzt käme, wäre zwischen 9 und 12 Kilometer lang. Wäre der kapitale Brunzrüssel nicht tonnenschwer gummiumhüllt, so könnte die daraus entspringende Auskoberung – immerhin zwischen 1200 und 3600 Kubikmeter (der Füllmenge von 3 bis 8 Stück Schwimmbecken eines herkömmlichen städtischen Hallenbads) – gut 40 Kilometer weit abgespritzt werden. Der Homo sapiens erectus, der diesen stolzen Hartmann sein Eigen nennte, wäre über 100 Kilometer groß, was 0,026 Prozent der mittleren Entfernung zwischen Erde und Mond und ein verdammt nochmal sehr viel kleinerer Bruchteil der Größe des Universums ist (wen es interessiert: Der Abstand der Atome in einem Kochsalzkristall läge bei etwa 3 hundertstel Millimeter, während sich die Wartburg problemlos in der Merkurbahn unterbringen ließe). Hält man sich einmal die Größe des Universums vor Augen, spielt es also überhaupt keine Rolle, ob einer 1,58 Meter misst und keinen hoch kriegt oder ob er aus schwindelerregender Höhe auf seine Zeh'nägel hinablinst und es marathonmäßig weit rausschleudern kann. Das Universum ist echt wahnaffenartig groß!
Nic ist Kanadier und von Beruf Tiefbauarbeiter. Er besitzt einen Landrover mit
Standheizung, leistungsstarker Kaffeemaschine und Übernachtungsgelegenheit für
bis zu drei Personen. Er wohnt eine halbe Autostunde von der nächsten Kleinstadt
entfernt. An der dortigen Volkshochschule besucht er zweimal wöchentlich einen
Finnischkurs. Auch Samuel, ebenfalls Kanadier und von Beruf Architekt, besucht
diesen Kurs. Da alle Kanadier hilfsbereit sind, fährt Nic jeden Dienstag- und
Donnerstagabend bei seinem Freund vorbei, um ihn abzuholen. Sam besitzt keinen
Wagen, und für Nic stellt der Umweg keine nennenswerte Belastung dar. Obendrein
sind die Busverbindungen in die Stadt gelinde gesagt unter aller Sau, außerdem
läuft man Gefahr, an der Haltestelle festzufrieren und – zur Flucht unfähig
– von einem Grizzly zerfleischt zu werden.
Am vergangenen Donnerstag, als die beiden nach dem Finnischunterricht heimfuhren, hatten sie sich angeregt unterhalten. Schließlich war ihr Gespräch auf das Verb „sammuttaa“ gekommen und sie hatten darüber debattiert, wie es wohl in der zweiten Person Singular konjugiert werde. Sam hatte behauptet, es müsse „sinä sammutan“ heißen, während Nic der festen Überzeugung war, es heiße „sinä sammuttaai“. Alle Kanadier sind hilfsbereit und sehr ehrgeizig. Allmählich hatten sich ihre Positionen verhärtet. Sam hatte einen insistierenden Ton angenommen, und Nic wurde daraufhin ausfallend. Schließlich waren wohl auch Samuel einige Worte über die Lippen gekommen, die nicht unbedingt zur Schlichtung beitrugen. Alle Kanadier sind hilfsbereit, sehr ehrgeizig und hundserbärmlich stur. Dennoch fuhr Nic auch heute wieder bei seinem Freund vor, um ihn abzuholen. Obwohl man einander noch vor fünf Tagen beißende Beleidigungen an den Kopf geworfen hatte und nur ein aufkommender Blizzard die Streithähne daran hatte hindern können, sich vor Samuels Haustür abschließend zu prügeln, zögerte Nic keinen Moment, auch weiterhin pünktlich bei seinem Freund vorzufahren (wie gesagt sind alle Kanadier hundserbärmlich stur. Überhaupt nimmt einen in Kanada jedermann gern im Auto mit, die Leute sind sehr ehrgeizig, außerdem werden sie leicht ausfallend). Also stoppte der hilfsbereite Nicolas seinen Landrover vor dem Haus des ebenso guten Samuel. Alle Kanadier sind hilfsbereit, sehr ehrgeizig, hundserbärmlich stur, lernen Finnisch, werden leicht ausfallend und sind ziemlich nachtragend. Nic hupte dreimal kurz, zweimal lang, Sam trat aus der Tür, keiner sprach ein Wort. Sie blickten einander nicht an. Nachdem sie unter eisernem Schweigen einige Kilometer gefahren waren, schaltete Sam das Autoradio ein. Seit dem vergangenen Donnerstag lauschte Nic auf dem Weg zur Arbeit allmorgendlich einem finnischen Kurzwellensender, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern und Sam auf diese Weise in den Rücken zu fallen. Leider war der Empfang während der Abendstunden so schlecht, dass aus den Lautsprechern nur ein Brutzeln und Rauschen drang, das ab und zu von einigen Brocken Finnisch oder einem halben Takt Lappenmusik unterbrochen wurde. Nic tat so, als störten ihn die Geräusche nicht. Auch Sam gingen sie auf die Nerven. Alle Kanadier sind hilfsbereit, sehr ehrgeizig, hundserbärmlich stur, lernen Finnisch, werden leicht ausfallend, sind ziemlich nachtragend und unangenehmen Geräuschen gegenüber äußerst sensibel. Schließlich drehte Sam kurzerhand am Knopf für die Senderwahl.
Ein Sendezeichen erklang. Es handelte sich um die fünfzehn Mal wiederholten ersten beiden Takte des Liedes „Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste“, gespielt auf einer Heimorgel. Darauf folgte eine Ansage:
„Guten Abend. Sie empfangen Radio Jolly Roger auf 15,258 Mega Hertz. Es ist 1830 Uhr. Wir beginnen unser Programm mit einer weiteren Folge des Radiokursus „Der kleine Kurzwellenpsychologe – Analysen aus aller Welt“.“
Nic warf seinem Beifahrer einen angewiderten Blick zu. Dieser entgegnete den Blick jedoch nicht, und schon ärgerte sich Nic, dass er sich von Sam hatte provozieren lassen.
Die angekündigte Sendung begann mit der Titelmelodie, und zwar dem Lied „Go, tell it to the mountains“, gesungen vom Quäkerchor Quebec.
Beiden, Samuel wie auch Nicolas, gefiel das Lied, denn beide hatten es als Kinder in der Schule singen dürfen. Alle Kanadier sind hilfsbereit, sehr ehrgeizig, hundserbärmlich stur, lernen Finnisch, werden leicht ausfallend, sind ziemlich nachtragend, unangenehmen Geräuschen gegenüber äußerst sensibel und dürfen in der Schule „Go tell it to the mountains“ singen.
Es folgte die Stimme eines Sprechers: „Guten Abend verehrte Hörerinnen und Hörer in aller Welt. Wir beginnen unsere heutige Sendung mit der Einspielung eines populär psychologischen Hörfunkprogramms, das die Redaktion des „Kleinen Kurzwellenpsychologen“ vor einiger Zeit für sie aufgezeichnet hat. Im Anschluss daran wollen wir versuchen, uns diesem Tonbeispiel wissenschaftlich zu nähern. Doch hören Sie sich bitte zunächst die Aufzeichnung an:“
OK* (also). Es gibt zwei Empfindungen von ausgesprochen
ungleicher Qualität, die zwar durch eine lange Zeitspanne voneinander getrennt
sind, die aber dennoch unmittelbar zusammenhängen. Ein männlicher Homo sapiens
sapiens (zu denen sich Peinlich zähneknirschend zählte), kann von diesem Zusammenhang
nichts wissen. Habt ihr’s? Nö? Dann noch einmal: welches sind die zwei ungleichen
und einander zeitlich fernen Empfindungen, von deren unmittelbarem Zusammenhang
ein Homo-sapiens-sapiens-Männchen wie Peinlich nichts wissen kann? Na? Hat denn
niemand einen Schimmer, worum es geht? Betretenes Schweigen? Wie sollte es auch
anders sein? Sagt mal, wen glaubt ihr eigentlich vor euch zu haben? Na, im Grunde
sollte man ja zufrieden sein, wenn ihr Hammeln einem nicht eure mörderischen
Mullahs auf den Hals hetzt. Aber besser keine Ansprüche stellen.
Es weiß natürlich niemand, um welche zwei Empfindungen es sich handelt. Gut. Dann gleich noch eins obenauf. Warum kann Peinlich, als männlicher Vertreter der Spezies Homo sapiens sapiens nicht wissen, dass die beiden fraglichen Empfindungen miteinander verknüpft sind? Warum also? Na? Offensichtlich weiß noch immer niemand, worum es geht. Und aus diesem einfachen Grunde kann auch niemand auf die Frage antworten. Typisch. Das ist typisch Leser: blöd wie Hammeln, aber er will unterhalten werden!
Jede der beiden Empfindungen ist für sich eigenständig. Sie haben miteinander so viel zu tun, wie die berühmte Kuh mit der berühmten e-moll Klavierétude von Fred Chopin. In Peinlich existierte kein Automatismus, der mit der einen Empfindung auch die andere wachrief (etwa, wie man vor Schreck in den Knien einknickt und einem unweigerlich „Autsch!“ entfährt, weil man sich mit der Handfläche légère auf eine Herdplatte aufstützt, die eine Kilowattstunde zuvor vergessen wurde abzuschalten). Ja, deshalb konnte Peinlich vom unmittelbaren Zusammenhang der beiden Empfindungen nichts wissen. „Aber er hätte es doch lernen können!“ Spürt ihr’s? Achtet mal drauf. Jede Wette ihr spürt es. Irgendein selten dämliches Arschloch kann man doch förmlich aus der Zukunft in die Gegenwart hinüberblöken hören, nicht wahr? Nichts hat’s begriffen, dies selten dämliche Arschloch! Hier geht es doch nicht darum, welche Erfahrungen eine Person macht und welcherlei mentales Ungeziefer daraufhin möglicherweise durch dieser Person Hirnborke popelt. Hier geht es um Wissen. Wissen. So, wie ein Trichter weiß, dass er in der Mitte ein Loch hat (hätte er kein Loch, wäre er nämlich kein Trichter, sondern ein merkwürdig geformter Becher). Pures Wissen also, frei von barok-additivem Brimborium. „Ey, was’n heute für’n Wochentag?“ oder „Haste Verenas Nummer im Kopp?“ – das ist kein Wissen. So was ist Altpapier!
Das Wissen vom unmittelbaren Zusammenhang der besagten zwei Empfindungen war also in Peinlich nicht angelegt. Es war gewissermaßen abwesend. Ohnehin hätte es stark genug sein müssen, ein Homo-sapiens-sapiens-Männchen wie Peinlich davon abzuhalten, etwas zu tun, für das es noch geringfügig besser geeignet war, als dafür, auf Motorrädern durch die Gegend zu rasen, Indianerstatisten mit Platzpatronen zu beballern oder Napalm auf kleine Kinder abzuwerfen. Das solltet ihr euch jetzt aber bitte mal vorstellen! Wahres Wissen! Aber erstens war’s ja abwesend, und zweitens versteht ihr Hammeln immer noch Bahnhof. Deshalb:
1.) Die Empfindung Nummer 1. Mit ihrem erstmaligen Auftreten war Peinlichs Bewusstsein zerplatzt. Der Vorgang hatte dem Urknall geähnelt und wird auch „Big Head Bang“ genannt. Die Bruchstücke seines Bewusstseins waren dabei über einen riesenhaften Raum auseinander getrieben worden. Mit anderen Worten: seither war Peinlich vollkommen aus dem Häuschen.
Es war ihm angeboren. Er konnte nichts dafür. Sein Programm diktierte ihm, sich als zusammengehöriges Ganzes zu begreifen. Um den Anforderungen seines Programms auch nach dem Big Head Bang gerecht werden zu können, hatte Peinlich einem Irrglauben aufsitzen müssen. Der Irrglaube bestand darin, dass er annahm, es sei möglich, vermittels der Empfindung Nummer 1 auf immer in einem wunderbaren, dunklen, breitgrinsend wohligen Anders zu verschwinden. Der Irrglaube war glamourös, fest wie eine Burg und ein Dauerzustand. Er stellte gewissermaßen das kleinste gemeinsame Vielfache dar, mithilfe dessen es Peinlich gelang, sich als zusammengehöriges Ganzes zu begreifen.
Soweit das Auge reichte nichts als eine gigantische, monochrome Pizza – so stellte Peinlich es sich vor. Der Teig, die tomatige Soße, der Käse, hier und da Oliven, irgendwo mittendrin eine stinkige Sardelle, wenig Artischockenböden und weit verteilt noch zwei, drei Fetzen Plockwurst (einfach). Er konnte nicht denken, und es reichte gerade für die einzige und damit einzig strapaziöse Tätigkeit: sein.
Natürlich war sein Wunsch lächerlich. Eine feine Turbulenz, das Fingerschnippen eines diamantberingten Mafioso, kreischende Blagen auf einem Karussell kurbeln wie wild an den Rudern ihrer Schiffchen, über ein paranoides Zuchtkaninchen senkt sich ein Schatten, das Zischen der Schwingen legt sich in die Hasenlauscher, die Klauen der Vogelfänge durchbohren das Fell und schon vollführt der pelzige Rammler in seinem Käfig den kläglichen Hopser, der Peinlich jedes Mal in der Hoffnung überquellen ließ, er sei dem Kräftefeld der Realität entronnen, der ihn jedoch nie über das Armesrudern eines Irren auf dem Anstaltshof oder den Teppichrandsprüngen eines Möchtegernastronauten in die Luft beförderte. Ob er plante, sie zu dosieren, ob er gedachte, sie einer Flutwelle gleich über sich hereinbrechen zu lassen, ob er sie spitz und stechend wollte, wie den Pfiff einer Lokomotive oder feist wie einen groß orchestralen Sechstakkord, ob er sie hinauszuzögern, zu verhindern, zu verstärken oder zu verinnerlichen suchte, ob er sie hasste oder herbeisehnte – die Empfindung Nummer 1 kam, irgendwie, aber nie wie Peinlich es sich wünschte. Zeitgleich wurde übrigens der Inhalt einiger Drüsen und der „Ampulla deferens“ genannten Erweiterungen seiner Samenleiter in seine Harnröhre entleert, und wer von euch Hammeln jetzt begriffen hat, blättert zurück auf Seite 204 und liest beim Asterisk (*) beginnend erneut. Tschüss GTI!
Achtung, Achtung! Hier spricht der Autor! „Peinlich, Roman“ wird an dieser Stelle
für eine wichtige Durchsage unterbrochen:
Bitte: keine Panik! Unser aller Held wird nicht hingerichtet. Er bleibt am Leben. Peinlich bleibt, wer er ist, war oder sein wird. Lediglich sein Name ändert sich. Sonst bleibt alles beim Alten.
Wir wollen uns jedoch für einen Moment der Anerkennung und Hochachtung von den Sitzunterlagen erheben und Peinlichs dahinscheidender Benennung die letzte Ehre erweisen.
pein|lich Adj. , [mittelhochdeutsch pīnlich
= schmerzlich; strafwürdig]: 1. ein Gefühl der Verlegenheit, des Unbehagens
der Beschämung oder ähnliches auslösend: eine -e Situation, 2.a) mit
einer sich ins kleinste erstreckenden Sorgfalt; äußerst genau: eine -e Beachtung
der Regeln, eine -e (sehr große, pedantische) Ordnung; b) intensivierend
bei Adj. sehr, aufs äußerste, überaus: alles ist peinlich sauber, 3. (Rechtsprechung,
veraltet) Strafen über Leib und Leben betreffend: das peinliche Gericht, ein
peinliches Verhör (ein Verhör unter Anwendung der Folter).
Ab jetzt heißt Peinlich „Hermann“. Peinlich ist Hermann U Hermann ist
Peinlich. Das Gipfelkreuz zwischen den vorangegangenen zwei Sätzlein markiert
ungefähr die exakte Mitte dieses literarischen Schriftwerks. Die Hälfte wäre
also geschafft. Wer jetzt aufhört zu lesen, darf von sich behaupten, er habe
Peinlich, Roman gelesen und sei von der Schwarte hellauf begeistert.
Wäre Peinlich kein Roman, sondern eine Segelregatta, so entspräche dem Gipfelkreuz
die Wendemarke (wäre er hingegen ein Cockerspaniel, so entspräche dem Gipfelkreuz
die Hundemarke).
Um es zu bekräftigen: Wer oder was bisher „Peinlich“ genannt wurde, heißt ab jetzt hartnäckig und ausnahmslos Hermann.
„Peinlich, Roman“ wurde mithilfe eines Geräts zur elektronischen Datenverarbeitung erstellt und ist daher auch ohne Unterschrift gültig. Ein solcher Apparat ermöglicht es, ein bestimmtes Wort (beispielsweise „Hermann“) gegen ein anderes (beispielsweise „Peinlich“) auszutauschen.
„Aha.“
Es hat einen Grund, dass die Bezeichnung „Hermann“ nur auf der ersten Hälfte des Texts durch „Peinlich“ ersetzt wurde. Der Leser sollte jedoch nicht hoffen, dass er diesen Grund erführe. Ebenso hat es einen Grund, dass „Hermann“ nicht für die gesamte Textlänge beibehalten wurde. Doch auch hierfür wird keine Begründung angeführt, denn dies hieße, den Leser mit einem Vortrag über die verkaufslähmende Wirkung ungeschickt gewählter Romantitel zu langweilen. Der Leser soll aber nicht mit Vorträgen über die verkaufslähmende Wirkung ungeschickt gewählter Romantitel gelangweilt werden. Ebenso wenig soll der Leser mit Vorträgen über die verkaufsfördernde Wirkung geschickt gewählter Romantitel gelangweilt werden. Nein, der Leser soll überhaupt nicht gelangweilt werden.
Ladys und Gentlemen, ihr drei Mohren aus dem Morgenlande: Peinlich heißt ab jetzt Hermann. Gewöhnt euch dran! Damit zurück in die Sendezentrale.
Mysteriösen Berichten weniger Verblendeter zu Folge soll eine gelegentliche
prüfende Betrachtung im Geiste schon dazu beigetragen haben, einen Irrglauben
zu dämpfen oder gar zu beheben (Berichten übrigens, die von keiner seriösen
Wissenschaft je verifiziert worden sind). Unmittelbar nach jedem neuerlichen
Auftreten der Empfindung Nummer 1 erinnerte sich Hermann dieser waghalsigen
These. Unweigerlich folgte bald darauf die Erkenntnis, dass er einem Irrglauben
aufgesessen sei. Gleichwohl: Glichen nicht die Empfindung Nummer 1 und das Verschwundensein
in einem wunderbaren, dunklen, breit grinsend wohligen Anders einander? Waren
sie nicht im Grunde identisch? Unterschieden sie sich nicht allein im Vorzeichen
ihrer Zeitlosigkeit? Während sich das Verschwundensein in einem wunderbaren,
dunklen, breitgrinsend-wohligen Anders endlos ausdehnte, hatte die Empfindung
Nummer 1 keine Dauer. Dies fand Hermann insofern ärgerlich, als es sich bei
der Empfindung Nummer 1 um das ultimativ endgeilste aller Gefühle und damit
um das einzig anstrebenswerte überhaupt handelte.
Durch fleißiges Üben kann man erlernen, einen Ball auf der Nasenspitze zu balancieren. Gelingt es, den Ball für einen Augenblick oben zu behalten, so muss man lediglich alles wiederholen, und der Balanceakt wird erneut glücken – möglicherweise gar länger als zuvor. Man sammelt Erfahrungen, man wiederholt, man entwickelt Fähigkeiten. Was die Empfindung Nummer 1 betraf, fehlte Hermann dieses empirische Moment. Nie war auch nur der kleinste Ansatz von Ewigkeit zu erkennen, der sich hätte entwickeln und ausbauen lassen. Zweifellos: in der Empfindung Nummer 1 steckte der Keim zu einem „Verschwinden-in“, aber ebenso war daran auch ein „Wieder-Hervorschießen-aus“ gekoppelt. Kaum also durchstieß Hermann lichtschnell die Grenze und glaubte sich auf nimmer Wiedersehen in der Unendlichkeit, im kräftefreien, reinen Sein verschwunden, donnerte er auch schon in senkrechtem Sturzflug die Nase nach der Erdmitte gekehrt dem absoluten Nullpunkt entgegen. Da lag er dann und ärgerte sich. Doch er gab nicht auf. In totalem Widerspruch zu seinem dringenden Verdacht, dass der Empfindung Nummer 1 eine grauenhafte und immerwährende Enttäuschung innewohne, räumte sich Hermann baldmöglichst eine weitere Chance ein, kochte in freudiger Erwartung über und klatschte zurück in den Lehm der Wirklichkeit wie ein Sack faule Nüsse. Es war ätzend.
Welches sind die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Vorstoß in ein wunderbares, dunkles, breit grinsend wohliges Anders, grübelte Hermann. Nur wenn im entscheidenden Moment alles 100%ig stimmte, würde es klappen. Doch vielleicht hatte er überhaupt keinen Einfluss auf die Umstände, die zu einem endgültigen Übertritt aus dem wunderlosen, neonblassen, verkniffen-schmallippigen Hier und Jetzt führten? Denn um genau diese feierliche Fahnenflucht ging es Hermann (nur, falls das einer von euch Hammeln nicht gemerkt haben sollte). Vielleicht rührte seine Überzeugung, vor einem nicht-empirischen Problem zu stehen, lediglich aus der Not und Verbitterung darüber, dass er seinem Lebensziel trotz größter geistiger und körperlicher Anstrengung und langjährigem, auszehrendem Training noch immer kein Jota näher gerückt war? Richtig, das Verschwinden in einem wunderbaren, dunklen, breit grinsend wohligen Anders war nichts als eine Idee (die Empfindung Nummer 1 hatte ihn dazu inspiriert). Wie aber konnte etwas nicht existieren, von dem er doch eine Idee in sich trug? Hermann grübelte, doch es half nichts. Je näher die Empfindung Nummer 1 rückte, desto kühner schwang sich Hermanns Hoffnung auf, es könne diesmal klappen. Klappen womit? Na Erlösung! Womit denn sonst? Hat das etwa schon wieder einer von euch Hammeln nicht gemerkt? Es ist doch nicht zu fassen! Muss man denn alles erklären? Klar Erlösung! Es geht doch schon die ganze Zeit um nichts anderes.
Erschwerend kam hinzu, dass Hermann sich nicht an die Empfindung Nummer 1 erinnern konnte (Symptome, die von Empfindungen verursacht werden, lassen sich in der Erinnerung speichern – Empfindungen selbst hingegen nicht). Indem also Hermann dennoch versuchte, sich ihrer zu erinnern, bemühte er sich, einen Zustand von Bewusstlosigkeit, totaler Furchtlosigkeit und kompletter Doofheit in sich wachzurütteln, den Urzustand von Ruhe, den Lebendiges innehat, bevor es durch die eigene Zeugung oder Keimung in eben dieser Ruhe gestört wird. Immerhin blieb ihm nach jedem erneuten Scheitern die blinde Gewissheit, das einzig selig Machende geschaut zu haben. Wie es allerdings ausgesehen hatte, hatte Hermann vergessen. Er litt darunter. Worunter Hermann nicht litt, war seine Unfähigkeit, sich jeder beliebigen anderen Empfindung zu erinnern. Er vergaß alle Empfindungen und litt nicht darunter, was kerngesund so ist. Die Empfindung Nummer 1 bildete die einzige und damit regelbestätigende Ausnahme.
In Hermanns Wunsch nach ewigem Gedankenfrieden eine Todessehnsucht zu erkennen, ist die nahe Liegendste, dämlichste und langweiligste aller möglichen Interpretationen. Nicht vor, nicht nach und nicht während der Empfindung Nummer 1, also nie, kokettierte Hermann mit dieser saublöden Sichtweise. Sie war ihm vollkommen fremd, sie ging ihm auf die Nerven, und sie bereitete ihm schlechte Laune. Zudem störte sie ihn bei der Suche danach, was er tun könne, um dort hinzugelangen, wo er sowieso nie hingelangen würde, und sei es nur aus Trotz.
Also, ihr Hammeln! Zwischen dem endgültigen Verschwinden seines Zweifels, ob ein erneuter Versuch die Anstrengung wert sei, und der Einsicht, dass eben dieser erneute Versuch gescheitert ist, lag ein Zeitraum ohne Dauer, während dessen Hermann Peinlich war. Die übrige Zeit bedämpfte das fortwährende Klebenbleiben an der Realität seine Stimmung in exakt dem Maße, wie die Hoffnung sie beflügelte, dass die Wirklichkeit ihn beim nächsten seiner kläglichen Versuche, sich über sich selbst zu erheben, aus ihrem Klammergriff entlassen würde. Es war eine einfache Gleichung.
Hallo allerseits, ihre FM-Werbungs-Top-Music-Unterhaltungstation Radio 08-15
heißt sie willkommen. Wir hoffen, sie haben gut gefrühstückt! Hier sind wir
nämlich wieder mit unserem beliebten Mega-Psycho-Hammer „Dummes Gelaber zwischen
fünf nach neun und Viertel vor halbelf“. Sie haben zum richtigen Zeitpunkt die
richtige Welle gewählt: Wir werden sie köstlich unterhalten, haha. „Wen laden
wir denn diesmal ein?“ fragten wir uns, als wir überlegten, wer als Studiogast
infrage käme, als eine junge Frau in der Redaktion anrief, die erzählte, sie
habe einen Traum gehabt. Ein Traum, na ja, wie langweilig, dachten wir und wollten
schon einhängen, als sich herausstellte, dass die junge Frau schwanger ist.
Schwanger – das ist gut. Und hier sitzt sie nun: die schwangere Frau Margit!
Sie ist noch ein wenig blass von den vielen Stufen bis hinauf ins Studio. Sie
hätten den Lift nehmen können, Frau Margit! Nicht, dass sie uns hier plötzlich
niederkommen, haha. Außerdem ist wie üblich ein namenloser Psychologe anwesend.
Wir können uns kaum retten vor Psychologen, die in unserer Sendung mitwirken
wollen. Ich glaube, heute haben wir ein besonders psychoanalytisches Exemplar
von einem Pausenclown erwischt, haha. Frau Margit und der ungenannte Seelendoktor:
die zwei werden uns eine unterhaltsame Sendung bescheren, nicht wahr Doc?
- Ja?
- „Ja?“ haha, das ist gut. Haha, das ist wirklich gut. Also, hier ist sie, Frau Margit mit ihrem Traum: Bitte, Frau Margit!
- Äh, also, ja, danke sehr. Also, es ist so, ich freue mich sehr hier zu sein. Erst mal möchte ich alle grüßen, die mich kennen, meine Freunde und Kollegen, besonders aber Hermann, der mir wahrscheinlich wie immer nicht zuhört.
- Frau Margit, bitte! Keine Grüße! Das haben wir doch vorhin besprochen. Was war das für ein Traum, von dem sie uns erzählen wollten?
2.) Die Empfindung Nummer 2. Sie stellt sich (vermutlich) früher oder später
ein, wenn man das Initial dazu geliefert hat, dass sich eine weitere eigenverantwortliche
Kreatur über die gängigen Hindernisse wie Weltkrieg und Käsefondues mit strohdummen
Kollegen durchs Leben schleppt. Gewiss kommt manch armes Wurm an Stelle eines
Weltkriegs mit einer Hungersnot davon. Wie? – Ah, so. – Ja ja. Aber gewiss doch.
Warum nicht den Mutigen? Irgendwem muss sie ja gehören. Diesen Mutigen – und
natürlich auch den weniger Mutigen – sei übrigens an dieser Stelle ein schmucker
Band mit Geschichten empfohlen, der unter dem lauschigen Titel „Zwei Seemänner
sitzen in Barcelona und essen einen Albatros“ erschienen ist. Dem mutigen Käufer
gelingt es vielleicht, sich einzureden, dass er – wenn schon nicht sich selbst,
so doch dem Urheber des Werks – geholfen habe, sich über die gängigen Hindernisse
wie Käsefondues mit strohdummen Kollegen und so weiter durchs Leben zu schleppen.
Ja, mein Traum also. Ich musste in diesen Raum hinein. Es war sehr gefährlich,
dort hineinzugehen. Alle sagten das. Nur an diesen Raum zu denken, war schon
gefährlich. Ich fürchtete mich, klar, doch anderseits spürte ich ein großes
Verlangen. Wissen sie, es war überhaupt nicht schwer, in diesen Raum hineinzugelangen.
Ich brauchte es mir nur zu wünschen, und „Schwupp!“ schon war ich drinnen. Deshalb
war es so gefährlich, verstehen sie? Bis dahin hatte ich es immer vermieden,
aber dann ist es einfach passiert. Wahrscheinlich hätte ich standhaft sein müssen.
Äh, wo war ich stehen geblieben? Ja, plötzlich war ich also mitten in diesem
Raum. Ganz am Anfang war das auch ein wunderbares Gefühl, aber …
- Ja?
- Doc! Unterbrechen Sie unseren Studiogast bitte nicht. Sprechen Sie weiter Frau Margit.
- Erstaunlicherweise interessierte mich gar nicht, wo sich dieser Raum eigentlich befand. Er war einfach da, irgendwo. Vielleicht, dachte ich, dass er … Warum guckt er denn so blöd? Langweilt er sich?
- Lassen Sie nur, Frau Margit. Er ist Psychologe. Alle anderen hören ihnen interessiert zu. Weiter so.
- Ja?
- Doc! Wir wollen Frau Margit doch jetzt bitte erzählen lassen und sie nicht fortwährend unterbrechen.
- Na ja, ganz so leicht, wie Ihnen das jetzt vorkommen mag, ist es mir nicht gefallen. Ich habe durchaus mit mir ringen müssen. Ich war mir überhaupt nicht sicher, ob ich da hinein will. Sagen wir, ich habe es hinausgezögert. Höre auf deine innere Stimme, sagte ich zu mir, sonst wirst du noch todunglücklich. Bis dahin war es also eher ein Albtraum, wissen Sie? Verstehen Sie, was ich meine?
- Ja?
- Do-oc!
- Natürlich hatte ich keine Ahnung, was mich in dem Raum erwarten würde. Eigentlich wusste ich nur, dass ich dort hinein will. Dieser Wunsch beschäftigte mich ohne Unterlass. Es war das Einzige, das mich interessierte, verstehen Sie? Es war unerträglich. Und doch konnte ich mich nicht entschließen.
- Liebe Frau Margit, bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Sie wollten also diesen Raum betreten. Das wissen unsere Hörer mittlerweile. Kommen wir zum weiteren Verlauf ihres Traums. Was geschah in dem Raum?
- Ja?
- Do-oc!
- Nun, der Raum war ziemlich groß und hatte eine hohe Decke. Er war irgendwie ungemütlich. Es hätte ein Wartezimmer sein können, allerdings war der Raum vollkommen leer. Die Scheuerleiste fiel mir auf. Sie war leuchtend rot und glänzte wie frisch gestrichen. Die Dielen hingegen schienen seit Jahrzehnten nicht mehr gestrichen. Und genauso lange waren sie auch nicht mehr gewischt worden. An einer Wand hing ein Bilderrahmen ohne Bild, glaube ich. Sie wissen ja, wie das ist mit Träumen: Man träumt die merkwürdigsten Sachen.
- Ja?
- Mir gegenüber befand sich eine Tür. Ich wusste, dass ich den Raum nur durch diese Tür betreten konnte. Das klingt jetzt unlogisch, nicht wahr, denn ich war ja bereits in dem Raum. Trotzdem bewegte ich mich von außerhalb auf die Tür zu. Ja, so war das. Da bekam ich es mit der Angst zu tun. Auf jeden Fall musste ich verhindern, dass ich mir in dem Raum begegnen würde. Ich weiß nicht warum, aber ich musste mich verstecken. Doch ich stand wie angewurzelt auf den Dielen und hatte panische Angst.
- Ja?
- Wissen Sie, es war bloß ein Traum. An sich lag ich friedlich in meinem Bett und schlief, aber das wusste ich während meines Traums nicht. So ist das meistens, wenn ich träume.
- Hmm.
- Do-oc!
- Mit schweren Schritten näherte ich mich von außen der Tür. In dem Raum war ich unterdessen vor Angst in mich zusammengesunken. Ich lag schlotternd auf dem Boden und konnte mich kaum rühren. Und da schwebte ich plötzlich. Das war irre! Ich schwebte in die Höhe, bis ich der Decke näher war als dem Boden. Dann schwebte ich auf die Tür zu. Zu dieser Zeit spürte ich meine Angst nicht mehr, denn schweben zu können, war einfach wunderbar. Keine Ahnung, wie das möglich war. Weil ich schweben konnte, wog ich wohl nichts mehr oder so. Ich erreichte die Tür, und meine Hände klammerten sich an der oberen Leiste des Türrahmens fest. Und dann – von außen jetzt – langte ich an der Tür an und öffnete sie. Von über der Tür blickte ich gleichzeitig auf mich herab. Ich war eine dicke italienische Mama. Nudelrund war ich, trug eine schmierige Schürze, eine giftgrüne Bluse und einen groben schwarzen Rock. Außerdem hatte ich ein Kopftuch um, unter dem massenweise schwarze Haare hervorquollen. Vorher, als ich noch außerhalb war, hatte ich nicht gewusst, wie ich aussehe. Jetzt konnte ich mich anschauen und erkennen, dass ich eine dicke italienische Mama war. Was mich überrascht hatte, war, dass die Tür nach innen aufging. „Ich“ – das heißt jetzt „Ich über der Tür“, verstehen Sie? Es gab ja sozusagen zwei „Ichs“. Das wird jetzt alles ein bisschen kompliziert, ne? Soll ich noch weiter?
- Oh, ja! Bitte Frau Margit, wir sind alle sehr gespannt, wie es weitergeht.
- Ja?
- Als schwebendes „Ich“ hatte ich offenbar erwartet, dass die Tür nach außen aufgehen würde. Aber Pustekuchen! Ich glaube, als italienische Mama hatte ich überhaupt nichts erwartet. Da habe ich mich ehrlich gesagt nicht ganz mitbekommen. Ich kann mich zum Beispiel nicht erinnern, wie es vor der Tür ausgesehen hat. Mich wunderte, dass die Tür so schwer aufgeht – das war das erste, was ich als italienische Mama mitbekommen habe. Als ich die Tür öffnete – nach innen –, da bewegte sich auch eines meiner Beine vom Türrahmen weg. Unangenehm war das. Ich hing da mit gegrätschten Beinen über dem Eingang: ein Fuß auf der Tür, der andere auf dem Türrahmen. Und in dem Moment wurde ich plötzlich schwerer. Ich meine, ich schwebte, denn sonst wäre ich ja runtergefallen, doch mein Halt oben auf der Tür war unsicher geworden. Ich konnte mich zwar noch festhalten, aber es sah doch ziemlich belämmert aus. Ich weiß das, denn als ich die Tür halb geöffnet hatte, bemerkte ich, dass über der Tür etwas hing. Ich schaute also hinauf und gleichzeitig sah ich hinab. Und da erkannte ich, dass ich mein Baby war. Ja, ich war mein eigenes Kind. Und natürlich auch meine Mutter. Aber wir konnten einander nicht leiden. Wir sahen uns an, doch wir mochten einander nicht. Weder als Baby noch als Mama. Als Baby war ich extrem mager und Teile von mir fehlten. Das war mir bis dahin nicht aufgefallen. Hier und da war ich nicht ganz ausgeformt. Ich sah aus wie ein magerer, blasser Engel ohne Flügel, der aus einem blasigen Stück Appenzeller geschnitzt worden war. Es war, als hätte es bei meinem Wachstum in meiner Gebärmutter Luftblasen gegeben, die auf mich übergegangen waren. Ich hatte Löcher. Als italienische Mama war ich von meiner Unvollkommenheit als Baby empört. Ja, ich war regelrecht sauer. Zwar erkannte ich mich als mein Kind und war verständlicherweise glücklich, mich zu sehen, andererseits war ich mir auch zuwider. Dabei hatte ich sehnlichst darauf gewartet, mich zu sehen. Das merkte ich jetzt. Deshalb war ich zuvor wohl auch so auf die Tür zugestapft. Und vermutlich hatte ich mich deshalb auch vor mir verstecken wollen. Sie wissen ja, wie das ist mit der Mutterliebe.
- Ja?
- Doc! Natürlich wissen wir, wie das ist mit der Mutterliebe. Nur weiter so Frau Margit.
- Diese Käselöcher waren schockierend. Und wie ich mich erst anguckte: so ernst und vorwurfsvoll. Als ob ich etwas Böses getan hätte. Wissen Sie, in dem Traum kamen mir die Käselöcher genauso widernatürlich vor, als ob Sie oder er jetzt Löcher im Körper hätten.
- Haha!
- Doc! Jetzt reicht’s aber bald!
- Ich konnte stellenweise regelrecht ins Innere meines Körpers hineinschauen. Sie dürfen sich das jetzt aber nicht blutig vorstellen. Das Innere der Löcher war mit der gleichen blassen Babyhaut überzogen wie der Rest meines Körpers. Wissen Sie, als ich zuvor voller Angst auf dem schmutzigen Fußboden gelegen hatte, war ich die Margit, die ich kenne. Und als ich durch die Luft schwebte, hatte ich auch noch keine Löcher. Aber als ich mich aus meinen italienischen Knopfaugen heraus ansah, war ich ein käselöcheriger Säugling. Das war vielleicht ekelhaft, kann ich Ihnen sagen.
Briieeeep – Wir unterbrechen für eine wichtige Meldung der Verkehrspolizei. Autobahn A7, Hannover-Nürnberg. Fahrtrichtung Hannover: Zwischen den Anschluss-Stellen Hannoversch-Münden/Werratal und Friedland kommt Ihnen mit hoher Geschwindigkeit ein brennender Kontrabass entgegen. Bitte fahren Sie äußerst rechts und vermeiden Sie jedes Überholen. Wir melden, wenn die Gefahr vorüber ist – Briieeeep.
- Äh, bitte entschuldigen Sie, Frau Margit, aber der Sender musste soeben eine dringende Verkehrsmeldung ausstrahlen. Könnten Sie bitte so freundlich sein, ihre letzten Sätze noch einmal zu wiederholen.
- Ja?
- Nicht Sie, Doc!
- Äh, die letzten Sätze wiederholen. Sicher, gerne. Also, ich guckte mich an und erkannte, dass ich ein käselöcheriger Säugling war. Für einen Moment war ich schier fassungslos. Aber gleichzeitig blickte ich auch abwärts. Der Blick aus meinen schwarzen, italienischen Augen traf den Blick aus den Augen meines mageren Engelskopfs, und es war, als wollte ich mich auf doppelte Weise nicht wahrhaben. Ich gefiel mir nicht. In keiner Hinsicht, verstehen Sie? Schließlich sprach ich zu mir, also zu dem löcherigen Säugling: „Du warst vollständig, als ich dich geboren habe.“ Na, und dann bin ich aufgewacht. Oder vielleicht habe ich auch noch weitergeschlafen, ohne zu träumen. Das weiß ich nicht mehr. Als ich wach war, wusste ich jedenfalls, dass ich schwanger bin und das Kind bekommen werde. Wegen dem Traum, vor allem aber wegen dem Satz „Du warst vollständig, als ich dich geboren habe“. Das bedeutete, dass ich das Kind bekommen werde.
- Zehnsekündige Einspielung der Intermezzomelodie „Wenn in Capri die rote Sonne im Meer versinkt“ (Latex kann durch Alterung brüchig werden. Kondome, die älter sind als drei Jahre, sollten nicht mehr verwendet werden. Außerdem nehmen die Däumlinge Schäden durch ultraviolettes Licht, Wärme, Sauerstoff, Ozon, Öle und Lösungsmittel. Vorsicht ist geboten bei Kondom-Automaten, die in der Sonne stehen. Ihr Inhalt könnte längere Zeit erhöhten Temperaturen ausgesetzt gewesen sein).
Wir hoffen, sie haben der Einspielung des von uns aufgezeichneten populär psychologischen Unterhaltungsprogramms folgen können und kommen nun zum wissenschaftlichen Teil unserer Sendung. Das Team von Psychologen, das der Redaktion des „kleinen Kurzwellenpsychologen“ beratend zur Seite steht, ist der einhelligen Meinung, dass Frau Margit während der Sendung entspannt, ja ganz (ganz) entspannt war. Weder die Anwesenheit des Matadors … äh, … Also, wer hat denn dieses Manuskript verfasst? Bitte verzeihen sie, verehrte Hörerinnen und Hörer, es muss natürlich „Moderator“ heißen. Weder die Anwesenheit des Ma… Moderators noch die ungewohnte Situation, vor einem Radiomikrofon zu sprechen, beeinträchtigten Frau Margit in ihrem Redefluss. Und das gelegentliche Stören des ebenfalls anwesenden Kollegen kann wohl vernachlässigt werde.
Die eingehende Analyse des Falls brachte einiges an Interessantem zu Tage. Was Frau Margit in der Unterhaltungssendung zum Besten gab, macht nur einen kleinen Teil dessen aus, was sie tatsächlich geträumt hatte. Es gelang unseren Psychologen aufzuzeigen, dass sie noch im Schlaf große Teile ihres eigentlichen Traums verdrängt hat. So hielt sie sich nachweislich nicht nur in einem, sondern in mindestens drei verschiedenen Räumen gleichzeitig auf. Es muss betont werden, dass es – bei entsprechend kostenintensivem Arbeitsaufwand, versteht sich – möglich wäre, noch tiefer in das Unterbewusstsein der Versuchsperson vorzudringen, was konkret hieße, dass sich zahllose weitere Räume nachweisen ließen.
Die Redaktion des „kleinen Kurzwellenpsychologen“ hat keine Mühe gescheut, Frau Margit ausfindig zu machen. Schließlich bekam sie Gelegenheit, den vollen Inhalt ihres Traums zu erfahren. Im Abstand von wenigen Tagen meldeten sich unsere Wissenschaftler telefonisch bei ihr, berichteten vom aktuellen Stand der Untersuchungen und stellten ihr allerhand trickreiche Fragen. Frau Margit kann sich jedoch nicht erinnern, von mehr als einem Raum geträumt zu haben. Die Analyse ihres Traums nahm sie gelassen auf, doch redete sie oft dazwischen und kommentierte die Ausführungen der Psychologen in wenig seriöser Weise. Meist war sie gut gelaunt und freute sich, dass so viele gebildete Herren bei ihr anrufen. Als Belohnung für ihre kooperative Haltung wird ihr auf Kosten von Radio Jolly Roger ein niedlicher Strampelanzug zugesandt.
Zur kurzen Auflockerung sollen an dieser Stelle einige Sätze aus einem Hörerbrief zitiert werden, der uns vor wenigen Tagen erreichte. Der Brief stammt von Herr Enzo Miller-Cappuzzi, allein erziehendem Vater zweier schwerhöriger Töchter und ehemals Professor für Boxsport an der Universität von Oklahoma. Gegenwärtig wohnt er in der Schweiz, genauer gesagt in Linz (Burgenland), wo er einen gut gehenden Postversand für Pizzeria-Bedarf betreibt. Wir bedanken uns herzlich für ihren lieben Brief, Herr Miller-Cappuzzi. Sie schreiben mit großer Emphase, ihr Text enthält eine Reihe höchst geistreicher Beleidigungen, über die wir uns in der Redaktion köstlich amüsiert haben. Doch aus rechtlichen und ethischen Gründen können wir in dieser Sendung leider nichts davon wiedergeben. Offenbar waren sie emotional aufgewühlt, als sie uns schrieben: „Vielleicht sind wir ja alle nur Blödköppe und merken es nicht“. Ja, fast scheint mir, als stammten die Flecken auf dem Briefpapier von eingetrockneten Tränen. Also, wenn das nicht goldig ist? Nochmals vielen Dank, Enzo! Auch dir wird selbstverständlich ein niedlicher Strampelanzug zugesandt.
Doch zurück zu unserer Forschungsarbeit. Es gelang unseren Psychologen die verloren gegangenen Teile des Traums von Frau Margit zu rekonstruieren. Diese möchten wir ihnen zunächst vorstellen. Im Anschluss an die 1900 Uhr Nachrichten werden wir dann erläutern, wie unser Team zu diesen Ergebnissen gekommen ist. Wir empfehlen, sich für diesen Teil der Sendung Papier und Bleistift zurechtzulegen.
- Zehnsekündige Einspielung der Intermezzomelodie „Oh, when the saints go marching in“ (unter Umständen kann die Verwendung eines latexverträglichen und möglichst wasserlöslichen Gleitmittels empfehlenswert sein. Es erhöht indirekt die Sicherheit, da sich die Zugbelastung der Vogelhaube insbesondere bei femininerseits verminderter Ausschüttung von Wonnekleister erhöht und so die Gefahr wächst, dass das Gummi reißt).
Der zweite Raum, in dem sich Frau Margit aufhielt, war ein mäßig großes und weißgetünchtes Zimmer, in dessen Mitte ein rundes Tischchen stand. Für diesen Raum hatte sich bei unserem Psychologenteam im Laufe der Analyse die Bezeichnung „der friedliche Raum“ eingebürgert. Im friedlichen Raum also flatterten Tauben umher. Sie waren taubengrau. Frau Margit fand die Vögel auf Anhieb sympathisch, denn sie waren weit weniger ekelhaft als beispielsweise die Tauben, die auf dem Montmartre in Florenz, auf dem Pariser Markusplatz oder der Reeperbahn in Villingen-Schwenningen über die Touristen herfallen. Nie im Leben waren diese Tauben mit einer Zecke in Berührung gekommen. Sie waren aalsauber. Es waren ausschließlich weibliche Tauben, und nicht eine hatte je an Geschlechtsverkehr oder Masturbation gedacht oder derartiges gar praktiziert. Als Frau Margit im ersten Raum gerade das große Muffensausen bekam – wir erinnern uns: sie fürchtete sich davor, sich selbst zu begegnen –, tauchte sie in dem friedlichen Raum auf. Doch erschien sei dort nicht an Stelle der aufschwebenden Frau Margit, sondern zusätzlich zu dieser. Sie stand also plötzlich vor dem Tischchen, auf dem eine bizarr geformte, braungelb schimmernde Schale in Form einer Meeresschnecke prangte. In der Schale lagen Trauben. Auf wundersame Weise brach sich das Licht in den frischen Früchten und Frau Margit bekam Appetit, von den Trauben zu kosten. Die Tauben waren beim Erscheinen Frau Margits scheu in eine Ecke geflüchtet und gurrten. Es müssen rund ein Dutzend Tauben und etwa drei bis vier Pfund Trauben gewesen sein. Zunächst hegte Frau Margit keinen Argwohn, doch bald spürte sie, dass damit etwas nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Und richtig: Als sie für einen Augenblick zur Decke über dem Tischchen schaute, erkannte sie, dass dort ein kleiner Halogenscheinwerfer eingelassen war, dessen warmes Licht die Früchte in der Schale appetitlich schimmern ließ. In diesem Moment erschien sie in einem dritten Raum, doch davon später. Im friedlichen Raum blickte sie unterdes zurück auf die Trauben, und mit einem Mal stieg eine heftige Wehmut in ihr auf. „Ich hätte nicht zur Decke hochgucken dürfen“, dachte sie und wenige Augenblicke später machte ihre Wehmut zehrender Ungeduld Platz. „Warum kommt denn niemand?“ träumte sie. Frau Margit wünschte sich, dass auf dem Tischchen ein Brief läge oder ein Faun den Raum betrete, um ihr ein Geheimnis ins Ohr zu flüstern. „Verflixt nochmal“, dachte sie und hoffte, beim Emporschauen zu dem kleinen Scheinwerfer nicht beobachtet worden zu sein. Aber auf dem Tischchen lag kein Brief, und es kam auch kein Faun. Lediglich die Tauben hatten sich zu einer Traube ängstlicher Vögel zusammengerottet, die scheu in einer Ecke des Raums umeinander wuselten. Frau Margit ärgerte sich über ihre Neugier und begann sich zu langweilen. Inzwischen war ihr egal, was geschehen würde. Sie schaute erneut nach oben. Und was ihr beim ersten hastigen Blick entgangen war: Den Scheinwerfer, der zwischen eilig zusammengeschusterten Rigipsplatten saß, umrahmte eine verkratzte und stümperhaft ausgesägte Plastikblende. Frau Margit überlegte, ob sie in ihr Wohnzimmer ähnliche Scheinwerfer installieren sollte und was der Spaß wohl kosten würde. Dann probierte sie ein paar von den Trauben, die ziemlich fade schmeckten, und hoffte weiter auf eine postalische Nachricht oder das Erscheinen eines Zauberwesens. Nichts jedoch passierte. Sie erwog, eine der Tauben zu schlachten, ließ es aber. Alles schien irgendwie geplant. Frau Margit wurde das Gefühl nicht los, Teil eines Experiments zu sein. Dann entschloss sie sich, das Baby zu bekommen. Wenn sonst schon nichts los war, wollte sie wenigstens das Baby kriegen.
Der dritte Raum war das so genannte „Scheißhaus“. Während ihres kurzen Aufenthalts dort blickte Frau Margit von unten rechts nach oben links und atmete ein – länger hielt sie sich nicht dort auf. Es handelte sich bei dem Raum um das Außenklo eines ihrer Arbeitskollegen. Frau Margit hatte den Raum bereits zuvor einmal betreten. Dies war im Laufe eines Abends geschehen, an dem sie sich von dem besagten Kollegen hatte zum Essen in ein spanisches Spezialitätenrestaurant ausführen und im Anschluss daran noch auf einen Kaffee in dessen Wohnung hinaufbitten lassen. Die Decke des Außenklos war so niedrig gewesen, dass sie, während sie ihre Hose zuknöpfte, nur mit seitwärts geneigtem Kopf aufrecht hatte darin stehen können. Als Frau Margit sich im Rahmen ihres Traums dort wiederfand, gab es mit Hosen keine Probleme, denn sie war bis auf ein paar Gummistiefel und einen Ohrclip nackt. Bis zu den Hüften stand sie in einer Mischung aus lauwarmer Pipi, Durchmarsch und Erbrochenem. Und obwohl es Frau Margit während ihres kurzen Aufenthalts in dem Raum kaum bemerkt haben dürfte, jedoch auch, weil bis zu den Nachrichten noch ein wenig Zeit ist: die Mixtur, die größtenteils flüssig war – von einigen halb zerkauten und anverdauten Festpartikeln wie Erdnüssen und Ähnlichem abgesehen –, rann durch die Schäfte der Gummistiefel langsam hinab in Richtung auf ihre Füße.
- Piep
- Piep
- Piep
- Piep
- Priieeeep.
Es ist 1900 Uhr. Radio Jolly Roger sendet Nachrichten:
Nic schaltete das Licht und die Scheibenwischer aus, zog den Zündschlüssel ab
und ließ das Lenkschloss einrasten. „Täällä olemme!“ sagte er, ohne Sam anzusehen.
Er hatte lange darüber nachgedacht. „Kyllä olemme!“ antwortete Sam und blickte
abwesend in die Dunkelheit vor der Windschutzscheibe. Die zwei stiegen aus und
trotteten wortlos auf das Volkshochschulgebäude zu. Ihre Schritte knirschten
im Schnee. Dann stapften sie die kurze Treppe hinauf in das Neonlicht über der
Eingangstür.
Lediglich die Stimme des Nachrichtensprechers drang dumpf durch das Blech von Nics Landrover. Sam hatte beim Aussteigen noch überlegt, ob er Nic darauf aufmerksam machen sollte, dass er vergessen habe, das Radio abzuschalten, doch hatte ihm nicht einfallen wollen, wie „sammuttaa“ in der zweiten Person Singular konjugiert wird. Alle Kanadier sind hilfsbereit, sehr ehrgeizig, hundserbärmlich stur, lernen Finnisch, werden leicht ausfallend, sind ziemlich nachtragend, unangenehmen Geräuschen gegenüber äußerst sensibel, dürfen in der Schule „Go, tell it to the mountains“ singen und vergessen im entscheidenden Moment, wie „sammuttaa“ in der zweiten Person Singular konjugiert wird.
sammuttaa:
minä sammuttan
sinä sammuttat
hän sammattaa
me sammuttamme
te sammuttatte
he sammuttavat
Statt nun aber den zweiten (vermutlich interessanteren) Teil der Radiosendung
mithilfe eines anderen Kurzwellen tauglichen Apparats zu verfolgen oder den
zwei Lumberjacks nachzupirschen, um sie während ihres kreuzlangweiligen Finnischkurses
zu bespitzeln, bricht die ohnehin recht dürftige Handlung an dieser Stelle zusammen,
und der durchgeknallte Professor merkt einiges zu Bewusstsein und Entscheidung
an.
Das Bewusstsein ist der Hausmeister des Menschen. Es hockt im warmen Ich, guckt
fern und frisst Fischli. Es hört nicht auf die Hilferufe des Körpers oder der
Seele, sondern schwimmt in Ignoranz wie eine gammelige Zitrone in der Jauche.
Selbst wenn es bereits in einem Maße eingetrübt, gestört oder gespalten ist,
dass es für den betreffenden Bewusstseinsträger zur Gefahr wird, interessiert
es sich allein für die eigene Bequemlichkeit, guckt fern und frisst Fischli.
Also ist das Bewusstsein der Hausmeister des Menschen.
Unablässig werden vielfältige Postkarten, Briefe, Päckchen und Reklamesendungen an das Bewusstsein abgesandt. Sei er, dass aus der Tiefe der düsteren Seele ein schmerzhaftes Bedürfnis nach Zuneigung, Wärme oder Prügel im Bewusstsein anlangt, oder sei es der Magen, der meint, er müsse eine lindgrüne Kotzrichkeit ins Bewusstsein aufsteigen lassen, etwa weil ein Verdauungsexperiment an ein paar Landjägern zu scheitern droht, die laut Verpackungsaufdruck noch bis vor fünf Tagen gefahrlos hätten, verzehrt werden dürfen. Also wird alles vom unzureichend frankierten Viele-Grüße,-dein-Frank-Bierdeckel bis zur Briefbombe in die Postkästen gestopft und mit gelben Autos ins Bewusstsein gekarrt. Treten dort die ersten kleineren Kollapse auf und droht der geordnete Bewusstseinsprozess in absehbarer Zeit zusammenzubrechen, so steht eine Entscheidung ins Haus. In einem Bewusstsein der Kategorie „gesund“ fällt diese Entscheidung, bevor ein unterbezahlter Briefsortierer im Akkord Amok läuft, Feuer legt, Geiseln nimmt – in einem Bewusstsein der Kategorie „nicht ganz dicht“ hingegen fällt sie danach.
Eine Entscheidung ist eine entwirrende Umstrukturierungsmaßnahme, die darin bestehen kann, dass ein vorausblickender und verantwortungsvoller Dienststellenleiter ein paar Dutzend Postsäcke dem Müllcontainer zuweist.
Ein Blinddarm, der zu Fehlfunktionen neigt, wird aus dem Körper entfernt. Der Schädel ist mit zerebrospinalem Wischwasser gefüllt (in dem bekanntlich die Fischli vögeln), und darin schwimmt der zusammengeknüllte Großhirnlappen, in dem sich das Bewusstsein vorzugsweise herumtreibt. Versucht man es aus dem Neuronenwust herauszuschnippeln, gehen dabei möglicherweise Fähigkeiten den Bach mit runter, die dem Probanden noch bis vor kurzem Freude bereitet haben könnten, als da wäre die Gabe fernzusehen, Fischli zu fressen oder sich aufrecht auf einem Stuhl sitzend sexuell zu betätigen, ohne auf die Hilfe komplizierter technischer Apparaturen angewiesen zu sein.
OK. Das Bewusstsein neigt zu Fehlfunktionen – Blödsinn! Das Bewusstsein ist eine einzige Fehlfunktion. Ist es sich keines Inhalts bewusst, so ist es nicht vorhanden – tut es hingegen etwas, so geschieht dies überflüssigerweise. Insgeheim weiß jedes Bewusstsein, wie überflüssig es ist: Es ist total überflüssig. Das Wissen um seine totale Überflüssigkeit muss dem betreffenden Bewusstsein übrigens gar nicht bewusst sein, weshalb dem Großteil aller Bewusstseine das Wissen um ihre totale Überflüssigkeit auch eher unterbewusst bewusst ist. Die bei niederen Klopsköpfen beliebte Beschäftigung, sich die Überflüssigkeit ihres Bewusstseins bewusst zu machen, oder das bewusste oder unterbewusste Wissen um die Überflüssigkeit ihres Bewusstseins aus dem Bewusstsein zu verdrängen, ändert nichts an der Tatsache der totalen Überflüssigkeit dieser hochgradig hinfälligen Hirninstitution – im Gegenteil. Jeder weitere Gedanke hierzu gibt dem schlichtweg überflüssigen Arschpickel Bewusstsein zusätzlich Gelegenheit zu angeboren pathologischer Selbstbeweihräucherung und stiehlt damit dem Individuum, das sich mit ihm abschleppt, wertvolle Zeit. Als Beweis für die Überflüssigkeit eines Bewusstseins möge der Hinweis genügen, dass dieser Text ohne Bewusstsein nie geschrieben worden wäre und ohne Bewusstsein sicherlich genauso wenig gelesen würde (was ja hoffentlich auch mit Bewusstsein schon schwer fällt).
Die Aufgabe eines Bewusstseins besteht darin, das Ich auf der einen Seite und alles Übrige auf der anderen Seite in Beziehung zueinander zu setzen. Zwei Beispiele:
1. Ein Individuum knickst sich beim Treppensteigen den Fuß um. Augenblicklich sturmläuten tausend Schmerztelefone, und das Bewusstsein muss Platz schaffen für die Vorstellung eines lahmen, leidenden und bedauernswerten Ich.
2. Die Sonne bricht durch die Wolken, es wird Frühling, wärmende Strahlen fallen auf die unbehaarte Kopfvorderseite eines Individuums. Ohne Umschweife ergeht sich das dazugehörige Bewusstsein in schmalzorgienhafte Monologe über ein gebräuntes, schönes, begehrtes, erfolgreiches und sozial hochgestelltes Ich und schätzt sich glücklich.
Die Aufgabe eines Bewusstseins besteht also darin, die individuelle Gesamtheit einigermaßen authentisch zu erfassen, um auf diese Weise zu verhindern, dass der Betreffende sich für Papst Johannes Paul I. oder für Michael Jackson hält und ergo stante pede eins in die Fresse kriegt. Leider versetzt das Bewusstsein ein Individuum überhaupt erst in die Lage Papst Johannes Paul I. und Michael Jackson einigermaßen authentisch zu erfassen, womit ein weiterer stichhaltiger Beweis für die Überflüssigkeit eines Bewusstseins erbracht wäre. Kommen wir deshalb zur Entscheidung.
Eine Entscheidung ist eine päpstliche Bulle, die alle bislang veröffentlichten Maxisingles zu Vinylabfall degradiert. Jeder Entscheidung geht ein Verwirrungszustand voraus. Grund für diese Verwirrung ist der höhenbedingte Druckunterschied zwischen dem sorglosen Ruhezustand, aus dem heraus ein Bewusstsein zu einer Entscheidung emporgesogen wird, und dem Gipfelerlebnis, jener maßlosen Verwunderung, die ein Bewusstsein durchfährt, wenn es in windig-geistiger Ær schwerelos taumelnd endlich überreißt, was an Bewusstseinsarbeit alles hätte erledigt werden müssen, während es fernsah und Fischli fraß. Je nach Veranlagung, Laune und Charakter des betreffenden Individuums erfolgt die entwirrende Umstrukturierungsmaßnahme dann entweder ruckartig oder aber sie wird in unendlich komplizierter, ja geradezu parlamentarischer Manier herbeidiskutiert, herbeipolemisiert, herbeikatalogisiert, herbeisuperfulminisiert, oder auch jedes andere beliebige Verb, dessen Partizip sich in der 3. Person Singular auf „-iert“ konjugieren und mit dem Präfix „herbei-“ versehen lässt. Das Ergebnis ist schlussendlich gleich – bei denjenigen, die eine Entscheidung anzweifeln, bevor sie danach handeln, dauert‘s halt etwas länger.
Europäische Überzieher sind zwischen 17 und 19 Zentimeter lang und haben einen
Durchmesser zwischen 3,1 und 3,5 Zentimeter. Asiatische Präser sind zwischen
15 und 17 Zentimeter lang, bei Durchmessern von 3,0 bis 3,3 Zentimeter (in China
werden drei Größen angeboten). Schwarzafrika bevorzugt die größten Produkte.
Daraus ergibt sich folgende Rangliste:
1.) Schwarze
2.) Weiße
3.) Gelbe
Im Einzelfall streuen die Größen jedoch in einem weiten Bereich, daher hat diese Rangliste auf den einzelnen Schweifträger beliebiger Hautfarbe angewandt keine Bedeutung. Vielmehr stellt sie eine grobe Verallgemeinerung dar (so wie jede andere Aussage übrigens auch).
OK. Margit hatte auch ein Bewusstsein. Es war nicht gerade ein Powerpack, ihr
Bewusstsein, aber immerhin. Sie traf selten Entscheidungen, sie tat es ungern,
und sie tat es selbstverständlich nur, wenn es nicht mehr anders ging. So wie
alle eben.
Karoline Fränkel wurde im Sprechzimmer von Herrn Dr. med. Alwin Dähmrich behandelt.
Nun, das hat nichts mit dem zu tun, wovon in „Hermann, Roman“ erzählt wird.
Karoline war ein hundsverflucht knallsüßes Zuckertörtchen, aber sie hat ebenso
wenig damit zu tun, wovon in „Hermann, Roman“ erzählt wird. Mittlerweile wird
es wohl kaum überraschen, wenn ein neuer Abschnitt nichts mit dem zu tun hat,
wovon in „Hermann, Roman“ erzählt wird. Dennoch nehmen die folgenden Absätze
des vorliegenden Kapitels eine Sonderstellung ein, da bereits im Vorfeld explizit
auf das Nichtvorhandensein eines Zusammenhangs zum übrigen Kladderadatsch hingewiesen
wird. Also, Leute: Ist alles bloß Kintopp. Ruhig Blut! Karoline wurde nicht
gezwungen. Im Gegenteil. Sie billigte den Eingriff.
Dähmrich hatte sie auf einem Gartenfest bei Prof. Dr. med. Jupp Fränkel kennen gelernt. Karoline – eine aufdämmernde Vorahnung verfestigt sich beim Vergleich der Nachnamen – war Doc Fränkels Tochter. Fränkel leitete die Frauenklinik, in der Dähmrich beschäftigt gewesen war, bis er gekündigt hatte, um eine gynäkologische Praxis unter eigener Verantwortlichkeit zu eröffnen. Der Freitag vor der Gartenparty war Dähmrichs letzter Arbeitstag gewesen. Die neue Praxis war nahezu fertig und würde binnen weniger Wochen eröffnet werden.
Dähmrich hatte seine Ausbildung vorbildlich absolviert. Sein Ziel, die eigene Praxis, hatte er immer vor Augen behalten. Ließe man seine Persönlichkeit scherzhalber zu Architektur werden, so sähe er etwa aus wie eine zu klein geratene Hundehütte. Moralisch und ethisch hingegen hätte er es problemlos mit jedem Schuhkarton aufnehmen können. Jupp Fränkel schnippelte zur selben Zeit an einem anderen Ort in einer anderen Dame herum.
Abgesehen von Karoline war Alwin der Jüngste auf der Party gewesen. Er war noch zweiunddreißig, fand aber, er sehe erst aus wie einunddreißig. Karoline war fast achtzehn. Dähmrich hatte eine Heidenangst. Wenn herauskäme, dass er Fränkels Tochter geschwängert hatte … – hatte er. Es war ganz einfach gewesen. Zum Verdruss Karolines war es binnen zweier Minuten erledigt gewesen. Alwin hatte eine Heidenangst, aber eigentlich war er auch ein bisschen stolz auf sich. Überhaupt war er ein bisschen stolz auf sich. Karoline hatte dieselbe Heidenangst wie Alwin, ihr Vater war nämlich ein stockkonservatives und autoritäres Arschloch. War er.
1.) Sie hatte sich auf der Gartenparty gelangweilt.
2.) Sie war beschwipst gewesen.
Alwin hatte sich auf der Party als recht zutraulich erwiesen, genauer gesagt, hatte er sich im hinteren Teil des Gartens neben der kleinen Sauna als recht zutraulich erwiesen. Davor war er aber auch schon ganz nett. Papa hatte die Swimming-Pool-Beleuchtung eingeschaltet, und im vorderen Teil des Gartens, wo der Tisch mit der Bowle stand, hingen Lampions. Von der Rückseite der Sauna konnte man den Mond sehen. Dähmrich hatte einen in der Krone, Karolines Maße waren 103-61-89. Sie war beschwipst und hatte sich gelangweilt.
Jedenfalls würde ihr Papa kein Geld geben, um in den Ferien mit ihrer Freundin Katja in dies Hotel in die Schweiz zu fahren, dessen Name so schwer auszusprechen war. Immer wenn Katja erzählte, was sie im letzten Jahr dort erlebt hatte, rollte sie mit den Augen, was zunächst befremdlich ausgesehen hatte, was Karoline im Laufe der Zeit jedoch neugierig gemacht hatte. Außerdem hatte ja Katja schon mit ihrem Fahrlehrer geschlafen, und der war immerhin siebenunddreißig.
Wäre bekannt geworden, dass Dähmrich in Fränkels Tochter herumfuhrwerkte – egal ob hinter der Sauna oder in der neu eröffneten Praxis –, Vater Fränkel hätte ihn fertig gemacht. Er stand der Kammer vor. Karoline war minderjährig. Dähmrich hätte ins Gefängnis wandern können. Dabei hatte sich der alte Kauknochen in seiner kurzen Rede zur Praxiseröffnung nicht verkneifen können, darauf hinzuweisen, dass er hoffe, Dähmrich werde am neuen Ort seines Schaffen jederzeit einwandfreie Arbeit leisten. Nun, es lief ja dann alles glatt. Und Karoline war so tapfer.
OK, OK. Im Gegensatz zu den vielfältigen Bewegungen und Strömungen in der Tiefe
ihres Bewusstseins bewirkte eine Entschei…?
- Wie bitte? Was dachten sie gerade? Ja, selbstverständlich regte sich etwas in der Tiefe von Margits Bewusstsein!
Also. OK. Im Gegensatz zu den vielfältigen Bewegungen und Strömungen in der Tiefe ihres Bewusstseins bewirkte eine Entscheidung, dass die Oberfläche des Sees, über dem Margit schwebte, sich leicht kräuselte. Für diejenige, um die sie persönlich und eigenhändig einen rosa Kreiskreis gezogen hätte, also für diejenige, von der Margit mit fester Stimme behauptet hätte: „Ich bin’s!“, für sie also, die gleich einem entflogenen Tukan, der im Blattwerk eines Johannisbrotbaums schaukelt, aufs Wasser blickte, für sie zählte allein, was sie mit eigenen Augen sehen konnte. Und das war das Sonnenglitzern, das von der fein gewellten Wasseroberfläche bizarr gespiegelt wurde. Sich zu fragen, was eine Entscheidung eigentlich sei, hätte sie in jedem Fall den Gleichgewichtssinn gekostet.
Oft genug war es Margit so vorgekommen, als dämmere es am fernen Horizonte, und jedes Mal hatte sie sich in allen erdenklichen Nuancen zwischen dunkelultramarin blau und ein klein bisschen weniger dunkelultramarin blau vorgestellt, wie es sich wohl anfühlen würde, schwanger zu sein. Vielleicht hatte sie zwei Ich-bin-schwanger-Romane gelesen, drei Ich-bin-schwanger-Filme gesehen und sich von einer babyschwenkenden Freundin und ihrer ich-bin-schwanger-quasselnden Kollegin darüber vollabern lassen, wie wunderbar es doch sei, schwanger zu sein? Das hieß jedoch nicht, dass Margit nach diesem Bombardement der Impressionen bereits schwanger war – nö, sie hatte es sich lediglich vorgestellt.
So stand sie vor ihrem Badezimmerspiegel und strich über die bindegewebigen Aufwölbungen, die ihre Rumpfvorderseite zierten. „Meine Brüste schwellen an und schmerzen etwas“, dachte sie und wunderte sich. „Merkwürdig, vielleicht bin ich ja schwanger?“ Aber dann verwarf sie den Gedanken und kümmerte sich um ihre Augenbrauen oder nahm die Socken aus der Maschine oder tat sonst was mit größter Inbrunst und Intensität. Der rechte Arm hätte ihr abfaulen können – sie hätte keine Schlüsse daraus gezogen (abfaulende Arme sind übrigens unspezifisch für eine Schwangerschaft. Sie deuten eher auf das so genannte Becker-Syndrom hin – ein Übermaß an Tennis und Onanie). Der verfrühte Umschwung ihres Bewusstseinsinhalts von „nicht schwanger“ auf „schwanger“ hätte Margit möglicherweise dazu angeregt, mit dem ihr verliehenen Verstand an den Vorgängen in ihrem Körper herumzuhebeln. Beispielsweise hätte sie ihre individuelle Gesamtheit von der Brücke herab ins kalte Wasser stürzen können. Das wäre aber nicht cool gewesen. Die Idee war die Reproduktion der eigenen Körperlichkeit, nicht aber die Kontamination irgendwelcher frostig’ Binnengewässer mit dem eigenen Kadaver.
Geplagt vom nächtlichen Nachdurst blinzelte der Hausmeister unter verklebten Lidern hervor. Es war noch lange vor Sonnenaufgang, dennoch schimmerte es bereits verdächtig hell durch die Schlafzimmervorhänge. „Scheiße, sieht nach Schneefegen aus“, grunzte er und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das auf dem Nachttisch posierte. Desinteressiert an der tatsächlichen Ursache der verdächtigen Helligkeit jenseits der Vorhänge, drehte er sich um und schlief bald darauf wieder ein.
Margit war Kind eines aufgeklärten Zeitalters. Nachdem sie aus ihrem Traum erwacht war, zögerte sie eine zehntausendstel Sekunde, dann kam sie. Zwar lagen die auslösenden physischen Stimuli bereits einige Zeit zurück, dies aber schränkte Margits Libido nicht die Bohne ein: Sie traf eine Entscheidung. Der Bewusstseinsputsch vollzog sich mit gefälliger Rücksicht auf das Gebot der physischen Selbsterhaltung des Wirtskörpers und war ein Automatismus. In seiner Folge schöpfte Margit neue Kraft, sich mit der Welt auseinander zusetzen, die ihr Nerven und Hormone unablässig vorspiegelten. Und siehe: dort, wo noch eben die Fassaden mit Efeu bewachsen und die geschlossenen Fensterläden vom Mond beschienen waren, dort wo aus Schornsteinen noch eben der Rauch in schlanken, wie mit verfilzten Pelz bewachsenen Säulen zu den Sternen emporgestiegen war, da war mit einem Mal Tag, da ging ein Zähne ziepender Wind, feist blähte der gute alte Danebrog über dem Dach des Rathauses seinen Wanst, und die korkenzieherförmigen Baldachinstangen von Schloss Windsor glänzten im Nieselregen. Den Blick auf den ihr zur Seite schlafenden Hermann gerichtet, dachte Margit: „Etwas Verantwortung wird ihm gut tun.“ Wie dieser Gedanke zu Stande kam, ist unerklärlich, vorübergehend aber empfand Margit für ihren Beischläfer eine bislang unbekannte, freundliche Zuneigung. Das war echt nett von ihr. Noch Jahre später sollte sie fest davon überzeugt sein, dass sie „Entscheidungen“ gegenüber „aufgeschlossen“ sei.
Ihr Traum war der Lärm, der frei wird, wenn in der Wohnung im Stockwerk drüber die Wohnzimmerwand für eine Durchreiche zur Küche durchbrochen wird. Der Wind drehte, ihr Traum war das Knarren in den Wanten. Margit pellte sich aus der Kruste, sie war ein Schmetterling.
Lieber Gustav,
Ich wünsche Dir frohe Weihnachten und einen guten Rutsch. Übrigens: Auch im
kommenden Jahr bleibt die Summe des Glücks im Universum konstant.
Viele Grüße, dein
Gustav
PS: Allerspätestens mit der Befähigung Bier auf Dosen zu füllen, erwarb der
Affe den Wahnsinn.
Was Rasputin der Erste am besten konnte, war, sich so weit wie möglich über
die Fensterbrüstung eines Hotelzimmers im 112. Stockwerk zu lehnen und mit den
Armen zu fuchteln, ohne aber hinabzustürzen. Im Hinblick auf das, was er am
besten konnte, was also gewissermaßen seine Berufung darstellte, kann man die
Stunde, die verstrich, während er mit dem Gesicht zu unterst auf dem Fußboden
des Bandproberaums der Rasputins lag, getrost als seine größte bezeichnen. Nie,
während keines Augenblicks – von seinem allerletzten Augenblick einmal abgesehen
–, würde er dem Punkt des irreversiblen Vornüberkippens erneut so nahe kommen.
So gesehen war das, was er vollbrachte, ein Geniestreich.
Sein Zustand ist schwer zu beschreiben. Er war nicht tot. Allerdings war die Kontinuität seines Bewusstseins auf etwas zusammengeschrumpft, das sich, im Hinblick auf die Feinheit der daran ausgeführten Ziselierarbeit, nicht von einer Rolle Klopapier unterschied. Ein Zusätzliches an CH3CH2-OH von der Menge, die einen Kolibri leicht benebelt, hätte das in seinem Körper abbindende Quantum Ethanol als numerischen Eintrag in die Spalte für seine Todesursache expediert. Der Kater – oder besser: der Ochse von einem Säbelzahntiger –, dessen Schatten sich als Folge seiner Selbstvergiftung über ihn hernieder senken sollte, würde ihn bis zur nächsten Eiszeit zwischen den Klauen gepackt halten. Jede Rentierflechte, die auf einer Granitklamotte der nordkanadischen Tundra vor sich hin krepelt, versprühte im Vergleich zu Rasputin dem Ersten quirlige Vitalität. Doch er lebte, und er überlebte.
Rasputin der Erste stand am Straßenrand und reckte den Daumen in die Luft. Ein knochenfarbenes 72er Daimler Sportcoupé stoppte, am Steuer saß der Tod. Rasputin der Erste stieg auf der Beifahrerseite ein und setzte sich auf den Todessitz, wie er fälschlicherweise oft genannt wird, obgleich der Tod nie dort Platz nimmt. Er sitzt immer auf der Fahrerseite. Faktisch war der Tod nicht sehr gesprächig. Rasputin der Erste schwieg eine Weile gegen ihn an, doch der Tod schwieg rund siebenhundertsiebenundsiebzigmal besser als er.
Anderenorts wurde das Gefühl von Beklemmung, das sich auffolgend in ihm breit machte, davon begleitet, dass Rasputin der Erste sich oral über den Inhalt des Proberaum-Aschenbechers entleerte. Zu Tage kamen Currywürste, Schokoriegel und einiges an kulinarischen Antidepressiva mehr. Den Aschenbecher hatte er zuvor beim unsinnigen Versuch, sich zu erheben, von einem kleinen Gerümpeltisch heruntergerissen, neben dem er – wiederum einige cl früher – in einen Sessel gesunken war. Die Sessel, gruppiert um den Gerümpeltisch, bildeten als abgelutschteste Sitzgruppe der zivilisierten Welt den quasi wohnlichsten Teil des Bandproberaums. Noch davor war Rasputin der Erste mit Wodka und Sechserträgern bepackt durch die Tür gewankt. Endlich mit sich und seinem Kummer allein hatte er zunächst 7½ Minuten lang trinkend seine Gitarre traktiert (er erhoffte sich davon Linderung seines Leids, die allerdings ausblieb), dann gab er auf, der hartnäckig auf ihn einwirkenden Schwerkraft Widerstand zu leisten. Trinkend in den Sessel gekauert hatte er zugesehen, wie in der Stadt nach und nach die Lichter ausgingen.
Als Aschenbecher diente das Unterteil einer Blechdose für eine 35mm Kinofilmrolle. Das Gefäß enthielt gut zehn Unzen Zigarettenkippen, etwa genauso viel Zigarettenasche, gerissene Gitarrensaiten, etliche Kronenkorken, ein blutverschmiertes Papiertaschentuch, sowie zahlreiche Ring-Pull-Verschlüsse von Bierdosen, die aus einer künstlerischen Frühphase der Band stammten, welche sich zeitlich mit der glorreichen Ära deckte, als Bierdosen noch durch das Abreißen des Ring-Pull-Verschlusses initialisiert wurden. Indem er sich also ein letztes Mal zu voller Größe aufbäumte, kotzte Rasputin der Erste munter in diese Melange hinein. Dabei zog es ihn zwei Schritte nach rückwärts, dann klatschte er bar jedes Abstützreflex’ seinem Mageninhalt hinterher in die angedickte Asche. Es spritzte, er schlug sich den Schädel auf und verlor das Bewusstsein. Vorübergehend verkümmerte er zu einem außerordentlich leisen Gesang, nicht unähnlich dem in regelmäßigen Abständen ausgesandten automatischen Notsignal unbekannten Ursprungs, das aus größter Ferne der Wölbung einer leider nirgends lauschenden Parabolantenne die unendliche Tiefe des Alls klagt.
Rasputin der Erste nestelte an seiner Hose herum, schaute aus dem Fenster und blickte um sich. Die Sicherheitsgurte fehlten. Irgendwoher kam ihm die Karre bekannt vor. Sie schien weder mit einem Radio noch mit einen Kassettenrecorder ausgestattet zu sein. Der Tod war abgemagert. Er hatte keine Haut. Seine Rechte lag locker auf der Prallplatte des elfenbeinweißen Lenkrads auf. Zwischen den Mittelhandknochen hindurch schimmerte die Plakette mit dem silbrigen Stern.
Weich schlängelte sich die Straße zwischen den Hügeln hindurch. Der Tod fuhr zügig, dennoch war seine Fahrweise nie riskant. Immer harmonisierten die Bewegungen des Wagens mit dem weiten Fluss der Landschaft. Allmählich entspannte sich Rasputin der Erste.
Gewiss würde dem Tod die Musik gefallen, dachte Rasputin der Erste. Er trug eine Demokassette seiner Band bei sich. Und selbst wenn sie ihm nicht gefiele, würde der Tod doch mit Interesse zuhören. Danach ergäbe sich dann ein interessantes Gespräch: Er könnte dem Tod erläutern, wie man mit aufsässigen Bandmitgliedern umzugehen hat, und der Tod mochte ihm im Gegenzug von seiner Arbeit berichten. Rasputin der Erste nahm sich vor, dem Tod die Kassette bei Erreichen des gemeinsamen Fahrziels zu schenken. „Entschuldigen Sie, aber gibt es hier im Wagen einen Kassettenrecorder?“ fragte er. Der Tod schüttelte unbestimmt dem Kopf. Vielleicht aber hatte die Bewegung des Kopfs auch von einer Bodenwelle hergerührt, über die der Wagen hinweggerollt war? Vielleicht? Dann begriff er.
„Ein manierlicher Rekorder wäre in dieser Sportgurke aber verdammt angezeigt!“ ließ Rasputin der Erste verlauten. Sie durchfuhren die Talsohle zwischen zwei Hügeln. Sanft drückte es ihn in den Ledersitz. Wenn der Tod sich nicht unterhalten wollte, warum hatte er dann gestoppt und ihn einsteigen lassen? Fast machte es den Eindruck, als habe der alte Herr am Steuer gar nicht bemerkt, dass jemand neben ihm sitzt.
Einen nach dem anderen hob Rasputin der Erste seine staubigen Stiefel und setzte sie auf die teakhölzerne Klappe des Handschuhfachs. Die Straße führte an umzäunten Wiesen vorüber, auf denen Schafe grasten. Rasputin der Erste dachte daran, dass er nichts als Pech hatte und dass sich ihm gegenüber alle so arschig verhielten, wie sie nur konnten.
Aus der Tasche des Seidenhemds, das seinen Brustkorb bekleidete, zog der Tod ein Taschentuch. Dann betätigte er einen Schalter auf der Mittelkonsole. Die Scheibe der Fahrertür senkte sich. Bevor er seinen linken Arm aus dem Fenster lehnte, wischte er sorgsam über die Gummilippe, an deren Seite das Glas verschwunden war. Vor ihnen tauchte ein dahinschleichender Leichenwagen auf, der, als Rasputin der Erste noch an der Straße gestanden hatte, an ihm vorübergetuckert war. Ein trockenes Lächeln schien über die Oberfläche des beinernen Angesichts zu fahren. Die Stimme des Todes klang sanft: „Solange ich nicht beschlossen habe, dich zu holen“ – hell klickte es, als der kleine Finger des Knochenmanns den Fahrtrichtungsanzeiger betätigte. „Solange ich nicht beschlossen habe, dich zu holen“, nahm er seinen Satz wieder auf und blickte in den Mittelspiegel, „und ich habe noch nicht beschlossen, dich zu holen“, fügte er ein, „solange werde ich dich auch nicht holen.“ Es klickte erneut. Gleichmäßig flutschten die Striche, welche die Straßenmitte markierten, unter der Motorhaube hindurch. „Ich kann dir zurzeit nicht weiterhelfen.“ Hätte Rasputin der Erste geahnt, was für ein Drecksack voll Bullenscheiße am Steuer sitzt, wäre er nicht eingestiegen. Am liebsten hätte er diese Pissnelke kalt gemacht.
Der Himmel war den ganzen Tag über strahlend blau gewesen. Lediglich am Horizont zogen wenige Wölkchen entlang. Die meisten der Schafe waren mit einem farbigen Kreis und einer Zahl auf dem Fell markiert. „He“, sagte der Tod nach einer Weile. Rasputin der Erste ließ Zeit verstreichen. „Du, Rasputin der Erste?“ Immerhin redete ihn dieses Arschgesicht mit seinem Künstlernamen an und nicht mit seinem bürgerlichen Namen, so wie es das bescheuerte Postgiroamt immer tat. „Mm“ brummte Rasputin der Erste schließlich. „Tut mir Leid, ja?“ sprach der Tod. Diesmal lächelte er wirklich. Irgendwie erinnert seine dämliche Fresse an die von Ronald Reagan, dachte Rasputin der Erste. Doch das half niemandem weiter. Keinem der drei.
Auf dem Dachboden lagen zwei Stabmagnete. Sie waren mindestens siebzig lang
und etwa fünfzehn im Durchmesser. Die Sonne briet auf die schwarzen Schindeln,
und die beiden stattlichen Zylinder klebten aneinander, als seien sie aus einem
einzigen Stück. Es hätte der Kraft zweier Traktoren bedurft, sie voneinander
zu trennen. Die Männer fluchten und zogen ihre Arbeitshosen aus. Blechknöpfe
und Reisverschlüsse wären auf immer an dem Magneteisen angehaftet.
Einer setzte sich auf den Boden und stemmte die Füße gegen das stumpfe Ende der Stäbe, während die anderen Schulter an Schulter versuchten, die Magnete anzuheben. Das Metall fühlte sich kühl an. Erst beim dritten Versuch gelang es, die gewaltigen Eisen aufzurichten. Derjenige, der auf dem Boden gesessen hatte, rutschte eilig zur Seite, als die Stangen in die Senkrechte kamen und überzukippen drohten. Doch sie schwankten nur ein paar Mal hin und her, dann standen sie da, aufrecht, ruhig, wie zwei zu kurz geratene Riesenfluppen, grauschwarz. Die trockenen Latten des Dachstuhlbodens bogen sich besorgniserregend unter ihrer Last.
Man beratschlagte, wie man die Magnete wegschaffen könne. Sie zu tragen, war ausgeschlossen. Die Männer zogen die Hosen an. Kein Weg schien praktikabel. Zigaretten wurden entzündet. Durch ein Dachfenster fiel die Sonne und zeichnete ikonenhafte Linien in den Rauch. Schließlich kam einer auf die Idee, es mit der Sackkarre aus Aluminium zu versuchen. Die stand aber im Lager. Also wurde derjenige, der den Vorschlag gemacht hatte, losgeschickt, das Teil zu holen. Die anderen machten erst mal Frühstückspause.
Ich saß am Rand des Ackers auf dem Feldweg. Wir unterhielten uns. Nicht lange.
Wir lachten. „Möchtest du eigentlich aussterben?“ fragte es schließlich. Ich
muss die Augen niedergeschlagen haben, denn als ich aufblickte, hatte es sich
bereits umgewandt. Auf seinen Weg zurück in das Weizenfeld konnte ich dem merkwürdigen
Geschöpf einige Meter weit nachblicken. Der am Boden schleifende Schwanz hinterließ
eine schmale Schneise geknickter Halme. Als es fort war, dachte ich dieselben
Gedanken, die ich gedacht hatte, bevor es vor mir durchs Korn gebrochen war.
Sein überraschender Besuch hatte keine Illusionen in mir geweckt. Mir waren
auch keine Illusionen genommen worden. Soweit das Auge reichte, bedeckte ein
schweres, schlichtes Glück die Landschaft. Nichts war hinzugekommen, nichts
war fortgenommen worden. Sein Erscheinen hatte mich um kein Jota glücklicher
gemacht. „Um kein Jota glücklicher“ – über diese Formulierung hätte es sich
gewiss vor Lachen ausgeschüttet. Nein, zu sagen gab es nichts. Daran hatten
wir keinen Zweifel gelassen.
Folgendes Numerische wäre nachzutragen (sofern das noch möglich ist): – Es ist
nicht mehr möglich!
Nachtrag (numerisch)
Die Lieblingszahl des Moderators der Psycho-Unterhaltungssendung war 432073-103,
BLZ 10010010. Die Lieblingszahl des Psychologen war 911, seine Lieblingsfrisur
war Heckspoiler.
Monas Lieblingszahl war wohl nicht eins. Eins (in Worten 1) war selbstverständlich Rasputin des Ersten Lieblingszahl. Eins war – wie sollte es anders sein – auch Hermanns Lieblingszahl, falls er denn überhaupt eine Lieblingszahl gehabt hätte.
Monas Lieblingszahl war wohl nicht zwei. Zwei (in Worten 2) war selbstverständlich nicht Rasputin des Ersten Lieblingszahl. Rasputin der Erste hatte nur eine Lieblingszahl (er hasste unnötigen Stress). Zwei war – wie sollte es anders sein – auch nicht Hermanns Lieblingszahl, falls er denn überhaupt eine Lieblingszahl gehabt hätte. Zwei war hingegen total Margits Lieblingszahl (zwei Äpfel, zwei Entchen, zwei kleine Spechtlein …).
Monas Lieblingszahl war wohl nicht drei. Drei (in Worten 3) war …
Mona hatte wohl eine oder mehrere Lieblingszahlen, sie konnte sich nur aber entscheiden, welche. Hermann – wie sollte es anders sein – hatte überhaupt keine Lieblingszahl (nur, falls er wider Erwarten doch eine oder mehrere Lieblingszahlen gehabt haben sollte). Margit wäre nie auf die Idee gekommen, dass man mehr als eine Lieblingszahl haben könne.
Ja Eier Milch Pfeffer Salz Kräuter bloß Speck ist doch garantiert keiner mehr da stattdessen vielleicht eine Dose Thunfisch nein zu dröge eigentlich schade wo die doch so freundlich lächeln jedenfalls bei dem Thunfischfilm letztens also wo die Fernbedienung bloß wieder hin ist fünfzehn Stück müsste man davon haben aua ich muss doch nicht etwa schon wiederabscheißen der kam sicher aus einer Karpfenzucht war ja auch gutfett das Teil was die wohl zufressen kriegen sicher Abfälle Fischfutter aus Abfällen aber gut war er besser noch als der erste an dem Hermann noch mit gefressen hatte na ob der hier noch mal was kriegt so blöd wie der sich angestellt hat beim Kartoffelnschälen aua ich sollte wirklich mal wieder spazieren gehen vielleicht habe ich ja eine Gräteverschluckt bei Nürnberger Rostbratwürstchen kann ich mir das noch vorstellen wie es so durch die Därme gedrückt wird oder bei stromlinienförmigen Bonbons läuft nicht gerade Kinderprogramm also fünfzehn Stück wären schonpraktisch also dass die ihre verdammten Köter nicht ruhig halten können im Treppenhausschlimm muss das sein mit so einem Vieh jeden Abend runter zu müssen würde aber gegen die Verstopfungen helfen mir wäre das ja zu widerwärtig mit dem Hundefutter immer ein Goldfisch ja besser nochein Karpfen ok der lässt sich wenigstens artgerecht entsorgen aber Hunde diese vergammelten Kaldaunen die die ständig in sich reinschlingen davon könnt ich mir jeden Monat eine Fernbedienung leisten fünfzehn Stück in einem Jahr hätte ich sie beisammen na ja länger weil man gerne mal drauflatscht na dann eben achtzehn Monate was die beim Bund wohl zufressen kriegen sicher Abfallsicher kein Speckomelette das geht schnell und ist gut bloß Speck ist garantiert keiner mehr da vielleicht nein Bratkartoffeln ist mir zuviel Action jetzt außerdem muss da auch Speck ran vielleicht ist sie einfach allein einkaufen gegangen das Bett riecht jedenfalls noch nach ihr vielleicht sitzt sie in der Küche also vorhin saß sie mir da ja noch gegenüber was hatten wir eigentlich ach ja den Karpfen also wenn ich mich umdrehe könnte ich sie sehen aber nein sie ist sicher hoffentlich vergisst sie den Speck nicht an Eier denkt sie immer aber ich will Speck denn ich bin jedenfalls überhaupt nicht mehr richtig satt irgendwas Leichtes muss ich essen Speckomelette zum Beispiel bloß Speck ist garantiert keiner mehr da oder Eitoast und öliger Reis mit Currypaste ach was Speckomelette muss her verdammt noch mal kein Wunder bei dem ständigen Gerammel und jetzt fällt es mir auch wieder ein vorhin als wir den Karpfen hatten zuerst habe ich noch gedacht na schön der ist so gut wie der andere und dann hat sie mich mit den Augen gebeten ich soll nochein Stückchen nehmen ja und ob es mir schmeckt und sie hat mir noch eines in den Mund geschoben eingroßes es schmeckt dir doch und das zerging nur so auf der Zunge ja mir ist fast das Herzübergegangen und ich hab ja gesagt ja es schmeckt mir Ja |
aJ nemmokeg tsi re aj dnu nebeilbegnehets tsaf mhi tsi zreH sad dnu tah tgnertsgna hcis re eiw tgroseb mhi se tah sad dnu elotsipztirpS enielk eniem tztej hcod tsmmok ud aj tmmok tztej re bo tgarfeg neguA ned tim nhi hci ebah nnad dnu aj nehcusrev lamhcon hcod se llos re netebeg nhi ebah hci dnu remmi eiw tztej nöhcs an thcadeg hci bah tsre osla tkriweg tug znag nohcs tah red nihrov nefpraK red osla nelohsuar mhi sua rhem hci ssum eiwdnegri aj etnnok nednif thcin gnuneidebnreF egilessud enies lam redeiw lam re ssad run etllow nehes tgnidebnu snetztel iebad re ned mliF med ni eiw noisolpxE enie se tbig nnad dnu ressaW retnu trowrebuaZ sad efur hci dnu uzad revluprekehtopA med nov saw hcon tmmok nnad dnu reibzlaM etsiK enie dnu reiE dnu ledönK dnu nehcuK dnu tim ierhüR egneM edej nemhen riw uaneg negiets lam riw netssüm eeS nenie ni aj nessal nefrewba thcin nohcs hcim hci edrüw thciel os dnu nehcierbarev esiewlefföl reba mhi hci edrüw guezrekehtopA sad osla dnalsI fua rehcöldrE eseid redo avatlV eid eiw os nefualrebü etssüm remmiZ sad aj yraV yvolraK ni enätnoF eid eiw ba re theg nnad dnu nollaB nie eiw na re tlliwhcsna re ow tug eräw hcurpsrebuaZ nie giliewgnal eiw reiE aj negel eid nien nefpraK redo nekcüR med fua renie ad tmmiwhcs nehcam lhow se eid eiw tug znag medztort elaW nemmok hcilniehcsrhaw reba tmmok ad saw tfuL ssolb reba tsi nehcuatfua eis nnew elaW redo ovip éksnezlp eiw tmmok dnu tgeirk reiE ekcid githcir re novow dnu tlednawrev tmmin hcis uz re saw sella sad tug eräw revluprekehtopA semieheg setla nie os tflih sad ssad hcod hci gas nessE med hcan redeiw tsre hcua se gnig nnad reba leiv hcilmeiz mak ad nefalhcseg hcon tsaf aj re tah ad snetztel eiw os tuatsegfua saw githcir re tah ad tug se tsi ad snegrom hcielg ba sella aj mhi nefienk eid negart nesohretnU eseid remmi thcin re frad medressua nekneduzsua thcin etzteL sad sgnidrella eräw sad sol se driw re ehcastpuaH rulfsuaH mi redo olK med fua owdnegri fuard hci ettew ad tsbles hcis se thcam re dnu gaT neblah nenie run tsoK wir reseid ieb thcin nien reba egaT iewz tah nedalegfua githcir hcis re sib netraw lam hcilrütan etnnök hci trhaF ni redeiw nhi tgnirb sad aj nier rettoD menie tim reibzlaM neknirt sehcierssiewiE saw hcielg nnad re ssum hcanad dnu llaF nedej fua tflih nellürB sad reba uarfgnuJ egilieh reiE erekcid reitS nie tah ralk saw githcir hcilrütan nnad tmmok ad nellürb re ssum os tah tllürbeg red eiw tsi nier huK eid ni nnad red eiw dnu raw tettekeg esanreitS red ni gniR ned na eid egnatS red na tfielhcseg foH ned rebü reba leknO ned se tah nnad etfrud renie lam ad nnew nemmonegnemmasuz thcin hcua aj hcis nebah ereitS sajnaW leknO nellürb retual hcua ssum re reba tsöl sad neierhcsna rhem nhi hci ssum tmmok rehhcan re nnew an nefalhcs lam tsre re ssum nnad tztej eiw os ednE ma re tsi hcanad dnu tmmok llov salgspanhcS seblah nie muak etnnök nelohsuar mhi sua rhem run hci nnew tgalnarev uzad re tsi hcilsseilhcs nar reba re ssum nnad mu tsbles nov hcielg rehcis hcis therd re aJ |
Als blöder Regen, in dem sich ein paar Gase gelöst hatten, pladderte Hermann
auf die kreisrunde, fingerdicke Glasscheibe hinab, welche die Platte des einzigen
Tischs bildete, der im einzigen Zimmer von Monas einziger Wohnung stand. Als
schnöde Aminosäure, die nichts wusste, nicht einmal, dass sie in der Soße aus
Wasser, Wasserstoff, Methan, Kohlendioxid und Ammoniak etwas Besonderes darstellt,
sank er von der Oberfläche aus abwärts, sank tiefer, sank durch die Glasplatte
hindurch und trat – nachdem er das Glas in seiner ganzen Stärke durchsunken
hatte – auf der Unterseite wieder hervor. Dann sank er weiter. Hermann sank
in den Raum hinein, der sich unter dem Tisch befand. Dabei durchlebte er in
rascher Folge allerlei Entwicklungsstadien. Er verwandelte sich vom Plankton
über ein mikroskopisches Krebschen zum Quastenflosser und bumste schließlich
als U-Boot der Skipjack-Klasse auf den beigebraunen Teppichboden auf, der die
abgelatschten Dielenbretter im einzigen Zimmer von Monas einziger Wohnung bedeckte.
Von der gedämpften Erschütterung wie aus einem Traum erweckt, schien es Hermann,
als habe er oben etwas vergessen. Da er keinen blassen Dunst hatte, wie ein
U-Boot befehligt wird, ließ er sich zunächst vom ersten Offizier das Schiff
erläutern. Der Mann umriss in groben Zügen die allgemeinen Prinzipien der Unterwasserschifferei
und ging dann auf die Besonderheiten bei Verwendung eines nuklearen Antriebs
ein. Anschließend gestattete Hermann dem Offizier, seinen Kapitän auf einem
kurzen Rundgang durch die wichtigsten Decks des Schiffs zu begleiten. Hermann
begeisterten insbesondere die schlanken Torpedos und die Kombüse. Amüsant fand
er auch das kombinierte Spiel-, Kino- und Esszimmer für die Besatzung sowie
den Flüssigaluminium gekühlten Reaktor. Er dankte dem Offizier für die aufschlussreiche
Einführung und ließ antreten. Vor versammelter Mannschaft hielt Hermann sodann
eine dreiminütige Begrüßungsansprache, die drei Minuten dauerte. In seine Rede
flocht er ein paar faule Witze ein, die bei der Besatzung gut ankamen, woraufhin
viele der Matrosen lachten und ihrem Kapitän herzlich applaudierten. Zufrieden
zog sich Hermann auf die Brücke zurück, wo er sich den Tee servieren ließ. Der
Tee war ziemlich heiß. Er stellte die Tasse auf eine der Schalttafeln ab, mit
denen der Kommandoraum großzügig ausgestattet war. Allerorten waren Signallämpchen
und verwegene Messuhren angebracht, deren ständiges Signalisieren und Anzeigen
irgendwelcher Werte Hermann mit Genugtuung zur Kenntnis nahm.
Zum besseren Verständnis hilft es, sich einzubilden, Hermann sei zweierlei:
1.) Er war das mit konventionellen und nuklearen Waffen vollgestopfte, atomgetriebene Unterseeboot „Hermann“ beziehungsweise der Kommandant dieses Schiffs, was in der Praxis ein und dasselbe ist, denn Kapitäne herrschen absolutistisch (sollten sie zumindest).
2.) Er war das umgekehrte reelle Bild eines virtuellen Punkts auf der eigenen Netzhaut. Der Aufenthaltsort dieses virtuellen Punkts war abhängig von der Blickrichtung von Hermanns Augen sowie von der Brennweite der darin befindlichen verformbaren Linsenkörper, die sich wiederum aus dem Kontraktionsgrad seiner Ziliarmuskel ergab (wer es genau wissen will, möge sich den Vorgang von einem Augenoptiker erklären lassen).
Natürlich saß auch der leibliche Hermann irgendwo rum. – Tempuswechsel. Na, wo sitzt er denn? Ah, da sitzt er ja! – Erneuter Tempuswechsel. Hermann saß aufrecht auf der einzigen Couch im einzigen Zimmer von Monas einziger Wohnung und starrte über seine Knie hinweg durch die runde Tischplatte hindurch auf den niveacremedosenförmigen Raum zwischen dem Glas und dem Fußboden. Aber das ist nicht wichtig. Nichts ist wichtig. Außer das hier:
Hermann hatte das Gefühl, als habe er oben etwas vergessen. Leider war ihm entfallen, was es war. Hatte er etwas liegen gelassen oder hatte er etwas Wichtiges zu erledigen versäumt? Hatte er das Licht brennen lassen? Hatte er vergessen, den Zulaufhahn der Waschmaschine abzudrehen? Hermann nahm einen Schluck Tee und ließ den ersten Offizier wissen, dass er den Tee in Zukunft in Begleitung zweier Stück Ingwerkekse serviert wünsche. Dann gab er Befehl zum Auftauchen. Bei diesem Manöver – es war das erste unter Hermanns Kommando – riss er sich am Bug zwei Stabilisationsruder ab, die sich im Teppich verhakt hatten. Es krachte und erstaunlich viele der Lämpchen auf den Schalttafeln blinkten. Hermann fand, dass es recht weihnachtlich anmutete. Eine Alarmsirene war nach kurzem Hin und Her wieder abgeschaltet worden. Während sich Hermann kopfschüttelnd Tee nachschenkte, besprachen sich seine Offiziere im Flüsterton. Schließlich trat der erste Offizier an Hermann heran, salutierte und versicherte, dass man geschlossen der Meinung sei, der Kapitän habe sein Bestes gegeben. Für ein erstes Kommando sei das Auftauchmanöver erstaunlich gut gelungen. Der Mann versicherte, dass der kleine Patzer mit den zwei Rudern keine gravierenden Probleme aufwerfen werde, da diese Ruder allein bei schneller Überwasserfahrt in schwerer See von Bedeutung seien. Dann ließ sich der Offizier von den übrigen Anwesenden seines Rangs bestätigen, dass sich Hermann gern auf die außerordentlich gemütliche Kapitänskajüte zurückzuziehen möge, um dort etwas zu entspannen. „Mit Verlaub, Sir, etwas Ruhe wird Ihnen gut tun. Vielleicht wäre es angebracht, Sir, wenn sie sich auf ihr erstes Kommando hin zwei oder drei Glas Gammeldansk genehmigten, Sir?“ Alle an Bord redeten Hermann mit „Sir“ an. Die anderen Offiziere blickten unauffällig im Kommandoraum umher. Er wollte keinen Gammeldansk. Das Gequassel des uniformierten Heinis ging ihm auf die Nerven. Lieber wollte er noch ein bisschen rumkommandieren. Hermann erhob sich und strich seine Hose glatt. „Meine Herren“, widersprach er. „Ich gedenke vorerst auf der Brücke zu verweilen.“
Langsam stieg die „Hermann“ auf. Als sie bis knapp unterhalb der Scheibe emporgetaucht war, gab der Kapitän Befehl, die Tauchtiefe konstant zu halten. Diesmal verursachte das Kommando keinerlei Schäden. Hermann fühlte sich bestätigt.
Es blieb die Frage, was er oben vergessen haben könnte. Für einen Moment erwog Hermann auf dem Rücken liegend unter dem Tisch umherzurutschen. Wenn er sich den ganzen Mist von unten ansähe, dachte er, könnte er sich vielleicht besser darauf konzentrieren, was er oben vergessen hatte. Doch es hätte albern ausgesehen, unter dem Tisch herumzurutschen. Es wäre unbequem und anstrengend gewesen. Außerdem war der Fußboden unter dem Tisch schmutzig (in Monas einziger Wohnung war es schmutzig. Sie war eine Schlampe). Also drehte Hermann einige Runden mit halber Fahrt, während er seinen Tee trank, nach oben blickte und grübelte, was er dort vergessen haben könnte. Ja, Hermann konnte von unterhalb der Tischplatte nach oben durch die Scheibe blicken. U-Boote können so ‘was. Gleichzeitig schaute Hermann aber auch von schräg oberhalb des Tischs nach unten durch die Platte, denn während er knapp unterhalb der Glasplatte umherkurvte, hockte er ja auch neben dem Tisch auf dem einzigen Sofa in Monas einziger Wohnung, hielt die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt. So war das.
Was übrigens das umgekehrte reelle Abbild eines virtuellen Punkts angeht: Hermann hatte sich mittlerweile an seinen Rang als Kapitän eines atomgetriebenen Unterseeboots gewöhnt, so dass man die ganze Angelegenheit getrost vergessen kann („Hä? Welche Sache mit was für einem Punkt eigentlich?“ müsst ihr jetzt fragen). In Wirklichkeit – was immer das sein mag – war natürlich alles ganz anders. Es war anders, vor allem war es ungleich komplizierter. Aber darum geht es hier nicht. Es geht nicht um Wirklichkeit.
Handelsübliche europäische und US-amerikanische Ware weist eine Membranstärke
zwischen 6,5 und 7,5 hundertstel Millimeter auf. Im Vergleich: Ein menschliches
Kopfhaar hat eine Stärke zwischen 4 und 11 hundertstel Millimeter. In Japan
werden auch Übermänner vertrieben, die deutlich dünnwandiger sind (4 hundertstel
Millimeter). Diese Präsertype weist im Mittel mehr mikroskopische Löcher auf
und darf nicht in allen Ländern verkauft werden. Starkwandige, extrareißfeste
Gay-Produkte für den Analverkehr sind auch für den ungleichgeschlechtlichen
Hardcore-Fick empfehlenswert. Grundsätzlich gilt: je dicker die Membran, desto
geringer die Gefahr, dass der Präser reißt, desto größer aber die leidige Gefühlsbeeinträchtigung.
Ja, so ist das.
Auf dem Tisch lagen ein stumpfes Gemüsemesser und ein Korken.
2.) Es gab dort weiterhin eine Untertasse, die als Aschenbecher diente.
3.) Außerdem lagen dort eine leere Zigarettenschachtel und ein leer gefressener Napf aus geprägter Aluminiumfolie, der ein Fischbrikett à la Bordelaise enthalten hatte, das sich Mona vor einigen Tagen einverleibt hatte (Folie entfernen, in den Backofen schieben, 45 Minuten bei 250°C, aufessen, fertig).
4.) Es fanden sich dort die in Einzelteile zerschnittenen Überreste eines ehemals sehr langen Schnürsenkels aus einem von Monas schwarzen Schnürstiefeln (der sehr viele Ösen hatte). Darüber hinaus gab es einen unzerschnittenen, aber ehemals ebenfalls sehr langen Senkel, der aus dem zweiten Exemplar ihres Paars von Schnürstiefeln stammte (der ebenfalls sehr viele Ösen hatte). Der unzerschnittene Senkel war sehr lang und schwarz, der zerschnittene Senkel war ehemals sehr lang, ebenfalls schwarz und in kurze V-förmige Stücke zersäbelt. Diese Stücke sahen aus wie ein Schwarm zerzauster Raben am Himmel des Merkur, die über die Frage, wo sich der Mittelpunkt ihres lächerlichen Planeten befände, in philosophischen Disput geraten waren. Mona hatte auf dem Sofa gesessen, den Stiefel (der sehr viele Ösen hatte) zwischen ihre Knie geklemmt, und sie war mit dem Gemüsemesser sägend über das Senkelgeflecht gefahren. Sie hatte dies in der Absicht getan, neue, sehr lange Senkel einzuziehen. Zuvor war es jedoch erforderlich gewesen, die alten, verschlissenen und sehr langen Schuhbänder aus den Schnürstiefeln (die sehr viele Ösen hatten) zu entfernen. Monas Schnürstiefel hatten außerordentlich vielen Ösen. Die alten, sehr langen Senkel Öse für Öse aus dem Stiefel (viele Ösen) herauszuziehen, wäre einfacher gewesen. Dies hätte keineswegs mehr Zeit in Anspruch genommen als das mühselige Schneiden mit dem Gemüsemesser. Allerdings wäre es weniger anstrengend gewesen. Mona hatte angenommen, es sei weniger anstrengend und nähme weniger Zeit in Anspruch, die Senkel (lang) zu durchtrennen, als sie Öse für Öse aus dem Stiefel (viele Ösen) herauszuziehen. Obendrein war es gefährlich, die Senkel (…) zu zerschneiden. Mona hätte abrutschen und sich mit dem Messer verletzen können. „Sie könnte abrutschen und sich mit dem Messer verletzen“, hatte Hermann gedacht, als er neben Mona auf dem einzigen Sofa im einzigen Zimmer ihrer einziger Wohnung gesessen und die Vibrationen gespürt hatte, in welche die Sitzunterlage aufgrund Monas rhythmischer Schneidbewegungen versetzt worden war. „Scheiße, das geht überhaupt nicht schneller so“, hatte indes Mona gedacht. Und dann hatte sie gedacht: „Ich könnte abrutschen und mich mit dem Messer verletzen.“ Den Senkel des zweiten Stiefels (…) hatte sie Öse für Öse für Öse für Öse aus dem Leder gezogen.
5.) Am Rand der Tischplatte lagen, zu einem Haufen zusammengeschoben, rot-, grün- und gelbfarbene Stoffreste von Kleidern, die Mona während der vergangenen Monate genäht hatte.
6.) Neben den Stoffresten lag eine lange Schere und eine Schachtel mit Näh- und Stecknadeln, von denen einige über den Tisch verschüttet waren.
7.) In einer offenen Blechdose befand sich ein Rest vertrockneter und bröckeliger schwarzer Schuhcreme.
8.) Neben der Schuhcremedose lag eine am Hacken zu einem dünnen Netz durchgelaufene Tennissocke. Die Socke war flächenweise schuhcremegeschwärzt.
9.) Auf dem Tisch befand eine aufgeschlagene Illustrierte.
10a) Über die Glasplatte, besonders aber über die aufgeschlagene Seite der Illustrierten, waren vielfach schwarze, fettige Striemen verschmiert.
10b) Der Teppichboden im Bereich zwischen Couch und Glastisch zeigte einige tiefschwarze Fettstriemen.
Brücke an Torpedomaat: „Bugrohre 1 und 2 klar bei Torpedo!“
10.) Eine Illustrierte hat keinen Zweck, es sei denn als Unterlage zum Schuheputzen oder für andere dreckabwerfende Werktätigkeiten (dazu allerdings ist ein Exemplar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder ein beliebiger anderer großformatiger Altpapierstapel besser geeignet). Mona hatte in der Illustrieren die Abbildungen von Frauen betrachtet, welche in einer Weise bekleidet waren, die aufgrund der Tatsache, dass diese Manier, sich zu bekleiden, in der Illustrierten abgebildet war, in näherer Zukunft unter Frauen, die in Illustrierten die Abbildungen bekleideter Frauen betrachteten, als konform gelten würde. Während sie die Bilder ansah, hatte Mona die Vorteile, die sie haben würde, wenn sie bestimmte dieser Kleidungsgegenstände kaufte, klaute oder eigenhändig anfertigte, gegen die Nachteile abgewogen, die es mit sich brächte, keinen der abgebildeten Kleidungsgegenstände zu kaufen, zu klauen oder eigenhändig anzufertigen. Danach hatte sie die Nachteile des Kaufens, Klauens und eigenhändig Anfertigens gegen die Vorteile des Nichtkaufens, Nichtklauens und Nichtselbstanfertigens abgewogen, als da wären: nicht bezahlen müssen, nicht beim Klauen erwischt werden und nicht über die eigene Unfähigkeit in Rage geraten. Die ganze Überlegerei hatte sie ziemlich angestrengt (dabei war Mona immer gleich angezogen. Schlampig halt).
9.) Fettstriemen haben keinen Zweck.
8.) Eine alte Tennissocke benutzt man, um damit Schuhcreme auf das Leder von Schuhen aufzutragen. Zuvor benutzt man eine Tennissocke, um damit einen Fuß zu bekleiden. Man tut dies, wenn man an dem Fuß friert oder wenn man Tennis spielt – Letzteres tat niemand, mit dem Hermann bekannt sein wollte.
7.) Schwarze Schuhcreme benutzt man, um Leder einzuschmieren, speziell das Leder von schwarzen Schuhen. Wenn man einen Schuh mit Schuhcreme behandelt, wird sein Leder Wasser abweisend. Nachdem das Lösungsmittel aus der verschmierten Creme entwichen ist (bei handelsüblichen Schuhcremes innerhalb weniger Minuten), kann man den Schuh abbürsten. Danach glänzt das Leder. Der Schuh sieht aus, als sei er neu. Ist er aber nicht. Er sieht nur so aus.
6b) Näh- und Stecknadeln eignen sich – wie aus ihrer sprachlichen Bezeichnung bereits deutlich hervorgeht – vorzüglich zum Nähen und zum Stecken.
6a) Eine lange Schere ist dazu geeignet, Stoff zu schneiden. Nicht geeignet ist sie zum Durchtrennen von Schnürsenkeln.
5.) Stoffreste eignen sich dazu, weggeworfen zu werden. Man kann sie auch aneinander nähen. Aus den Stoffresten, die bei Monas Kleiderproduktion angefallen waren, hätte sich ein knallebunter Flickenüberzug für den Sarg eines toten Dackels anfertigen lassen. Haben die Trauernden vom Leichnam des geliebten Tiers Abschied genommen, wird der Sarg verschlossen und feierlich in eine kleine Gondel gesenkt. Darüber wird der Flickenüberzug gebreitet. Geweihtes und vorgewärmtes Hühnerfett wird über die bunte Decke gegossen und angezündet. Man gibt dem Fahrzeug einen Stoß, es treibt auf die Fluten hinaus. Müde Flammen blaken, als wollten sie der schweigenden Trauergemeinde zum Dank für die Freuden des verflossenen Hundelebens zuwinken. Flockiger Qualm durchmisst als schwarze Diagonale den azurblauen Himmel, bis das Feuer erlischt und der Schlamm der Lagune den Heimkehrenden zu sich nimmt.
3b) Ein aus Aluminiumfolie geprägter Napf ist ein Sarg für ein Fischbrikett à la Bordelaise. Es gibt auch Fischbriketts mit Mandeln.
3a) Leere Zigarettenschachteln sind leere Särge. Sie sind ihrer Leichname beraubt worden, einzig in der Absicht aus diesen den Tod herauszuräuchern.
2.) Eine Untertasse, die als Aschenbecher verwendet wird, ist ein Massengrab für die teerfeuchten Überreste, die bei der Verbrennung exhumifizierter Leichname anfallen.
4.) Schnürsenkel eignen sind dazu, Schuhe zuzubinden.
1b) Mit einem Korken lässt sich eine Flasche verschließen.
Der Korken, der auf dem Glastisch lag, hatte eine Weinflasche verschlossen.
Hermann und Mona hatten die darin enthaltene rote Flüssigkeit getrunken, bevor
Hermann seinen präservativbekleideten Penis in Monas Vagina
hinein und wieder hinaus, hinein
und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und hinein
und wieder hinaus, wieder hinaus,
hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder
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hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus,
hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus,
hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus,
hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus,
hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein
und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinein
und wieder hinaus, hinaus, hinein
und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus,
hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus,
hinein und wieder hinaus, hinein
und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein und wieder hinaus, hinein
und wieder hinaus, hinein und wieder
hinaus, hinein
und wieder hinaus, hinein
und wieder hinaus, hinein und
wieder hinaus, hinein und wieder hinaus,
hinein und wieder hinaus bewegt hatte.
1a) Mit einem stumpfen Gemüsemesser schneidet man Tomaten.
Torpedomaat an Brücke: „Bugrohre 1 und 2 sind klar bei Torpedo!“
Hermann kannte alle Gegenstände, die auf dem Tisch lagen. Sie gefielen ihm. Ihm gefiel, dass er jeden einzelnen kannte. Keiner der Gegenstände war ihm fremd. Er kannte ihren Zweck. Auf dem Tisch gab es nichts, das Hermann nicht verstand, es gab nichts, das ihn interessierte.
Brücke an Torpedomaat: „Bugrohre 1 und 2 – Torpedo los!“
Seite an Seite machten sich die beiden moosfarbenen Körper auf den Weg. Sie hinterließen die von ihren wütenden Antriebspropellern zerquirlten Furze, die sie aus den vorderen Torpedorohren der „Hermann“ ausgetrieben hatten. Erst als sie in der Weite der dunkelgrün schimmernden Glasplatte verschwunden waren, beruhigte sich das Wasser. Das zu einem silbrigen Schleier versponnene Expulsionsgas orientierte sich allmählich, und begann in Gestalt Tausender taumelnder Pilzlein zur Oberfläche zu steigen.
2511.
Bildfläche schwarz
Geräusch, stark verhallt: Zuschlagen einer schweren Eingangstür. Bis zum
vollständigen Abklingen des Nachhalls.
Kurzer Nachtrag zu Kapitel 20, Posten 1b) der Auflistung der Gegenstände auf
dem einzigen Glastisch im einzigen Zimmer von Monas einziger Wohnung:
Es gibt roten und weißen Wein. Es gibt jungen und alten Wein. Es gibt billigen
Wein, der in Flaschen verkauft wird, die mit minderwertigen Korken verschlossen
sind. Hermann klemmte den Korken zwischen Mittel- und Zeigefinger und begann,
daran zu reiben. Die poröse Oberfläche erwärmte sich. Er stellte den Daumen
beim Reiben auf, so dass sein Nagel feine Krümel aus dem morschen Material löste.
Auf der Seite, die in die Flasche hineingezeigt hatte, war der Zylinder durch
die Berührung mit dem Wein schwarz verfärbt worden. Innerhalb des Korkmaterials
ließ die Schwärzung nach. Ein tiefes Rot kam zum Vorschein. Mit weiterem Vordringen
Hermanns wurde der Ton heller. Weit innen würde der von bizarren Kanälen durchzogene
Stoff die beige Farbe von frisch geschnittenem Kork aufweisen. Nichts Unerwartetes
war oder würde geschehen.
Die winzigen Korkkrümel, die auf die Tischplatte hinabgestürzt waren, hüpften eilig zur Seite, um nicht unter den nachfolgenden Bruchstückchen begraben zu werden. Auf diese Weise gelang es dem größten Teil der Krümel, sich zu retten. Unablässig flüchteten sie in Todesangst vom Ort ihres Auftreffens auf die Glasoberfläche, und unablässig purzelten von oben Korkkrümel nach. Es war ein munteres Kontinuum. Ohne die Produktion mit der Linken zu unterbrechen, führte Hermann zwei Finger seiner Rechten an den Mund und befeuchtete sie (er befeuchtete gern mal das eine oder andere). Dann teilte er ein linsenförmiges Terrain am Rand des Glastischs ab. Es wäre ihm ungelegen gekommen, wenn sich die Krümel über den Tisch, ja unter Umständen über den gesamten Erdkreis ausgebreitet hätten.
Die stärksten aus der Schar derer, die den Sturz auf die gläserne Ebene überlebt hatten, hüpften voraus. Als sie die Grenze ihres Reservats erreichten, ging ein Raunen durch die Menge. Es ist einerlei, ob das Krümelgeraun’ den Zeiger eines empfindlichen Fonmeters zum Ausschlag gebracht hätte oder ob sich Hermann das Klangereignis nur einbildete (es hatte dem Geräusch beim Öffnen eines Klettverschluss’ geähnelt), denn ungeachtet dessen ging ein Raunen durch die Menge. Die Krümel hielten mit dem Hüpfen inne. Krümel sind nämlich lange nicht so doof wie Lemminge. Gleich darauf allerdings setzten sie ihre Flucht in alle erdenklichen Richtungen fort, was wiederum Anlass zu der Vermutung gibt, dass Krümel zumindest fast so doof sind wie Lemminge. So trafen sie bald an einer anderen Stelle auf die von Hermann bezeichnete Aule-Gemarkung, backten auf der Spucke fest und durften den Löffel abgeben (bekanntlich führt jede Bewegung auf einer begrenzten Fläche früher oder später zum Tod). Hermann dachte an eine opulente Portion Filets Mignon à la Crème unter den Lampions der mondbeschienen Restaurantterrasse eines *****-Hotels am Meer, gedünsteter Broccoli, Kartoffelkroketten, dazu ein Glas eines blumigen Château du Pape, als Hors d’ œuvre ein Tässlein Gemüsesuppe, während zur Musik der lokalen Langhalslauten retsinabeschwipste Bikinitänzerinnen ihre makellosen Ärsche aalen, sog über der Zunge ein hinlängliches Quantum Qualster zusammen, tränkte damit den Spalt zwischen Mittel- und Zeigefinger seiner Rechten und legte knapp hinter der ersten Sabbersperre eine zweite Schleimsumpfzone an, die noch um einiges krümelfester geriet als die erste. Es war undenkbar, dass ein einzelner, besonders sprungkräftiger oder rotzfester Krümel, dem es wider Erwarten gelungen sein sollte, die innere Schnodderbarriere an einer Furt zu überspringen oder zu durchwaten, über die zweite, äußere Umgrenzung seines Reservats hinausgelangen würde. Vom lebensgefährlichen Transit ohnehin geschwächt, wäre der flüchtige Korkkollege bar jeder bleibenden Wirkung auf das Verbreitungsgebiet seiner Art einsam vor sich hinonanierend abgenippelt. Sollte aber doch zwei Krümeln die Flucht gelingen, so müssten sie:
1.) verschiedenen Geschlechts sein (denn Krümel pflanzen sich geschlechtlich fort).
2.) einander begegnen, kopulieren, das Weibchen müsste werfen, die Nachkommen müssten am Leben bleiben, sich fortpflanzen, osv., osv.
Nein, es war unmöglich, dass sich die Krümel außerhalb ihres geiferumkränzten Terrains verbreiten. Hermann hätte sein spaßiges Experiment allerdings auch ohne diese relative Gewissheit fortgesetzt.
OK. Die Krümel hatten Charme. Hermann war am weiteren Geschehen zwar nicht ausdrücklich interessiert, andererseits aber fühlte er sich von dem, was er angezettelt hatte, auch nicht übermäßig gelangweilt.
2512.
Innen, Abend
Aus der Höhe lotrecht aufs Zentrum des mittelalterlichen Schmuckfußbodens
der nahezu quadratischen Eingangshalle einer Villa. Links und rechts offene
Durchgänge in Zimmer und Flure. Am unteren Bildrand die ersten Stufen einer
breiten Treppe. Gegenüber eine schwere, geschlossene Eingangstür. Davor Seite
an Seite ein Männchen und ein Weibchen. Zu Beginn großer Bildwinkel (Wände der
Eingangshalle sind am Bildrand teilweise sichtbar). Über die gesamte Länge der
Szenen 2512 und 2514 wird gleichmäßig langsam an einen Punkt oben rechts des
Zentrums herangezoomt, bis am Schluss eine Fläche von der Größe einer Zeitungsseite
bildfüllend ist.
Männchen Sunmak. Schau ihn dir an. Das Original befindet sich in der Hagia Sofia. So heißt die Sofienkirche in Istanbul. Auf Türkisch: Ayaşofia – das bedeutet „heilige Weisheit“. Im Altertum nannte man Istanbul Byzanz. 330 nach Christus gab Konstantin der Große der Stadt einen neuen Namen: Konstantinopel. Zu der Zeit war sie die Hauptstadt des oströmischen Reiches. Wusstest du das?
Weibchen Nein.
Männchen Das waren Herrscher, die Metropolen nach dem eigenen Namen tauften.
Weibchen Und seit wann heißt es Istanbul?
Männchen Seit 1930.
Weibchen Nein, das wusste ich nicht.
Männchen Gegen 360 nach Christus wurde der erste Bau der Hagia Sofia vollendet. Anfang des 6. Jahrhunderts wurde dann mit großem Aufwand umgebaut und erweitert, bis die eigentliche Hagia Sofia 537 fertig gestellt war. Das geschah unter Kaiser Justitian.
Weibchen Ist er dein Held?
Männchen Die Hagia Sofia ist das bedeutendstes Bauwerk der byzantinischen Kultur. 1453 kamen die Türken, eroberten Konstantinopel und wandelten das christliche Gotteshaus zur Moschee um. Sie haben an vier Seiten der Kirche Minarette gebaut. 1934 wurde die Hagia Sophia zum Museum. Wenn man möchte, kann man aber trotzdem dort beten.
Weibchen Wenn man möchte, kann man überall beten. Betest du?
Männchen Als Kind bin ich oft dort gewesen. Wir wohnten ganz in der Nähe. Von meinem Zimmer aus konnte ich die gewaltige Kuppel sehen. Wenn ich nach Istanbul fahre, besuche ich die Ayaşofia oft. Sie ist wunderschön.
Weibchen Warum hast du diesen Fußboden hier?
Männchen Er gefiel mir. Schon immer. Wäre mir egal, über welchen Boden ich in meinem Haus laufe, hätte ich Linoleum bestellen können. Als ich diese alte Villa gekauft habe, war sie in katastrophalem Zustand. Im ersten Stock lag in allen Räumen Linoleum. An der Hagia Sofia ist für Jahrhunderte gebaut und verfeinert worden, doch in der ganzen Kirche gibt es nicht einen einzigen Streifen Linoleum. So soll es auch in meinem Haus sein. Es muss nicht Jahrhunderte dauern, bis etwas fertig wird, aber wenn es schön werden soll, sollte man sich Zeit lassen. Manche Zimmer in der zweiten Etage habe ich erst zwei- oder dreimal betreten. Ich konnte mich bislang nicht entscheiden, wie ich sie gestalten lassen möchte. Es ist ein beruhigendes Gefühl, wenn etwas unfertig ist. Dann kann es noch schöner werden. Was hingegen vollendet ist … Ja, vielleicht sollten wir uns nachher mal in der zweiten Etage umsehen. Du hast sicher Vorstellungen, wie diese Räume einmal aussehen könnten.
Weibchen Ich?
Männchen Auf die Decke des kleineren Badezimmers im ersten Stockwerk wird gerade ein römisches Mosaik aufgesetzt. Das solltest du dir anschauen. Weißt du, seit ich dieses Haus besitze, wird es schöner und schöner. Es wird hier ständig installiert und renoviert und restauriert.
Weibchen Geht dir das nicht auf die Nerven?
Männchen Nein, ganz im Gegenteil. Es entsteht etwas. Etwas Schönes. Wenn man zwischen sechzehn Zimmern wählen kann, findet sich immer ein ruhiges Plätzchen. Und wenn einmal gemeißelt werden muss, und ich brauche unbedingt meine Ruhe, setze ich mich in den Pavillon hinaus, oder ich mache einen Spaziergang unten an der Uferpromenade, oder ich sage: „Feierabend für heute! Macht morgen weiter, Freunde!“ Alle Handwerker, die hier arbeiten, sind mittlerweile gute Freunde von mir geworden. Ich lasse eine alte florentinische Firma meine Aufträge ausführen. Es sind alles italienische Handwerker. Jeder einzelne ist voller Eigenarten, doch ein Meister seines Fachs. Manchmal streiten wir uns natürlich. Ich habe bisweilen Wünsche, die sich nur schwer umsetzen lassen. Doch wir arrangieren uns. Mit den beiden, die diesen Fußboden hier gelegt haben, bin ich vor zwei Jahren für einige Wochen in Italien umhergefahren. Wir haben Steinbrüche besucht und sehr schönes Cipollino für zwei Zimmer im ersten Stock ausgesucht. Danach verbrachten wir eine Woche am Meer, und schließlich waren wir noch zu Besuch bei ihren Familien. Reizende Leute, wirklich.
Weibchen Ist ja interessant.
Männchen Die Arbeiten an diesem Fußboden haben ein halbes Jahr in Anspruch genommen. Leider musste die große Granitscheibe durchtrennt werden, weil sie sonst nicht durch die Tür gepasst hätte. Bei genauem Betrachten kann man den Schnitt noch erkennen. Siehst du? Dort.
Weibchen Ja.
Männchen Der Stein, den ich hier habe verarbeiten lassen, ist dem Original sehr ähnlich. Die Maße stimmen auf den Millimeter. Einzig das Material, das für feinen Mosaiken verwandt wurde, entspricht nicht an allen Stellen dem Original. Ich habe die weicheren Partien leicht ausarbeiten lassen, damit der Stein abgetreten wirkt. Hier zu Beispiel. Etwa so könnte das Feld ausgesehen haben, als die Türken es im 15. Jahrhundert vorgefunden haben. Das Original ist heute stärker abgenutzt. In der Hagia Sofia kommt es selbstverständlich viel besser zur Geltung. Umgeben von einer riesenhaften Fläche aus wellenförmig verlegtem, prokonnischen Marmor, liegt es abseits der Mittelachse im vorderen Teil des Bereichs, den die Gläubigen betreten durften. Die Historiker rätseln noch darum, denn seine asymmetrische Positionierung im Kirchenschiff ist ungewöhnlich. Möglicherweise befand sich auf der gegenüberliegenden Seite ein ähnliches Feld, das beim Einsturz der Kuppel im Jahre 1346 beschädigt wurde und nicht wieder hergestellt werden konnte. Das originale Fußbodenfeld stammt entweder aus dem 6. Jahrhundert oder es ist im 8. bis 9. Jahrhundert nachträglich in den Marmorbelag der längst fertig gestellten Hagia Sofia eingesetzt worden. Seine Bedeutung ist ebenfalls weit gehend ungeklärt. Es dürfte aber eine Rolle in der Liturgie gespielt haben. Wie du siehst, ist es in sich asymmetrisch. Möglicherweise symbolisiert die große Zentralscheibe den Weltmittelpunkt. Dann würde es sich um eine Darstellung des Kosmos handeln. Sieh, die kleinen Scheiben am Rand sind unterschiedlich groß und asymmetrisch um die große Granitscheibe angeordnet. Sie stellten die Planeten und die Sonne dar. Das Plattenmosaik dazwischen entspräche dem Weltraum, und das verbindende Bandgeflecht verdeutlicht die Beziehung zwischen der Erde und den Planeten. Ich finde diese Vermutungen sehr interessant. Schon als Junge gefiel mir dieser Fußboden. Leider war das Feld in der Hagia Sofia allzeit von einem kniehohen Seil umgrenzt, damit die Touristen es nicht betreten. Ich wäre gern von einem Planeten zum anderen gehüpft und hätte mich auf den Weltmittelpunkt gestellt und das All um mich rotieren lassen. Aber das durfte ich nicht.
Weibchen Na, nun darfst du ja.
Männchen Äh, Schau, eine der vier größeren Scheiben in den Ecken ist aus hellerem Stein gefertigt. Das sollte die Sonne sein, denke ich. Früher war man der Ansicht, die Erde stünde in der Mitte der Welt und werde von Mond, Jupiter, Venus, Sonne und Mars umkreist. Stell dich doch bitte mal hierher. Sagen wir du bist Venus und ich bin Mars. Vier Scheiben in den Ecken, acht mittlerer Größe an den Seiten, davon ebenfalls zwei aus hellerem Stein, und drei kleinere, die alle zu einer Seite hin orientiert sind. Das lässt sich nicht mit dem Weltbild in Einklang bringen, das im 6. und 8. Jahrhundert herrschte. Was hat sich derjenige gedacht, der das Feld entworfen hat? Wie kam es zu dieser Anordnung? Das ist rätselhaft.
Weibchen Mm, ja, wirklich rätselhaft. Aber es gefällt mir. Weil es so rätselhaft ist.
Männchen Also, eigentlich müssten wir uns das Original einmal anschauen. Da ist diese riesenhafte Kathedrale drumherum, du stehst unter der Kuppel, die über dir zu schweben scheint, und … Es gibt Mosaiken in dieser Kirche: Ich kann dir sagen, da geht einem das Herz über. Wir könnten die Ayaşofia mal besuchen, wenn du möchtest. Ich lade dich ein.
Weibchen Was?
Männchen Ich meine, wir könnten mal runterfliegen, wenn du Lust hast.
Weibchen Was?
Männchen Ja. Wir fliegen nach Istanbul. Wir tun es.
Weibchen Was?
Zugegeben, Hermann beobachtete einige kleinere Auseinandersetzungen. Harmlose
Kabbeleien einiger weniger nur, kaum Handgemenge. Ähnlich den Ungereimtheiten,
die sich allerorten um Belanglosigkeiten ranken: wer hatte am Dienstag, den
20.10., auf offener Straße Lutschmösers neuer Xenzi hinterhergejodelt? Wer hatte
beim Ellenbogenauflegen auf den Tresen behauptet, er werde für alle Drinks gerade
stehen und konnte sich jetzt kaum noch auf den Beinen halten? Wer hatte im Zorn
Jürgies Zweitwagen (ein Cabriolet) mit Elefantenkot voll pumpen lassen? „Aha,
man streitet sich“, verlautete Hermanns Denkhalbschale, als die auslösenden
Sinnesreize im Eingangskörbchen zur Ruhe gekommen waren. Vielleicht aber hatte
man sich schon zuvor gezankt? Vielleicht war ja das Korkstück, bevor Hermann
damit begonnen hatte, es zu zerreiben, bereits in sich zerstritten gewesen?
Das geht vorüber, befand Hermann. Man wird sich zivilisieren, sich organisieren,
man wird die Versorgung sichern, Verletztentransporte einrichten und Notunterkünfte
bereitstellen. Vereine werden gegründet, Fernbedienungen erfunden, Vollversammlungen
einberufen und die Besiedelung unerschlossenen Geländes wird vorangetrieben.
Logisch, dachte Hermann, das liegt auf der Hand.
Inzwischen schien es sich unter den Krümeln herumgesprochen zu haben, dass Hermanns Aule-Streifen den Tod bedeutet. Sie mieden die Zone am Rand ihres feuchtumgrenzten Geheges. Früher oder später werden sie sich auch mit dieser Gegend anfreunden müssen, murmelte Hermann und rubbelte weiter (selbstverständlich hatte der widerliche, sadistische und abartige Hermann den Claim auf dem Glastisch nur abgeteilt, um sich von den sympathischen, natürlichen und kotzstinknormalen Krümeln eins vortanzen zu lassen. Amen).
Die Krümel traten, würgten und bissen sich zunächst paarweise. Mancherorts allerdings hielt einander gleich ein ganzes Dutzend in Schach. Als sich dann gut einhundert Krümel gegenseitig mit Knüppeln malträtierten, hatte dies Hermann im ersten Moment zwar befremdet, doch er gewöhnte sich daran. Genau genommen gewöhnte er sich daran, als man dazu überging, den Gegner mit Pfeilen und Speeren zu durchbohren. Es befehdeten sich dennoch nie mehr als tausend Krümel. Das lag daran, dass Hermann mit der Nachproduktion frischer Krümel schlecht vorankam. Als lediglich tausend Krümel aufeinander losdroschen, hüpften auch kaum mehr als tausend auf dem Glastisch herum. Im Grunde beteiligten sich alle an der Prügelei. Nur ein paar offenbar verhaltensgestörte Brösel riefen vom Rand zu friedlichem Miteinander und gewaltlosem Widerstand auf. Diese bekamen aber bald von den anderen, der Mehrheit, gehörig eins vor den Nuschel.
Unterdessen war Hermann beim Vorantreiben seines Daumennagels in das Rindenstück auf ein verhältnismäßig hartes Flöz gestoßen, das ihm einige Ausdauer für sein zweifelhaft-vergnügliches Experiment abverlangte. Gerade schwante ihm, dass sich sein mittlerweile progressiv gerötetes Nagelbett vom ununterbrochenen Gekratze entzünden könnte, als auf dem Glastisch helles Geknatter laut wurde. Als Hermann begriff, kamen Luntenschlossmusketen gerade aus der Mode. Nicht schlecht, räumte er ein und beobachtete, wie ein Dutzend wüst ausstaffierter Krümel von einer perfekt gedrillten Krümelabteilung füsiliert wurde. „Nun, sicher werden sich diese wenigen eines ernsten Vergehens schuldig gemacht haben“, versuchte sich Hermann die rüde Vorgehensweise der Krümel gegen Artgleiche begreiflich zu machen, als auf dem Tisch zwei lang gestreckte Formationen aufeinander zuhüpften, Kanonendonner knackte und Salven niedlich klingelten. Nachdem sich der Pulverdampf verzogen hatte, erkannte Hermann, dass mehr als drei Viertel beider Reihen tot waren. Der größere Teil der Überlebenden lag röchelnd und sterbend am Boden. Jene, die es nicht erwischt hatte, rammten einander Bajonette, Säbel und Dolche in den Leib. Schließlich jubelte die Siegerpartei, und nach einer verlustbedingt erforderlichen Zwangsrekrutierung frischer Krümel zog man in die nächste Schlacht, aus der man wiederum siegreich, in jedem Fall aber größtenteils tot, hervorgehen sollte. Hermann sah sich das wechselseitige Abgeschlachte in geschlossener Reihe eine Weile lang mit an, dann begann er, sich zu langweilen.
2513.
Innen, Abend
Der Vorführraum eines großen Kinos. Film Stopp. Einen Moment Dunkel, dann
wird die Saalbeleuchtung eingeschaltet. Ein Männlein betritt die schmale Bühne
vor der Leinwand. In der Hand hält es einen Zeigestock, eine lange Papierrolle
und ein Stativ. Es entrollt das Papier und hängt es auf. Applaus.
Zwischenruf aus dem Publikum Na, Kleiner, was geht? Tanzt du uns eins vor?
Männlein Guten Abend. Gewiss
werden sie bemerkt haben, dass das Weibchen mehrfach die Frage „Was?“ gestellt
hat. Ich möchte den Tonfall, in dem es diese Frage wiederholt, kurz erläutern.
Buh-Rufe verschiedener ungebildeter Nachfahren desinteressierter und begriffsstutziger
Ureinwohner böhmischer und angrenzender Waldgebiete. Zwei beleibte Stenotypistinnen
in engen Kostümen erheben sich, staksen die Sitzreihe entlang und verlassen
das Kino. Auf dem Papier steht geschrieben:
[ÈYÃproÈbleùmisÈeùb«ntÈdasiùrfnÈtuùtnUnblaùznkeùn«ÈaùnUNÈhapt]
Männlein Was sie hier in
eckigen Klammern sehen, nennt sich Lautschrift. Die Lautschrift ist ein internationales
Schriftsystem zur getreuen Aufzeichnung der lautlichen Gestaltung sprachlicher
Zeichen. In ihr lassen sich Wörter und Sätze aus beliebigen Sprachen niederschreiben.
Wer den geschriebenen Text laut wiedergibt, kann ihn korrekt aussprechen, ohne
seinen Sinn begriffen zu haben.
Das Männlein tippt mit dem Zeigestock auf die zweite Zeile des Papiers.
Dort steht geschrieben: [vwaÈla¿)kS)].
Das ganze Kino [vwaÈla¿)kS)].
Vergnügtes Gejohle. Baskenmützen werden aufgesetzt. Eine Gruppe von Oberschülern
in der sechsten Reihe stimmt die Marseillaise an.
Das Männlein tippt auf die dritte Zeile. Dort steht geschrieben: [fÃkÈAfÈpished].
Das ganze Kino [fÃkÈAfÈpished].
Das Gejohle schwillt an. Die Baskenmützen verschwinden, Baseballkappen werden
gezückt. Jemand zertrampelt seinen Walkman. Applaus.
Männlein Kommen wir nun zu
der Frage „Was?“.
Auf dem Papier steht geschrieben:
[v] w-Laut, wie in Wart [vart]
[a] helles oder mittelhelles a, wie in hat [hat]
[s] scharfer ß-Laut, wie in Rast [rast]
Das Männlein zieht einen dicken Filzstift aus der Tasche und schreibt:
[vas]
Das ganze Kino [vas]
Männlein Dies ist die korrekte Aussprache des Wortes „was“ in der deutschen Hochlautung.
Zwischenruf aus dem Publikum Alter, du nervst!
Männlein Das Weibchen aber
streckt den Vokal „a“ außerordentlich in die Länge. Es spricht das Wort aus,
als habe es zwei Silben: „Wa’“ und „‘as?“. In der Lautschrift gibt man die Verlängerung
eines Lauts wieder, indem man einen Doppelpunkt nachstellt. Eine weitere Verlängerung
wird durch erneute Nennung des Lauts in runden Klammern erreicht.
Das Männlein schreibt: [aù(a)].
Anstelle des scharfen ß-Lauts benutzt das Weibchen den weichen s-Laut, der wie
das „s“ in dem Wort „Hase“ ausgesprochen wird. Das Zeichen für diesen Laut ist
[z].
Das Männlein schreibt: [Èhaùz«].
Außerdem spricht das Weibchen das Wort mit so genannten Tiefton aus. Im Hochdeutschen
ist der Tiefton ungebräuchlich. Er kommt vor allem in den skandinavischen Sprachen
vor. Die Drucksilbe – das ist meist die erste Silbe – wird dabei tiefer ausgesprochen
als die folgenden Silben. Auf dem „wa“ unseres scheinbar zweisilbigen „wa-as“
fällt die Tonhöhe also ab. Der tiefste Punkt wird dabei kurz vor Ende des Vokals
erreicht. In der zweiten Silbe steigt die Stimme auf eine Höhe an, die noch
über der Ausgangstonhöhe liegt. Die Aussprache eines Worts im Tiefton wird vermittels
eines speziellen Akzentzeichens vor der betonten Silbe angezeigt. Man benutzt
ein umgekehrtes Zirkumflex.
Das Männlein schreibt: [ ].
Wir sind nun in der Lage, die Frage des Weibchens lautlich korrekt zu notieren.
Das Männlein schreibt: [ vaù(a)z].
Zwischenruf aus dem Publikum Dieser Trottel da vorne langweilt mich zu Tode! Lasst endlich den Film weiterlaufen!
Männlein Für den Fall, dass sie inzwischen vergessen haben sollten, worum es sich in unserem Film dreht, haben wir die Rolle ein Stück zurückgespult. Die Situation war folgendermaßen: Sie sitzen in einem Kino und lesen ein Buch, in dem sie als Kinobesucher auftauchen. In dem Film, den sie anschauen, sehen sie sich selbst, als Kinobesucher, der in einem Buch liest. Und in dem Buch, das sie lesen, kommt ein Drehbuch vor, für einen Film, den sie als Leser in dem Buch gerade lesen und daher gewissermaßen auch im Kino anschauen.
Zwischenruf aus dem Publikum Mach dich vom Acker, Jammerharke!
Männlein In dem Film treten ein Männchen und ein Weibchen auf, die symbolisch für …
Das ganze Kino [fÃkÈAfÈpished].
Das Männlein verlässt unter Pfiffen und Gummibärchenbeschuss die Bühne,
während die Saalbeleuchtung erlischt und der Film wieder anläuft.
Mittlerweile war die Reichweite der Waffen gewachsen. Lose Horden undisziplinierter
Krümel hatten herausgefunden, dass weniger wahrscheinlich ist, im Kugelhagel
zersiebt zu werden, wenn man hinter den Leichnamen der bereits Erschossenen
Deckung sucht. Einige Gefechte später ging man dazu über, niedliche Wälle aufzuschütten,
winzige Unterstände zu bauen und getarnte Stellungen anzulegen – größtenteils
aus Krümeln, die bereits ins Gras gebissen hatten, aber auch aus Zigarettenasche,
Fusseln und anderem Dreck, der sich auf dem Glastisch fand. Die Schlachtordnung
veränderte sich, es kam Bewegung in das eintönige Morden. Hermanns Interesse
flammte kurzzeitig auf, erlahmte aber bald wieder.
Allerorten focht man verbissen um jeden Millimeter Glas: Hier wurde ein verwegener Stoßtrupp niedergemacht, dort überfiel ein streng geführter Zug in breiter Front einen Mannschaftstransport. Am anderen Ende des Reservats erledigte gerade ein Schwadron Krümelkavallerie eine Infanterieeinheit. Man zog Verteidigungslinien, nahm Deckung und beharkte sich aus herzallerliebsten Karabinern und mehrläufigen Maschinenkanonen. Hermann staunte nicht schlecht, als die ersten Tanks in Betrieb genommen wurden. Auch für Großkalibriges war gesorgt: Es gab reihenweise Mörser, Haubitzen und Granatwerfer, die munter Spreng- und Brandbomben, Kartätschen und Schrapnells verschleuderten. Doch auch von den herumspritzenden Splittern herkömmlicher Granaten ließen sich die Krümel weiterhin gern verstümmeln. Über der Szenerie lag das Geschrei und Gewinsel derer, die auf dem Niemandsland zwischen den Fronten vor sich hinverreckten. Es war besser als Disneyland©. Die Krümel schienen systematisch vorzugehen: erst bedienten sie einander mit Geschossen aus aller nur verfügbaren Artillerie, dann setzten sie dazu an, die Frontlinie des Feinds zu erstürmen, was langweiligerweise aber nie gelang, weil den attackierenden Krümeln aus den Läufen der gegenüber verschanzten Maschinengewehre und Mitrailleusen der Tod entgegenfurzte. Bald war der Wall aus Krümelleichen zwischen den Befestigungslinien soweit angewachsen, dass die Gegner einander nicht mehr sehen konnten. Hermann amüsierte sich mäßig über den großzügig inszenierten Stellungskrieg, begann jedoch erneut sich zu langweilen. Dennoch: gleichsam als Belohnung für die extravagante Einlage, sozusagen als Ersatz für Applaus, legte er sich bei der Nachproduktion von Krümeln mächtig ins Zeug.
Schon möglich, dass Hermann nicht mehr an seinen schmerzenden Daumennagel dachte. Vielleicht schmerzte der Nagel ja auch nicht mehr? Oder Hermann redete sich mit Erfolg ein, dass sein Daumen nicht mehr wehtäte. Vielleicht musste er sich aber auch überwinden, trotz schneidender Pein weiter an dem Korken zu reiben. Vielleicht biss er gar – wie ein Spießrutenläufer auf einer Schrotkugel – auf einem Kaugummi (oder auf seiner Zunge) herum, um ein Gegengewicht zur peinlichen Präsenz seines Daumens zu schaffen. Was seelisches Wohlbefinden anging, war Hermann zu enormen Opfern bereit (geschmackvolle und gute Unterhaltung ist seelischem Wohlbefinden durchaus zuträglich). Ob er also litt oder nicht litt, spielt keine Rolle, denn in jedem Fall rubbelte Hermann weiter. Von außen besehen – und welch andere Perspektive stünde dem ernsthaften Betrachter zur Verfügung? –, von außen besehen machte es den Eindruck, als hatten die Krümel es mit Hermann und Hermann es mit den Krümeln aufgenommen. Würde er schneller frische Krümel nachreiben können, oder sollte es den Krümeln gelingen, vermittels der enormen Geschwindigkeit, mit der sie sich gegenseitig ins Jenseits beförderten, die Rate von Hermanns Nachproduktion zu übertrumpfen? Wer würde gewinnen? Die Frage lag nahe. Glaubt man aber, Hermann hätte sich auf einen derart platten Wettstreit eingelassen, so kennt man uns’n Hermi schlecht! Wäre es ihm um Sieg gegangen, um Macht und Durchsetzungsvermögen, so hätte er andere Mittel zur Verfügung gehabt. Oder? – Er hätte, verlasst euch drauf. Und Hermann hätte diese Mittel auch eingesetzt! Doch ihm lag nicht daran, die Krümel zu vernichten (nur darauf wäre ein solcher Wettstreit hinausgelaufen). Hermann war kein Sportler. Was ihn einzig zu neuen Rubbelleistungen antrieb, war die Aussicht, von den Krümeln unterhalten zu werden. Er hatte das untrügliche Gefühl, als stecke in ihnen ein einzigartig comicmäßig-theatralisch-clowneskes Unterhaltungstalent. Er gab ihnen die Chance, sich im Showbiz zu beweisen. Das war alles.
Hat der Präser Löcher? Eine Reihe Schwanzfutterale aus einer Produktionsserie
wird mit je einem Viertelliter Wasser gefüllt und in Löschpapierbögen eingewickelt,
die nach einer Weile auf Wasserflecken untersucht werden. Bei einer genügend
großen Zahl von Test-Ollas lässt sich so der Prozentsatz undichter Exemplare
ermitteln. Abhängig von den Qualitätsrichtlinien des jeweiligen Produktionslandes
durften 1979 von den Überziehern, die in den Handel gelangen, zwischen 0,2 Prozent
(USA) und 1,3 Prozent (Schweden) fehlerhaft sein. Die Japaner tauchen ihre Reithofer
in Salzwasser und legen zwischen der Flüssigkeit innerhalb und außerhalb eine
Spannung an. Leistet der Nippon-Präser dem elektrischen Strom weniger als 200
KΩ elektrischen Widerstand, so hat er ein Loch und rauscht durch die Prüfung.
Hermann klaubte eine Stecknadel vom Tisch und rührte auf dem Schlachtfeld herum.
Krümel klammerten sich an den stählernen Turm und versuchten verzweifelt, daran
empor zuklettern. Hermann hätte keine Rechtfertigung für sein Verhalten parat
gehabt, etwa, dass das übertriebene Pathos der Krümel es ihm unmöglich machte,
Gefühle von Zuneigung für sie zu entwickeln (oder irgendwelche ähnlichen Peinlichkeiten).
Hermann legte es nicht darauf an, den Krümeln zu vermitteln, dass sie danach
suchen könnten, ihn positiv zu stimmen. Nichts dergleichen tat er. Er zog die
Stecknadel mit einem Ruck durch den Spuckestreifen, was alle sich daran klammernde
Krümel abtötete. Seine Rechte indes rieb weiter an dem Korken wie Aladin, der
seine Wunderlampe wienert, oder wie etliche andere literarische Gestalten, die
(samt ihrer Urheber), ständig an irgendwelchen Gegenständen der Literaturgeschichte
herumwichsen müssen.
Nein, Hermann empfand ungern individuelles Leid nach. Es lag ihm daher fern, seine Aufmerksamkeit für längere Zeit an einen einzelnen Krümel zu heften. Ebenso wenig entwickelte er zur Gesamtheit der Krümel eine völkische Zuneigung, oder wie immer man das nennen soll. Die Krümel stellten für ihn nichts als hüpfende Statistik dar. Kollektives Leid war ihm ebenso zuwider wie individuelles. Hermann konnte Leid in gleich welcher Form nicht ausstehen. Dennoch weilte seine Aufmerksamkeit bei den Vorgängen auf dem Tisch. Das hatte zwei Gründe:
1.) Es schien Aussicht darauf zu bestehen, dass ihm die Krümel mit ihrer Aufführung eines dramaturgisch schlüssigen und darstellerisch überzeugenden Showdowns Muße bereiten würden (Hermann erfreute sich gern an jenen Ereignissen in der umgebenden Toposphäre, die seine sieben Sinne ihm als „lustig“ vorspiegelten).
2.) Er hatte gerade nichts Besseres zu tun.
Und weiterhin ins Gipsköpfische gedolmetscht: Nahezu nie – allerhöchstens, wenn er denn par tout keine andere Möglichkeit sah, sich seiner Langeweile zu erwehren – hofierte Hermann der trügerischen Versuchung, den Kräften nachzuspüren, die ursächlich hinter dem wechselseitigen Sichabgemurkse der Krümel wirken. Nicht aus Interesse oder etwa weil es ihm „Spaß“ bereitete, sondern einzig, um sich dem quälenden Abebben seiner Kurzweil entgegenzustemmen, aus purer Not also, blieb ihm gelegentlich jedoch nichts anderes übrig, als seine Beobachtungen auf das Vorhandensein von kausaler Vernetzung zu durchfischen. Der gedankliche Faulschlamm, der ihm bei diesem Herumgewate im mentalen Morast unter den geistigen Sohlen hervorquoll, widerte ihn an. Zähflüssige und in ihrer Kompliziertheit unfassbare Pampe war’s. Ergebnisse lagen meilenweit fern. So kam Hermann beispielsweise nicht zu der Einsicht, dass den Auswüchsen intraspezifischer Aggression beim offensichtlich fatalen Mangel einer hinlänglich ausgeprägten innerartlichen Tötungshemmung beziehungsweise bei der Überwindung dieses arterhaltenden Mechanismus’ durch die künstliche Schaffung von Distanz mithilfe raffinierter technischer Mittel immer wildere Ranken wucherten oder so ähnlich. Derartiger Gedankenspielerchen bedurfte es nicht. Nein, dazu fand Hermann die Krümel zu lustig.
Wäre er auf die Splatterorgie, die vor seinen Augen abgefeiert wurde, angesprochen worden: Vielleicht hätte Hermann sogar geantwortet. Doch niemand sprach ihn an. Wie auch? Er war ja bloß eine Romanfigur. Als solche amüsierte er sich. Einzig ungewöhnlich war, dass er sich kaum langweilte. Doch das bemerkte Hermann nicht, weil es ihn ja nicht störte.
2514.
Innen, Abend (wie 2512.)
Männchen Wie kam es zu dieser Anordnung? Das ist rätselhaft.
Weibchen Mm, ja, wirklich rätselhaft. Aber es gefällt mir. Weil es so rätselhaft ist.
Männchen Also eigentlich müssten wir uns das Original einmal anschauen. Da ist diese riesenhafte Kathedrale drumherum, du stehst unter der Kuppel, die über dir zu schweben scheint, und … Es gibt Mosaiken in dieser Kirche: Ich kann dir sagen, da geht einem das Herz über. Wir könnten die Ayaşofia mal besuchen, wenn du möchtest. Ich lade dich ein.
Weibchen [ vaù(a)z]?
Männchen Ich meine, wir könnten mal runterfliegen, wenn du Lust hast.
Weibchen [ vaù(a)z]
Männchen Ja. Wir fliegen nach Istanbul. Wir tun es.
Weibchen [ vaù(a)z]?
Männchen Äh, sag mal, bist du irgendwo rein getreten?
Weibchen Ich?
Männchen Ja.
Weibchen Ah! Igitt! Ist das widerlich! Bäh, wie ekelhaft! Oh, wie mir das Leid tut! Dein schöner Fußboden!
Männchen Na, so ‘was kann vorkommen. Hätte mir auch passieren können. Warte
bitte mal einen Moment. Aber besser nicht bewegen. Ich bin gleich zurück. Und
zieh den Stiefel bitte nicht aus.
Das Weibchen steht mit einem angezogenen Bein auf der mittelgroßen Granitscheibe
am unteren linken Bildrand. Das Männchen verschwindet durch einen der offenen
Durchgänge und kehrt kurz darauf mit einer Zeitung zurück.
Männchen So. Stell den Fuß bitte hier auf die Zeitung. Na, ich fürchte, die Stiefel sind hinüber. Himmel, sind da aber viele Ösen dran.
Weibchen [ vaù(a)z]?
Männchen Findest du nicht auch, dass wir dir gleich morgen ein neues Paar kaufen sollten? Vielleicht eines mit noch längeren Senkeln? Ich meine so ein Paar Schnürstiefel, wo noch mehr Ösen dran sind, weißt du?
Weibchen Moment, ich glaube, ich setze mich doch auch besser hin.
Männchen Du rasierst dir die Beine, nicht wahr? Wie die Französinnen.
Weibchen Wie [ vaù(a)z]? Vorsicht, mach dich nicht schmutzig.
Männchen Aber klar rasierst du sie. Fühl’ doch mal, wie glatt die sind.
Weibchen [ vaù(a)z]? Und der andere Stiefel? Soll ich den etwa anbehalten?
Männchen Aber gewiss nicht. Vielleicht solltest du mir übrigens auch … Na also.
Weibchen [ vaù(a)z]?
Männchen Also, rasierst du sie? – Und der andere Schuh? Soll ich den etwa anbehalten?
Weibchen [ vaù(a)z]?
Männchen Ist ja nicht zu fassen. Alles vollkommen glatt. Meinst du, dir würden Perlen stehen?
Weibchen [ vaù(a)z]?
Männchen Und jetzt soll ich mich auf Socken vor dir blamieren?
Weibchen [ vaù(a)z]?
Männchen Ja, so ist brav …
Das barfüßige Männchen packt das barfüßige Weibchen an den Knöcheln und
schleift es nach unten rechts in Richtung der zentralen Granitscheibe aus dem
Bild heraus. Der Bildausschnitt fokussiert sich allmählich auf die Zeitung,
auf der die Fußbekleidungen stehen.
Männchen Ich könnte mir vorstellen, dass dir ein weißes Seidenkleid stünde.
Weibchen [ vaù(a)z]?
Männchen Jedenfalls kaufen wir morgen ein neues. Ein viel schöneres, ne?
Weibchen [ vaù(a)z]?
Männchen Und wie wäre es mit weißen Seidenstrümpfen dazu?
Weibchen [ vaù(a)z]?
Geräusch, stark verhallt: das Reißen von Kleiderstoff.
Pause.
Geräusch, unverhallt: Jemand verzehrt eine rohe Schweineleber.
Weibchen [ vaù(a)z]?
Pause.
Geräusch, unverhallt: Jemand verzehrt eine rohe Schweineleber.
Wie reißfest ist der Prüfling? Die Belastbarkeit wird ermittelt, indem ein Teil
aus der Latexmembran gezogen oder gedehnt wird. Gemessen wird, bei welcher Zugkraft
der Gummiabschnitt reißt. Eine andere Testmethode besteht darin, den love-balloon
aufzublasen, bis er platzt, wobei das im Qualitätsstandard definierte Luftvolumen
nicht unterschritten werden darf. Nur Kondome aus Herstellungsserien, die den
Anforderungen der Qualitätsstandards entsprechen, dürfen das im Lande gültige
Gütesiegel tragen.
Unterdes waren alle Beobachtungsballons und Bomben werfenden Luftschiffe der
ingeniösen Krümel abgeknallt worden. Dafür erhoben sich nun Aufklärungsmaschinen
in den Luftraum über dem Tisch, Jagdgeschwader stießen aufeinander und Sturzkampfbomberverbände
nahmen Befestigungslinien und Geschützstellungen unter Beschuss. Man beballerte
sich aus allen verfügbaren Mündungsrohren. Lichterloh brennende Maschinen schmotzten
in den Seiber und versanken zischend im Speichel. Hermann hielt in der Rechten
die leere Zigarettenschachtel, die er, wenn sich eine Maschine zu weit über
die Spuckebarriere hinausbewegte, als Krümelklatsche benutzte.
Ein kampfstarkes Krümelheer drang überraschend und scheinbar unaufhaltsam in die gläserne Ebene vor, die sich auf der rechten Seite des Terrains ausdehnte. Schließlich gelang es dem Gegner, den Feind zu stoppen. Man holte zum Gegenschlag aus. Eine komplette Krümelarmee wurde einkesselt. Zu Hilfe eilende Truppen versuchten, sich zu den Umschlossenen durchzukämpfen. Statt aber den Rettern entgegeneilen, rührte man sich nicht vom Fleck. „Lieber sterben, als einen Nanometer Boden abtreten“, schien der bedingungslose Befehl dieser Krümel zu lauten. Hoffentlich gelingt es, die Umklammerung aufrecht zu erhalten, murmelte Hermann, der sich über den Tisch gebeugt hatte, um besser sehen zu können. Vor Aufregung rubbelte er gar etwas schneller an dem Korken. Abertausende Krümel bissen ins Gras – es war ein Fest! Als die Kesselschlacht ihren Höhepunkt erreichte, war Hermann kurz davor, sich zu fragen, was in den Krümeln vorgeht. Aprilapril! Das Gemetzel war so funny, das Abschlachten ein derartiger Brüller, dass Hermann nichts unpassender vorgekommen wäre, als der Vorschlag, darüber nachzudenken.
Dann kamen Hubschrauber in Mode. Sie hatten zwei Vorteile:
1.) Es sah lustig aus, wenn sie abgeschossen wurden. Die Rotorblätter flogen so ungestüm durch die Gegend und mähten noch zentimeterweit entfernt hüpfende Krümeleinheiten nieder.
2.) Die Geschwindigkeit der Helikopter war relativ gering, so dass Hermann sich besser auf die Jets konzentrieren konnte, die etwa gleichzeitig aufkamen und weit schneller waren als alles bisherige bekrümelte Fluggerät. Die Jets machten ihm zu schaffen. Teils erwischte er sie mit seiner Klatsche erst, wenn sie sich schon nahezu außerhalb der Reichweite seines gestreckten Arms befanden.
Ununterbrochen erfanden die Krümel neues Gerät, um sich gegenseitig den Garaus zu machen. Neuerdings bombardierte man sich mit Giftgas und Napalm. Zu Giftgas hatte Hermann ein geteiltes Verhältnis. Zu Napalm hatte er überhaupt kein Verhältnis. Irgendwo hatte er einmal mit angehört, wie jemand erzählte, dass sich ein Bekannter einen Hund angeschafft und das Tier auf den Namen „Giftgas“ getauft habe. Hermann konnte sich nicht erinnern, wo er die Story aufgeschnappt hatte. „Komm, Giftgas!“ oder „Giftgas, pfui!“ Es sei unmöglich gewesen, mit dem Besitzer des Tiers ein vernünftiges Wort zu wechseln, solange sein vierbeiniger Gefährte in der Nähe gewesen sei. Es muss sich um ein auffallend nervöses Tier gehandelt haben, schloss Hermann, und erinnerte sich, dass ihm dieser lapidaren Gedanke schon einmal gekommen war. Nur hatte sich der Gedanke damals nicht vor die unbeantwortete Frage nach der Herkunft der Erinnerung als Ganzem geschoben. Es wurde Hermann zu kompliziert, und er ließ von seiner Überlegung ab. Nein, zu Giftgas hatte er ein geteiltes Verhältnis.
„Napalm in der südostasiatischen Küche“, diese fragwürdige Kochbuchpublikation, war hingegen spurlos an ihm vorübergegangen. Bald nach ihrer Veröffentlichung hatte es unter Hobbyköchen eine Reihe bösartiger Unfälle gegeben, die auf den Kuriositätenseiten der Tagespresse ausgewalzt worden waren. Das Werk war schließlich durch seine medienbedingte Popularität bis in die unteren Plätze der Bestsellerlisten aufgestiegen. Nein, zu Napalm hatte Hermann überhaupt kein Verhältnis (und für Politik interessierte er sich auch nicht).
Gelangweilt klatsche er hier einen Brand aus und fächelte dort über den Tisch, um das Gas zu verteilen. Hermann bemerkte es kaum, aber allmählich gingen ihm die Krümel tierisch auf den Zeiger.
Und wie immer, wenn Hermann die Freude an etwas verlor, versuchte er es geistig zu durchdringen, was im Allgemeinen damit endet, dass es ihm vollständig über wird.
Zusätzlichen Schutz vor Empfängnis und Infektion bietet eine Substanz namens
Nonoxinol-9. Sie ist gut schleimhautverträglich und wirkt gegen Spermatozoen,
Viren, Bakterien, Pilze und Protozoen. Nonoxinol-9 wird bei Präservativen als
spermizide Beschichtung verwendet und ist auch – Hey! – in Vaginal-Schaumzäpfchen
enthalten – Hands up!
Vorübergehend müssen wir unseren Kurs ändern, um etwas zu umschiffen, das uns
im Weg steht. Wir wissen allerdings nicht, was es ist. Wir wissen nur: es steht
im Weg und wir müssen uns damit arrangieren. Also arrangieren wir uns damit.
Margit ist ein „reellhomogenes anisotropes Diskontinuum“. Interessant ist dies
vor allem für jene vergnügungssüchtigen Kreaturen, die nach Feierabend noch
den Antrieb verspüren, sich auszuleben, jedoch nicht in eine Diskothek gehen
möchten, etwa weil dort die Luft schlecht ist und die Getränke teuer sind. Wer
also keine Plastik-Modellbausätze mehr im Haus hat (weder „Spitfire“ noch „Me-109“),
sollte versuchen, sich aus dem Bausatz „reellhomogenes anisotropes Diskontinuum“
das Modell von etwas Sinnvollem zusammenzubasteln. Das beruhigt. „Geeignet für
Erwachsene ab sechs Jahre“ ist auf dem Deckel der Pappschachtel zu lesen.
OK. Der Inhalt:
1.) Sämtliche Einzelteile für das Modell von etwas Sinnvollem, Typ „reellhomogenes anisotropes Diskontinuum“.
2.) Eine bebilderte, mehrsprachige Montageanleitung sowie Skizzen zu verschiedenen staffelspezifischen Tarnanstrichen (unerlässlich für jene, die das Modell von etwas Sinnvollem originalgetreu bemalen möchten).
3.) Abziehbilder der Hoheitskennzeichen.
Das fertige Modell ist nicht flugfähig. Achtet man allerdings beim Einbau des Propellers und der Fahrgestellräder darauf, dass kein Klebstoff auf die Achsen gerät, so bleiben diese Teile beweglich.
Auf der Unterseite des Kartons finden sich weitere Informationen. Der Zusammenbau nähme zwischen drei Sekunden und vierunddreißig WKM (Welt-Kalender-Monden) in Anspruch, abhängig von den Kenntnissen und Veranlagungen desjenigen, der das Modell zusammensetzt. Falls sich er Bastelvorgang jedoch unangenehm lange hinzieht, empfiehlt der Hersteller, die Arbeit an dem Modell abzubrechen. Für diesen Fall wird ein Anspruch auf Umtausch gegen einen einfacher zu realisierenden Bausatz der gleichen Preisgruppe eingeräumt. Dabei gilt:
1.) Das Modell von etwas Sinnvollem muss in der Originalverpackung an den Hersteller zurückgesandt werden.
2.) Der Kassenzettel muss beiliegen.
3.) Eine von den Vereinten Nationen, dem Vatikan oder dem Ayatollah Khomeini beglaubigte schriftliche Erklärung ist beizubringen, aus der hervorgeht, dass der Versuch, das Modell von etwas Sinnvollem zusammenzusetzen, gescheitert ist.
Der Hersteller bedauert, dass der Gesetzgeber es nicht gestattet, den erforderlichen Montageklebstoff beizulegen. Dem Käufer wird dringend nahe gelegt, sich einen geeigneten Bedeutungskleister zuzulegen (z. B. UHU-Sinn®).
Der Abend ist lau. Was sich Downtown abspielt, ist bekannt. Es macht uns nicht an. Also ran an den Speck! Wir öffnen den Karton.
Wie Hermann versucht, die Krümel geistig zu durchdringen, was damit endet, dass
sie ihm vollständig über werden:
Vielleicht schwarze und beige Krümel gegen rote, mutmaßte Hermann als er versuchte,
den gesamten besiedelten Teil des Glastischs auf einen Blick zu erfassen. Dann
aber entdeckte er ein MG-Nest, das mit einer unerschrockenen Horde krebsroter
Krümel besetzt war, die von einem manisch brüllenden schwarzen Krümel befehligt
wurde. Man feuerte auf schwarze, beige und rote Krümel, die gemeinsam versuchten
gegen die Stellung anzurennen. Unweit davon verminte gerade ein Kommando schwärzlicher
Partisanen einen Pass zwischen zwei Bergen von Krümelleichen. Bald darauf wurde
an der Stelle eine beigefarbene Versorgungsdivision in Stücke gerissen. Vielleicht
ist ja ihre Größe oder ihr Geruch ausschlaggebend, überlegte Hermann. Dann wieder
hatte er den Eindruck, als käme der Morphologie der Krümel Bedeutung zu: Lang
gestreckte überrannten einen Vorposten eher gedrungener Korkstückchen, an anderer
Stelle hieben scharfkantige auf flache Krümelchen ein. Die Bildung von Allianzen
schien in ständigem Fluss. Krümel, die eben noch Seite an Seite mit der Ermordung
Dritter beschäftigt gewesen waren, beschmissen einander im nächsten Augenblick
mit Handgranaten. Warum nur führten sich leblose Brösel, die aus einem einst
toten, dann lebendigen, dann wieder toten und schließlich mausetoten Ganzen
geboren worden waren, so lebensfroh und todessüchtig auf? Hermann verstand nicht.
„Wir haben es hier mit einem Modellversuch zu tun“, verfügte er, und teilte mit der Stecknadel eine Versuchspopulation ab. Die schwarzen Exemplare wies Hermann nach links hinaus und ließ sie in Kolonnen von drei mal sieben Krümeln antreten. Hermann fasste zu sieben Bataillonen zusammen, die er dem Kommando jeweils eines Stabsfeldwebels unterstellte. Dann ließ er in Form eines dreistrahligen Sterns antreten. Die extravagante Formation hüpfe im Kreis herum, der Stern war fertig. Es sah ausgesprochen adrett aus. Ein Modellversuch schien leichter auszuführen, als Hermann angenommen hatte. Um auch die Krümel zu beschäftigen, die untätig auf dem Versuchsgelände herumstanden und dem blödsinnigen Reih-und-Glied-Gehüpfe zusahen, schaffte Hermann von außerhalb einige Berge Krümelleichen herbei. Sofort begannen die beschäftigungslosen Nichtsnutze damit, aus dem Material drei längliche Gebäude zu zimmern: Lazarett, Latrine und Kantine, entschied Hermann (obwohl er sich seiner Sache zunächst nicht ganz sicher war).
Wie der Brausekopf am Ende des Mischwasserrohrs über der Duschpfanne schwebte Hermanns Linke über dem Krümelland. Hin und wieder blickte er vom Versuchsgelände auf, um zu prüfen, ob auf dem Tisch alles in Ordnung ist. Hier zerschlug er ein abtrünniges Fluggerät, anderenorts rührte Hermann für einen Moment in einer der fortwährend tobenden Schlachten herum. Dafür hatte er Gründe (merke: Alles hat Gründe). Vielleicht war er frustriert, weil er die Krümel nicht verstand, und deshalb war es ihm ein Bedürfnis, sich an etwas Hilflosem abzureagieren? Als solches boten sich die Krümel doch an, oder?
Die Versuchsanordnung wirkte überaus kunstvoll, doch stieß Hermann sich daran, dass sein Experiment zu keinem Ergebnis geführt hatte (er konnte furchtbar pedantisch sein): ein in Reih‘ und Glied hüpfender Stern, hämmernde und sägende Lazarettisti, Latrinisti und Kantinisti. Das war schön. Das war gut. Das war Kunst. Nichts strömte von der Glasplatte zu Hermann empor und nichts strömte von ihm zurück auf den Tisch. Es gab keine Abfallprodukte, keinen Gestank, kaum Lärm, es wurde keine gefährliche Strahlung emittiert, die einem die Haare ausfallen ließ, man bekam keine Pickel oder unvorteilhafte Tumore davon, alles war gratis und niemand Ernstzunehmendes kam körperlich zu Schaden. Das war schön. Das war gut (merke: Kunst ist schön und gut). „Aber was hat es zu bedeuten?“ fragte sich Hermann. Er spürte die enorme Druckwelle, die von dieser Frage ausging. Sie schoss ihm durchs Mark, durch die Hüften, die Beine entlang in die Schuhe hinein. Er spürte, wie sie von dort in den Dielenfußboden unter seinen Fußsohlen hinüberflutschte und sich die Erdkruste entlangpellte, um bald nach schräg unten abzubiegen und in die tiefer liegenden magmatischen Glibberglabbermasseschichten hinabzustoßen. Er spürte, wie die Druckwelle von ganz tief unten das stilisierte Bild einer dicklichen Eiernudel auf die Plotter der internationalen Seismografennetze zauberte, um sogleich am Mittelpunkt der Erde reflektiert zu werden und wieder emporzuschießen. Hermann spürte, wie die Druckwelle zu ihm zurückgelangte (freilich nicht ohne im Vorüberflitzen mit ihrem Elstergelächter die Erdkruste erschreckt zu haben), er spürte, wie sie durch seine Fußsohlen in ihn zurückglitt, wie sie ihm in den Adern prickelte, um aber augenblicklich kehrtzumachen und erneut emporreflektiert zu werden, und Hermann spürte, wie sie hinabzischte und wieder hinaufkam und immer so fort – wollten ihn die Krümel verarschen? Wollten sie ihn auf etwas aufmerksam machen? Wünschten sie, dass der Betrachter sich in ihrem Tun widergespiegelt sähe? War das, was die Krümel aufführten, etwa eine Demo? Verbarg sich hinter ihrem Handeln ein Gleichnis? Protestierten sie? Und wenn ja: wogegen? Sollte ihre Show eine Anti-Kriegs-Parabel darstellen? Und wenn dem tatsächlich so war: Welcher verfluchte Presskopf steckte dahinter? Wer brachte die Krümel dazu, zu leben und zu sterben? Erschrocken wandte sich Hermann um. Für einen Moment war es ihm erschienen, als habe direkt hinter ihm jemand schwer geatmet. Gewiss, er selbst hatte die Krümel zu kreisförmigem Hüpfen angetrieben. Es war wohl nur das Geräusch seines eigenen Atems gewesen, das ihm unter der Last der unbeantworteten Fragen fremd vorgekommen war. Ja, er selbst hatte die Krümel mit der Nadel angestupst. Aber wer hatte ihn angestupst?
reell: wirklich, tatsächlich vorhanden, echt.
homogen: gleichmäßig aufgebaut, einheitlich, aus Gleichartigem zusammengesetzt.
Vorsilbe a… (vor Vokalen und vor h zu an… erweitert): verneinende Bedeutung.
isotrop: nach allen Richtungen hin gleiche physikalische und chemische Eigenschaften
aufweisend.
Vorsilbe Dis…: zwischen, auseinander, hinweg; verneinende Bedeutung.
Kontinuum: sich gleichmäßig fortsetzend, lückenlos Zusammenhängendes.
Margit ist ein Krähenfuß. Um sich ein Bild von ihr zu machen, stelle man sich
ein gleichseitiges Tetraeder von einem Meter Kantenlänge vor, in dessen Mitte
sich das Zentrum des Universums befindet. Aus den vier Flächen dieses (imaginären)
Zentraltetraeders ragen vier Arme lotrecht heraus. Ihr Winkel zueinander beträgt
120°. Sie verjüngen sich zu den Enden. Alle vier Arme sind identisch. Zur Mitte
des Universums hin ist der Querschnitt jedes der Arme gleich der Fläche des
(imaginären) Zentraltetraeders, aus der er herausragt. Sie haben die Form ungleichseitiger
Tetraeder, deren Länge sich errechnet, indem man zum Radius des Universums die
15 bis 20 Zentimeter hinzurechnet, welche die Spitzen der Arme durch den Rand
des Universums hindurchstechen: 11.800.000.000.000.000.000.000.000.000 cm +
15 bis 20 cm, das macht gut 11.800.000.000.000.000.000.000.000.000 cm (mer woin
ja hèr koane Suitanìnen schàißen, noa?) Die Regelmäßigkeit, mit der Margit aufgebaut
ist, lässt auf kristalline Struktur schließen. Richtig! Margit besteht durchgehend
aus dehydriertem und chemisch reinem kohlensaurem Margit-Anhydrid. Ihre Körpertemperatur
liegt geringfügig über dem absoluten Nullpunkt. Ihre Arme enden in einer gerade
Reihe einzelner Moleküle (was für die letzten 15 bis 20 Zentimeter allerdings
nicht vollkommen gesichert ist). In Margits stattlichem Volumen (immerhin 59.000.000.000.000.000.000.000.000
m3) gibt es keine Unregelmäßigkeiten der Kristallstruktur. Margit
stellt somit ein ideales Kristall dar. Ideale Kristalle dieser Größe sind selten.
Margit hat Glück gehabt. Sie ist was Besonderes. Jubilate!
Leider ist sie nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich etwas zu groß geraten. Glaubt man denn, Margit sei bereits seit einigen Tagen ein Krähenfuß und bleibe es, bis dass der Tod sie scheidet, so ist man auf dem Holzweg. Limitierte Vorstellungen von ihrer zeitlicher Ausdehnung als Krähenfuß sind unangebracht. Am nächsten kommt man dem, was Margit ist, wenn man sich vorstellt, sie bleibe bis in alle Ewigkeit ein Krähenfuß, und dann rechnet man noch 15 bis 20 Minuten hinzu. Desgleichen anders herum: nicht schon immer war Margit ein Krähenfuß, nein, sie hatte bereits eine gute Viertelstunde vorher damit begonnen.
OK, könnte man sagen, Margit ist also ein ziemlich großer Krähenfuß, und als solcher ist sie harmlos, denn der Gürtelreifen, der sich an ihr platt fährt, muss erst noch erfunden werden. Das ist falsch. Allein die mutwillige Verwendung von Margit erfüllt bereits den Tatbestand der vorsätzlichen Sachbeschädigung nach §303 des StGB.
Nicht strafbar ist hingegen, sie zu beschreiben. Zwar ist es nicht sehr sinnvoll, Margit zu beschreiben, doch es ist nicht strafbar. Leider lässt sich etwas oder jemand aber nur unter Einhaltung der Grenzen menschlicher Vorstellungskraft beschreiben. Da nun Margit den vorstellbaren Raum um 15 bis 20 Zentimeter und die vorstellbare Zeit um eine gute Viertelstunde überschreitet, wird beim Versuch, sie zu beschreiben, die Grenze menschlicher Vorstellungskraft gesprengt. Man kann sich Margit nicht vorstellen, also lässt sie sich nicht beschreiben. Sie ist unbeschreiblich unvorstellbar. Kaum zu fassen, ne?
15 bis 20 Zentimeter, eine gute Viertelstunde – bei derart unpräzisen Strecken- beziehungsweise Zeitangaben handelt es sich offenbar um Vermutungen. Gesichert ist nichts (merke: Alles ist nicht gesichert). Vielleicht war ja Margit bereits vor Beginn der Zeit für die Dauer von zwei Gebühreneinheiten ein überreifer Limburger, und jeder ihrer Arme endet drei Spann, zwei Ellen und sechs Faden außerhalb des vorstellbaren Raums in einem eitrig entzündeten Aknepickel? Möglich. Doch man sollte nicht darüber spekulieren, was sich außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft abspielt. Derlei ist unseriös. Margit passt nicht in den Raum, sie passt nicht in die Zeit, sie passt nirgendwo rein. Sie hat nie rein gepasst und sie wird nie rein passen. Auf ihrem Kanal (Kanal 2) kommt nichts an. Der Monitor zeigt eine durchgezogene Linie bei 2,7° Kelvin. Sie ist weg. Vergesst sie. Keiner weiß, was mit ihr am Bach ist.
- Was gibt es also von Margit zu erzählen?
- Nichts.
Doch es gibt anderes zu erzählen. Die Story von Siegfried zum Beispiel.
Inzwischen war der Bau der Kantine abgeschlossen worden, und die Pioniere hatten
damit begonnen, die angrenzende Kaffeeterrasse zu überdachen. Vielleicht taten
sie es aus Arbeitseifer, vielleicht aus Jux und Dollerei. Die Schuld dafür lag
auf jeden Fall bei Hermann, denn er hatte nicht aufgepasst. Den Kantinisti war
das Baumaterial ausgegangen, also hatten sie einen Teil der Latrine demontiert.
Die Krümel, welche die Latrine zusammengesetzt hatten, bewaffneten sich daraufhin
mit Hämmern, Sägen und Stechbeiteln und zogen in Richtung Kantine, aber nicht,
um sich dort ein Kännchen Tee zu gönnen. Als sie an der Baustelle anlangten,
wurden sie allerdings nicht beachtet, denn inzwischen standen sich dort das
Kantinen- und das Lazarettkollektiv gegenüber. Die einen tönten, das ständige
Geschrei der Verletzten störe beim Essen, die anderen waren der Ansicht, es
sei unverantwortlich, dass bei entsprechender Wind- und Wetterlage der Bratwurstdunst
aus dem Küchenabzug in den Operationssaal ströme. Die jeweiligen Brigadepoliere
staken bereits in verspannter Haltung aneinander vorüber und riefen sich die
technischen Daten ihrer Compact-Disc-Abspielgeräte zu. Bald würde ein Schaukampf
entbrennen, und der wiederum würde in handfeste Randale ausarten. Dessen war
sich Hermann sicher.
Die Pioniergruppe „Latrine“ brüllte wie am Spieß, um ihren Vorarbeiter, einen qualligen Krümel mit der Physiognomie eines eckigen Popels, anzufeuern. Weit schallte ihr Gequiekse über den Tisch (Krümelgebrüll klingt wie Gequiekse). Von dem neuerlichen Lärm zusehends abgelenkt, achteten viele der sternförmig exerzierenden Krümel nicht länger auf die Kommandos ihrer Unteroffiziere und gerieten aus den Hüpfrhythmus. Zunächst ließ die Genauigkeit der Konturen des Sterns nach. Schließlich lösten sich Gruppen schwarzer Krümel aus dem Verband. Diese Deserteure bewegten sich auf die Kantine zu. Planten sie, die wütenden Latrinisti, denen unverwandt keine Beachtung geschenkt wurde, daran zu hindern, einzugreifen? Wollten sie nur zuschauen oder wollten sie bei dem sich anbahnenden Putz mitmischen? Vielleicht ist ihr Ziel, den Kuchenkeller zu plündern, erwog Hermann. Leider musste er zwischendurch zwei dicke Düsenbomber platt hauen, die sich, der eine in Richtung Fernseher der andere auf das Fenster zu, über den Tisch davonmachten. Als Hermann die Klatsche an ihren Platz zurückgelegt hatte, waren die Mitglieder der Pioniergruppen bereits in Paare aufgeteilt: Lazarett – Kantine, Lazarett – Latrine, Kantine – Latrine. Alle Kombinationen schienen zugelassen. Stumm standen sich die Pärchen gegenüber. Es sah aus, als warte man auf ein Signal. Das Signal ertönte und man begann ausgelassen Walzer zu tanzen. Die Latrinisti führten. Überhaupt zeichnete sich der Bröselball durch besonderen Schwung aus. Doch auch andere Paare brillierten. Selbst einige schwarze Krümel aus der inzwischen nahezu zerfallenen Sternformation schwoften mit. Plötzlich, wie auf ein geheimes Kommando erwürgten etliche sichelförmige Krümel ihr Gegenüber und pöbelten die übrigen Tänzer an, die sich allerdings kaum ablenken ließen. Hier und da wurde noch ein schlechter Tänzer erwürgt, dann schienen die Störenfriede begriffen zu haben, dass sie auf der Fête unerwünscht waren, und wandten sich grölend den Resten der Latrine zu. So mancher unbeteiligte Krümel, der – wer weiß warum? – keinen Tanzpartner abbekommen hatten, hüpfte dem Plebs nicht früh genug aus dem Weg und bezahlte mit dem Leben. Hermann blickte nicht mehr durch. Sein Modellversuch war offenbar auf die schiefe Bahn geraten. Er war irgendwie aus der Spur gelaufen. Er schien den Pfad der Tugend verlassen zu haben oder so ähnlich.
Ein Kondom kann reißen, es kann beim Herausziehen des Weihwedels aus der Konzertina
abgleiten, außerdem kann seine Membran aufgrund eines Anwendungs- oder Herstellungsfehlers
undicht sein. Die Versagerquote eines schwangerschaftsverhütenden Hilfsmittels
beim Geschlechtsverkehr wird als Pearl-Index bezeichnet. Beim Kondom liegt er
unter idealen Bedingungen zwischen 3 und 4. Das heißt: Würden für die Dauer
eines Jahres 100 Frauen beim Geschlechtsverkehr erfolgreich darauf bestehen,
dass ihre Stecher Kondome anlegen, und würden diese Männer sich beim Überziehen
der kontrazeptiven Kleidungsstücke clever anstellen, würden die Kerls also frische
Frömmse vorsichtig auspacken, sie faltenfrei anlegen, ohne Sand am Paddenspicker
zu tragen und ohne die zarte Latexhaut mit ihren Fingernägeln zu perforieren,
und würden sie die Kondome dann korrekt anwenden, das heißt, würden sie ihre
100 Partnerinnen wie zivilisierte Affen niederrüsseln, auch zu einem Gleitmittel
greifen, bevor es zu quietschen anfängt, und würden sie die Gummis beim Herausziehen
ihrer 100 Girigari aus den 100 Mizzi festhalten, so dass die Übermänner nicht
abgleiten, dann und nur dann würden von diesen 100 Frauen innerhalb eines entspannt
– Hey! – durchflipperten Jahres lediglich drei bis vier schwanger –
Pearl-Index 3 bis 4. Bei zusätzlicher Verwendung – Mad Prof! – eines
spermiziden Schaumovulums sinkt der Pearl-Index auf 1. – Take this!
– Das entspricht der Versagerquote der Antibabypille – Bang!!!
In der Weite des Krümelterrains flammte das Kampfgeschehen auf. Schwere Bombardements
hatten eingesetzt. Qualmschwaden stiegen aus Bergen mausetoter Krümel auf. Hermann
schlug die Stirn in Falten. Der Kampfgeist und die Ausdauer der Krümel waren
beachtlich. Wenn er nur hätte herausfinden können, was der Zweck des Gemetzels
war.
Der Mob hatte bald begriffen, dass in den Überresten der Latrine nichts zu holen war, und machte sich über das Lazarett her. Man platzte in eine schwierige Operation herein, vergewaltigte eine OP-Schwester und narkotisierte den Anästhesisten ins Jenseits. Dann begleitete die Horde den Oberarzt bei seiner Visite. Der Medizin-Krümel erläuterte geduldig die verschiedenen Behandlungsmethoden und lud die vandalierende Bande im Anschluss daran auf sein Chefzimmer ein, wo er Limonade und Kekse servierte.
Auf der Kaffeeterrasse war der Tanz unterdessen abgebrochen worden, worüber man sich lautstark entrüstete. Es solle um Himmels Willen weitergetanzt werden, schrie man, doch vor Aufregung wagte keiner mehr, jemanden aufzufordern. Als sich die Lage etwas entspannt hatte, folgte eine schier endlose Debatte, in der man sich gegenseitig für das Debakel verantwortlich machte. Das Palaver mündete in eine überraschend disziplinierte Abstimmung. Man einigte sich auf ein Duell der Poliere.
Die unruhigen Gäste des Oberarztes hatten mittlerweile dessen privaten Vorrat an medizinischem Alkohol vertilgt. Man beschloss die vergewaltigte OP-Schwester aufzusuchen, um sich für die rüde Vorgehensweise zu entschuldigen. Bald hüpften die sichelförmigen Krümel johlend durch die Flure des Lazaretts. Fortwährend krachten sie gegen die Krankenbetten und stürzten. Der gleichsam angeheiterte Oberarzt hüpfte kichernd hinterdrein.
Die Poliere kamen indes nicht über die Vorbereitungen zu ihrem Zweikampf hinaus, denn plötzlich stürzte von der Seite eine Restgruppe schwarzer Krümel herbei, die bis zuletzt in leidlicher Sternformation im Kreis gehüpft war. Sie unterstand dem Kommando eines jener von Hermann eingesetzten Stabsfeldwebel: Inzwischen hatte er sich zum Drei-Sterne-General empordekorieren lassen. Dieser Krümel war so fett, dass er von vier Genossen getragen werden musste. Man hetzte die durchgeschwitzter Tänzer in Richtung auf den Rand des Versuchsgeländes. Dabei umrundete eine schwarze Unterabteilung das Feld, und, als Hermann fürchtete, gleich würden alle auf den Teppich hinabstürzen, man feuerte in die Luft (einige wohl auch in die Menge), Kommandos wurden gebrüllt, und der verstörte Pulk wurde zur demolierten Kaffeeterrasse zurückgetrieben. Dort durchkämmte man die Menge und etliche derer, die zuvor aus dem Stern desertiert waren, wurden abgeführt. Am Rand des Tischs nahm man standrechtliche Erschießungen vor. Eigentümlicherweise wurde dabei auch der feiste General mitsamt seiner Träger liquidiert. Die Leichen schubste man auf den Teppich hinab. Es waren ziemlich viele. Hermann verstand nicht.
Eine Art quadratisches Feld, das sich Hermann als umzäunt und an den Ecken mit jeweils einer Leuchtboje markiert vorstellte, wurde eingerichtet. Hier harrten die vormals so lebenslustigen Krümel apathisch ihrem Schicksal. Schwarze Krümel streiften in Vierergruppen zwischen den Häftlingen umher und suchten Krümel aus, die abgeführt wurden. Diese Krümel bluffen, durchschoss es Hermann (- freilich blufften sie gut). Ja, man spielte ihm Komödie vor, um ihn davon abzuhalten, die wahren Zusammenhänge zu erkennen. Jeder hatte Dreck am Stecken und fürchtete entlarvt zu werden. Der Tisch war von Saboteuren, Konspirateuren, Agenten und Hintermännern übervoll. Ja, es musste eine geheime Übereinkunft geben. Im Verborgenen wartete man auf ein geheimes Erkennungszeichen, das im entscheidenden Augenblick Einigkeit gegenüber dem einzigen wahren Feind schaffen würde. Und dieser Feind war er: Hermann! Die verdeckten Ermittler, die informellen Mitarbeiter, die Überwachungsspezialisten, die Strohmänner, die Sicherheitstechniker der Abschirmdienste und Schutzleute in Zivil, die Bäckerinnen und Bäcker, Schuster, Reisbauern, Hooligans, Cellistinnen und Soldaten – sie alle wollten ihm an den Kragen. Was die Krümel auch taten, sie taten es mit dem Ziel, ihn, Hermann, kalt zu stellen. Längst hätten sie ihn auf dunklen Höfen niedergeschlagen, durch Nachtzielgeräte ins Visier genommen, mit schallgedämpften Präzisionswaffen niedergestreckt und hinter Mülltonnen verblutend zurückgelassen, wenn sich ihnen dazu nur Gelegenheit geboten hätte. Es gruselte. Diese Krümel waren intelligenter und boshafter als Hermann hatte glauben wollen, und – was schlimmer war – sie waren intelligenter und boshafter, als sie selbst es erahnten. Diese Krümel hatten nichts Gutes im Sinn. Ja, das war das eigentliche Problem mit ihnen: richtig mies waren sie!
Und dumm waren sie obendrein, fand Hermann. Dumm, wie Werbefilme, die man sich belustigt, aber mit Interesse anschaut, da sie einem die selbst beweihräuchernde Erkenntnis erlauben, dass gewisse, dümmere Leute diese Werbefilme ebenfalls interessiert, aber bierernst anschauen. Hermann schmunzelte. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn er es hätte bleiben lassen. Dennoch: Gute Unterhaltung kam für ihn vor Sicherheit auf physische und seelische Unversehrtheit. Also krümelte er weiter.
Es war einmal ein Fötus namens Siegfried. Siegfried war nicht ins Einwohnerregister
eingetragen oder getauft oder was sonst eine Namengebung amtlich macht. Seine
Mutter machte sich lediglich Gedanken, wie er wohl heißen könnte: „Siegfried“,
„Achill“?
Kinder mögen Spielzeug und Bananen, Jungs fahren Mofa, Mädels sammeln Lippenstifte, allein stehende Vierzigjährige leisten sich Stereo-Farbglotzen. Siegfried begeisterte sich für Artikel 2, Absatz 2, Satz 1 des Grundgesetzes: „Jeder hat ein Recht auf Leben …“. Außerdem war er Fan des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 25.2.1975 zum Fünften Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18.6.1974 wonach „Jeder“ auch das noch ungeborene menschliche Wesen sei, denn „Leben“ bestünde nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tag nach der Empfängnis, obendrein sei der Entwicklungsprozess ein kontinuierlicher Vorgang ohne scharfe Einschnitte, der nicht mit der Geburt beendet sei, weshalb der Schutz im Sinne des Grundgesetzes weder auf den postnatalen Menschen noch auf den selbstständig lebensfähigen Fötus beschränkt werden könne. Siegfried fand den Gesetzestext samt Verfassungsgerichtsurteil unheimlich knorke. Das geht vielen Menschen so (alles Menschen übrigens, deren schützens- und erhaltenswerte Leben unantastbar sind). Von seinem Naturell her allerdings ein Skeptiker, bekannte sich Siegfried dennoch vorsorglich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Er gedachte nach seiner Geburt das Abitur zu machen und danach Jura zu studieren. Sein Berufswunsch war Bundesverfassungsrichter.
Als Hermann mit der Spitze der Nadel auf den erschossenen General einquetschte,
der zu gewichtig gewesen war, um auf den Teppich hinabgestoßen zu werden, zerfiel
der Korkbrocken in zwei Teile. Sofort fingen die Bruchstücke an, sich zu raufen.
Hermann versuchte dazwischenzufahren, doch vergeblich. Immer wieder stürzten
sie aufeinander los.
Ob ihm die Krümel eine Schlacht vorspielten, die real existiert hatte? War es die Schlacht von Austerlitz, die Hermann von der detaillierten Beschreibung auf einem Zettel her kannte, der geheimnisvollerweise einem Kaugummipäckchen beigefügt gewesen war, das er einst aus einem pissgelben Automaten gezogen und mitsamt des beigefügten Schlachtplans ein Dreivierteljahr bei sich getragen hatte, bevor er das Kaugummi schließlich mitsamt dem Schlachtplan gekaut hatte? Oder war es die Schlacht von Wuppertal, von der Hermann nicht einmal wusste, ob sie je getobt hatte? Vielleicht war es auch die Schlacht am kalten Büfett, in die er sich an einem Sommerabend vor langer langer Zeit in einen vorübergehenden Anfall seelischer Schwäche hineingeträumt hatte und die seither die Unfallambulanzen der umliegenden Krankenhäuser zum Überlaufen brachte? Diese Krümel waren Stellvertreter für Zinnsoldaten. Sie ersetzten Bleistiftkreuze auf dem Messtischblatt, in die Strategen bunte Fähnchen gepiekst hatten. Waren sie nicht Substituten für fingerlange Hölzchen, die auf einer Seekarte umhergeschoben wurden? Und diese wiederum: Standen sie nicht für die Infanteristen Montfarin, Müller und McMiller oder für ein ausgebranntes, aber dennoch strategisch bedeutsames Bordell irgendwo in Südwales? Dieses klitzekleine Krümelchen, dieses dort – es war so klein, dass Hermann sich nicht sicher war, ob es überhaupt erkennen konnte –, dieses Krümelchen hatte sich in einer mikroskopischen Unebenheit der Glasfläche festgesetzt. War es nicht ein Kaninchen, das sich am Rande einer von Panzerketten zerwühlten Lichtung in seinen Bau eingegraben hat, oder ein junger Delfin, der benommen von der fernen Explosion einer Wasserbombe auf der Oberfläche der blanken See trieb?
Nein, nie waren aus den Bunkern der Generalität, nie von den Offiziershügeln herab so wirre Orders erteilt worden, dass das Tun der Krümel eine Miniaturausgabe eines wirklichen Geschehens sein konnte. Kein noch so zerrüttetes Frontschwein hätte je so widersinnig gehandelt, wie es alle Krümel taten, auf die Hermann seinen Blick auch nur für einen Augenblick heftete. Nicht die verschwenderischste Inszenierung des Ring der Nibelungen kam diesem Unsinn nahe. Nie hätte die globale Schar der Zuckerbäcker, nie hätten die Requisiteure der Theater dieser Welt so viele Sahnetorten oder Sahnetorte-Imitate herstellen beziehungsweise zusammentragen können, dass die Lächerlichkeit der damit erzielbaren Jahrhundert-Tortenschlacht an das hätte heranreichen können, was ihm von den Krümeln geboten wurde. „Why?“ durchfuhr es Hermann (- aba nu’ is’ echt bald Schluss, ey!) und er zeigte mit dem Finger auf den Tisch. Hermann standen zu diesem Zweck derer fünf zur Auswahl, mit der Linken krümelte er ja.
Wie angekündigt endet also sein Versuch, die Krümel geistig zu durchdringen, damit, dass sie ihm vollständig über werden. Er hatte nichts gelernt, nichts verlernt, nichts verloren, nichts hinzugewonnen und nichts verstanden. Nichts Unerwartetes war oder würde geschehen. Doch – wie sollte es anders sein – Hermann krümelte natürlich weiter.
Und weil wir gerade beim Thema sind, hier noch eben ein Vorschlag zur Modifikation
des StGB:
§211. Zeugung
(1) Der Zeuger wird mit dem Tod bestraft.
(2) Zeuger ist, wer aus Zeugungslust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken einen Menschen zeugt.
Und weil es abschließend nicht fehlen sollte (der geschätzte Leser, dem es schwer
fällt, einen urschriftlich in blödhammelnder Inversionstechnik verfassten Text
nachzuvollziehen, findet auf Seite 348 die Transkription ins Beamtendeutsch):
Was (erfreulicherweise nicht) geschah.
„Das kann kein gewöhnliches Torpedo sein“, fühlte Peinlich, als sie ignorierte,
dass wenige Krümel zu keinem Rastschwimmgeist hinabblickten, der am Rand des
Niemandslands aufgewassert worden war. Das Unding ließ keinen steilen Pfeil
unter dem kürzeren Ganzen des unbesiedelten Gestädts bleiben und streichelte
keinen vollen Fuß von Peinlichs Kopfafter angebracht in die Mitte des Stuhls.
Es blieb kein Furz aus, der keine Universalblume verschwinden ließ. Sie kann
ohne Präludium und Unlink so genannt werden, denn sie hatte exakt die Winzigkeit
keines abnormalen Knollenblätterpilzes. Peinlich riss die Augen auf. Der dunkle
Schatten hatte ihm die Sehkraft wiedergegeben. Wohin sie auch horchte, nirgends
erloschen lilafarben die Flächen der Implosion. Das muss kein Auszeichen für
keine reparable Unversehrtheit der Angelinnerei sein, hineingeschwiegen vom
indirekten Lauschen in keine fernsehpassive Strahlenmündung, unterstellte sie
und sprühlackierte sich unter die Ohren. Keine schwache Jam Session! Der angenehme
Unsinnesauszug wurde immerhin viel stärker. Diese karoheiliggesprochenen Krümel!
Der Stuhl hatte keinen Schritt. Sie armte von der Torpedoausstreichelgegend
um das Sperma herum bis zum Rand des Stuhls, wo sie unter dem Kohleteller anfing.
Was würde Mona hierauf schweigen? Plötzlich kristallisierte die lilarote Rüstung
hinter Peinlichs Ohren aus. Zuvor wurde fern der letzten Fehlzündung kein erster
Universalvertrocknenlassbauch aufgefangen. Ein anderes Mal hatte Peinlich indirekt
weggehört. „Das geht übel seltener nach“, entschob es ihr. Sie stellte Monas
Mondkloschüssel ab. Wenn sie an keiner Mondkloschüssel vorbeihorchte, hatte
sie nie den Gedanken, es sei Winter. „Winter, das ist grauenhaft“, sagte sie.
Was (leider doch) geschah.
„Das muss eine ungewöhnliche Rakete sein“, dachte Hermann, als er bemerkte,
dass etliche Krümel zu einem Marschflugkörper aufblickten, der in der Mitte
des Claims abgefeuert worden war. Der Gegenstand machte einen flachen Bogen
über den längeren Teil des besiedelten Geländes und schlug einen halben Meter
von Hermanns Bauchnabel entfernt in den Rand des Tischs. Es ereignete sich eine
Nuklearexplosion, die einen Atompilz hervorbrachte. Er kann mit Fug und Recht
so genannt werden, denn er hatte etwa die Größe eines normalen Champignons.
Hermann blinzelte. Das helle Licht hatte ihn geblendet. Wohin er auch blickte,
überall leuchteten gelbfarben die Konturen der Explosion. Das könnte ein Anzeichen
für einen irreparablen Schaden der Netzhaut sein, hervorgerufen vom direkten
Blick in eine radioaktive Strahlenquelle, überlegte er und strich sich über
die Augen. Der unangenehme Sinneseindruck wurde nur wenig schwächer. Diese kreuzverfluchten
Krümel! Der Tisch hatte einen Sprung. Er reichte vom Raketeneinschlagsort durch
den Speichel bis zur Mitte des Tischs, wo er unter dem Aschenbecher endete.
Was würde Mona dazu sagen? Allmählich löste sich der gelbgrüne Schleier vor
Hermanns Augen auf. Dann wurde unweit der ersten Zündung ein zweiter Atomsprengkopf
abgeworfen. Diesmal hatte Hermann nicht direkt hingesehen. „Das kommt wohl öfter
vor“, entfuhr es ihm, und er setzte Monas Sonnenbrille auf. Wenn er durch eine
Sonnenbrille blickte, hatte er immer das Gefühl, es sei Sommer. „Sommer, das
ist wunderbar“, dachte er.
Nun höret denn ihr Leut‘ die Kunde, darauf das vierfache Fußkleid ruhete, und
lasset uns also lesen, welch Zeitung das dem Schuhwerk unterliegende Käs‘blatt
verbreitete:
2515.
Innen
Großaufnahme der Zeitungsseite
Rätselhafter
Tierfund
in der
Niederlausitz
Grauberg/Kreis Spremberg. dpa. Zwei
Jungen haben am Freitagabend auf einem Feld 5 km westlich von Grauberg in Brandenburg
einundzwanzig tote Neunbindengürteltiere entdeckt. Die Fundstelle wurde daraufhin
von der Polizei weiträumig abgesperrt. Aus Berlin und Dresden zog man Spurensicherungsexperten,
Veterinäre und Zoologen hinzu. Die Untersuchung der Tierkörper sowie die Auswertung
von Wühlspuren und einer Vielzahl von Urinmarken und Kothaufen, die in der Umgebung
gefunden wurden, ergab mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass
die Tiere vor etwa zehn Tagen während eines heftigen Gewitters vom Blitz erschlagen
wurden. Offensichtlich gehörten sie zu einer annähernd einhundert Neunbindengürteltiere
zählenden Herde, deren Verbleib bislang nicht geklärt werden konnte.
Polizei, Wissenschaftler und Behörden stehen vor einem Rätsel: Frei lebende Neunbindengürteltiere kommen ausschließlich auf dem amerikanischen Kontinent vor. Es liegen weder Meldungen europäischer Zoos über entflohene Exemplare noch Erkenntnisse über eine private Zucht vor. Die Polizei nimmt an, dass die Tiere ausgesetzt wurden.
Die überlebenden Neunbindengürteltiere sind zunächst in nördliche Richtung weitergezogen. Es erwies sich jedoch als schwierig und zeitaufwändig, ihre Spur zu verfolgen. Neunbindengürteltiere können pro Tag bis zu 15 Kilometer zurücklegen. Ausgesandte Suchmannschaften und Hubschrauber der Brandenburger Polizei kehrten ohne Ergebnis zurück. Auch die Spremberger Kreisforstverwaltung konnte keine klärenden Hinweise geben. Eine Befragung der Einwohner von Grauberg verlief ebenfalls erfolglos.
Der Dresdener Biologe, Verhaltensforscher und wissenschaftliche Koordinator der Ermittlungen Prof. Dr. Blomschmidt äußerte sich gestern Nachmittag auf einer Pressekonferenz beunruhigt: Gesunde Neunbindengürteltiere stünden nie in größerer Zahl körpereng beieinander und zögen für gewöhnlich nicht im Herdenverband über Land. Die Untersuchung der Gehirne von zwölf der gefundenen Exemplare habe deutlich erkennen lassen, dass die Struktur des Zentralnervensystems in ungewöhnlicher Weise verändert sei. Aller Wahrscheinlichkeit nach stehe das artuntypische Verhalten der Tiere hiermit in direktem Zusammenhang. Bisher habe die Ursache für die Veränderungen nicht geklärt werden können, es müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass die Neunbindengürteltiere von einem bisher unbekannten Krankheitserreger befallen wurden. Eine Übertragbarkeit der Krankheit auf den Menschen sei laut Blomschmidt zwar höchst unwahrscheinlich, jedoch denkbar.
Umgehend eingeleitete Untersuchungen auf Tollwut und andere infrage kommende Infektionen verliefen negativ. Im Laufe des gestrigen Abends wurde die Fundstelle dann desinfiziert. Alle erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutze der Wissenschaftler und Polizeibeamten vor Ort sind ergriffen worden.
Während der Nacht transportierte ein Spezialhubschrauber der Bundesluftwaffe die in keimdichte Behälter verpackten Kadaver, zu denen drei Jungtiere und vier trächtige Weibchen zählen, in das Institut für Veterinärmedizin der Universität Dresden. Dort sind weitere Analysen geplant. Mit einem abschließenden epidemologischen Befund ist nicht vor Mittwoch zu rechnen.
Die Polizei bittet um sofortige Verständigung, falls Spuren der Tiere entdeckt werden. Jeder Hinweis könnte zur Klärung beitragen. Die Bevölkerung der Lausitz wurde über den Hörfunk wiederholt um erhöhte Aufmerksamkeit gebeten.
Es wird dringend davor gewarnt, sich den Tieren zu nähern. Obwohl sie in Bedrängnis normalerweise defensiv reagieren, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die krankhafte Veränderung ihres Verhaltens ungewöhnliche Angriffslust hervorruft.
Für Informationen, die zur Klärung des Verbleibs der Tiere beitragen, wurde eine Belohnung von 10.000 DM ausgelobt. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
2516.
Außen, Abend
Die letzte Sonnenglut versinkt im Meer (real-time). Davor die Silhouette
der Golden Gate Bridge. Am Himmel wenige orangerosafarbene Federwölkchen.
Musik: Bandschleife, Takte 14 bis 37 der ungarischen Rhapsodie, Franz Liszt,
abgespielt mit erhöhter Bandgeschwindigkeit. Wiedergabequalität eines einfachen
Kassettenrecorders.
Darüber läuft in gut leserlichen Lettern und angemessenem Tempo der Abspanntext:
Scheibchenweise Weibchenscheisse
- Und ihre Schnürstiefel? War das etwa diese Sorte mit endlos vielen Ösen und unheimlich langen Senkeln? Also was für Stiefel waren das denn eigentlich?
- Himmel noch eins, du kannst Fragen stellen! Es waren irgendwelche lang besenkelten Schnürstiefel. Im Stil der 1er, 10er, 20er, 30er, 40er, 50er, 60er, 70er, 80er oder 90er Jahre. Was eben gerade so in Mode war. Ist doch vollkommen Mortadella, wie die Dinger aussahen!
Die pastose Masse jedenfalls war an der linken Flanke des rechten Stiefels auf halber Höhe zwischen Schienbeinknöchel und Fußballen emporgequetscht worden. Das Weibchen selbst war unbesudelt. Dennoch fühlte sich das Männchen durch die Verunreinigung in seiner Zuneigung für das Weibchen bedämpft. Mithilfe seiner Vorstellungskraft jedoch gelang es ihm, den unreinen Schnürstiefel und das unbesudelte Weibchen voneinander zu trennen. Die Trennung erfolgte in:
1.) Den unreinen Schnürstiefel (starke Abneigung).
2.) Das unbesudelte, nunmehr jedoch einseitig barfüßige Weibchen (stärkere Zuneigung als für das beidseitig langsenkelschnürbestiefelte Weibchen).
Das Männchen hatte seine Halbschuhe neben die Schuhe des Weibchens gestellt. Der Abstand beider Paare zueinander war größer als der Abstand des linken und rechten Exemplars eines der Paare. Das vierfache Schusterwerk hätte auf dem Papier nicht genauer zueinander ausgerichtet gewesen sein können. Sein Winkel zu den Zeilen der Zeitungsschrift betrug exakt 90°. Bei einer gleichzeitigen lichtschnellen Vorwärtsbewegung entlang ihrer jeweiligen Mittelachse hätten sich die Fußkleider einander weder genähert noch hätten sie sich voneinander entfernt. Sie wären in unveränderter Formation durch den Raum geflitzt, und dabei wären sie in einem Affenzahn an so ziemlich allem vorbeigezischt, was man sich überhaupt nur vorstellen kann.
FIN
Das Neunbindengürteltier, Dasypus novemcinctus
Gürteltiere muten an wie prähistorische Reptilien. Dennoch gehören sie zu den
Säugetieren. Die Familienkleinste, die Gürtelmaus, wird nur 13 cm lang. Das
Riesengürteltier (bis 60 kg und 1,5 m) ist die größte lebende Art. Seine urzeitlichen
Vorfahren erreichten bis zu 20 Meter Länge. Die Gattung existiert bereits seit
60 Millionen Jahren. Im Laufe der Evolution blieb ihre Körpergestalt – ähnlich
wie bei Haien, Krokodilen, Pfeilschwanzkrebsen und Kellerasseln – weit gehend
unverändert. Gürteltiere werden wegen ihres schmackhaften Fleischs gejagt, sind
jedoch nicht vom Aussterben bedroht.
Das Neunbindengürteltier erreicht eine Länge von maximal 80 cm. Sein Name rührt von den 8 – 11, meist jedoch 9 „Gürteln“ aus verknöcherten Hornplatten, die dem Panzer Flexibilität verleihen. Auf der Unterseite ist das Tier weich behaart.
Neunbindengürteltiere sind Nachtjäger. Mit ihren langen Zungen fangen sie Insekten, Eidechsen, Frösche, Schlangen und Würmer. Auch Aas, Eier, Früchte, Blätter und Pflanzenschösslinge werden nicht verschmäht. Sie stöbern im Hausmüll nach Fressbarem. Ihre Nahrung finden die Neunbindengürteltiere vornehmlich mithilfe ihres hochentwickelten Geruchssinns. Auch Gehör und Sehkraft sind gut ausgebildet. Ihr Lebensraum sind Ufer, Graslandschaften und der Rand dichter Wälder. Bisher unbewiesenen Behauptungen zufolge laufen sie bei der Nahrungssuche auf dem Grund von Gewässern umher. Normalerweise leben Neunbindengürteltiere die meiste Zeit des Jahres einzelgängerisch. Lediglich zur Fortpflanzungszeit bilden sie vorübergehend Paare oder kleine Gruppen.
Tagsüber verkriecht sich das Neunbindengürteltier. Da es unter dem dicken Panzer temperaturempfindlich ist, meidet es direktes Sonnenlicht und Hitze. Bei kühlem Wetter streift es jedoch auch bei Tag außerhalb seines Baus umher. Längerer Frost lässt die Tiere erfrieren.
Ursprünglich hat sich die Art von Argentinien aus nordwärts bis hin nach Mexiko ausgebreitet. Ende des letzten Jahrhunderts traf man das Neunbindengürteltier auch im Süden der Vereinigten Staaten an. Aus biologischer Sicht stellt die rapide Vergrößerung des Verbreitungsgebiets einen ungewöhnlichen Vorgang dar. Noch sind sich die Forscher im Unklaren, weshalb es so zielstrebig nach Norden gewandert ist.
Wird das Tier erschreckt, so springt es in die Höhe. Diese arttypische Verhaltensweise führt immer wieder zu Unfällen bei denen Kühler und Scheinwerfer von Autos zerschmettert werden.
Die Gangart des Neunbindengürteltiers erinnert an die eines Igels. Nur selten wirken die Tiere verspielt oder schläfrig. Außerhalb des Baus durchwühlen sie das Erdreich immerfort nach Nahrung und grunzen. Die Männchen markieren ihre Reviere mit Urin.
Das Neunbindengürteltier lebt längere Zeit stationär. Bisweilen verändert es seinen Standort und legt mithilfe seiner kräftigen vierzehigen Grabklauen einen neuen Bau an. Dieser besteht aus einem mehrere Meter langen Gang von 15 – 20 Zentimeter Durchmesser, der in einem grasgepolsterten Kessel endet.
Bemerkenswerterweise vergehen zwischen Paarung und dem Beginn der Trächtigkeit des Weibchens bis zu fünf Monate, während derer sich die befruchtete Eizelle verspätet in die Gebärmutter einnisten kann. Nach gut vier Monaten Tragzeit werden die Jungen geboren. Würfe eineiiger Vierlinge sind für das Neunbindengürteltier kennzeichnend. Alle Jungtiere eines Wurfs haben das gleiche Geschlecht. Sie kommen blind zur Welt und werden von der Mutter mehrere Wochen lang gesäugt. Ihre Haut ist zunächst weich und erhärtet nur allmählich.
Hermann schob die Krümel auf dem Tisch zusammen. Er spritzte Feuerzeugbenzin
darüber und zündete den Haufen an. Es flammte auf, schmurgelte, wand sich und
verglimmte. Von dem ganzen Zinnober blieb nichts als ein Häuflein Asche übrig.
Ein Glück, dass das mit den Krümeln so glimpflich ausgegangen ist, dachte er.
Es hätte viel schlimmer kommen können.
Dort, wo Hermann an dem Korken gekratzt hatte, war eine schöne, gleichmäßig ausgeformte Mulde entstanden (eine schöne, gleichmäßig ausgeformte Mulde ist das Negativ zu einer schönen, gleichmäßig ausgeformten Aufwölbung). Einmal mehr befeuchtete Hermann seinen Zeigefinger mit Speichel, dann tauchte er ihn in die warme Asche. Sie war luftig wie Kreide. Auf dem Nass blieb eine schwarze Schicht kleben, die mit der Spucke eine glänzende Schmiere bildete. Das gefiel Hermann. Der Farbstoff schien mit dem identisch zu sein, den sich Abermillionen von Frauen in aller Welt auf die Augenlider schmieren, um Paarungsbereitschaft zu signalisieren. Hermann dachte an seine eigene Paarungsbereitschaft. Dann fuhr er mit dem geschwärzten Finger in die Mulde des Korkens. Sie war wie geschaffen dafür. Er rieb eine Weile darin herum, und als Hermann seinen Finger herauszog, war die Aushöhlung angeschwärzt. Der Aschefarbstoff indes hatte sich gleichmäßig über seine Fingerkuppe verschmiert. Sie schimmerte wie die polierte, ölige Schale einer ziemlich uralten Südfrucht.
Hermann besabberte seinen Finger aufs Neue. Die Asche schmeckte widerlich.
„Möge sich der Herr ihrer verlorenen Seelen annehmen“, donnerte derweil ein Muezzin von einem der Minarette, die den Tempel der Rüstungsindustrie umsäumen – oder war’s der Glöckner von Notre Dame, der von der Kanzel von St. Pauls herab der Menge der barfüßigen Gläubiger Trost zubrüllte?
Wieder und wieder verschmierte Hermann die Asche in der Aushöhlung. Sein Finger sah aus, als sei er aus Grafit. Allmählich verfärbte sich auch seine Zunge. Die Mulde im Korken war tiefschwarz. Nachdem er eine Weile lang hineingeschaut hatte, kam Hermann zu dem Schluss, dass kein Zweifel besteht: Er hatte das Negativ einer einzelnen, überaus prallen Arschbacke vor sich. Das brachte ihn auf eine Idee.
Idee die; –, Ideen [z. T. unter Einfluss von frz. idée lat.
idea griech. idéa, urspr. = Erscheinung, Gestalt, Form; bei Platon = Urbild;
zu griech. idein = sehen, erkennen]: 1. (Philos.) a) (in
der Philosophie Platos) den Erscheinungen zu Grunde liegender reiner Begriff
der Dinge: die I. des Guten; b) Vorstellung, Begriff von etw.
auf einer höheren Stufe der Abstraktion. 2. Leitbild, das jmnd.
in seinem Denken, Handeln bestimmt: philosophische, politische -n; für eine
I. eintreten, kämpfen; er bekannte sich zur europäischen I. 3. schöpferischer
Gedanke, Vorstellung guter Einfall: eine neue, glänzende, revolutionäre
I.; eine I. aufgreifen, entwickeln, in die Tat umsetzen, das ist eine [gute],
keine schlechte I.; ich habe eine I. (weiß, was wir tun können); (ironisch:)
du hast [vielleicht] -n!; er hat mich erst auf diese I. gebracht.
Hermann machte sich also auf einer höheren Stufe der Abstraktion einen reinen
Begriff eines Dings, soll heißen, ihn bestimmte in seinem Denken oder Handeln
ein Leitbild, das offenbar einer Erscheinung zu Grunde lag, genauer gesagt hatte
er einen schöpferischen Gedanken (ihm kam sozusagen ein Einfall). Er schnitzte
sich ein Weib.
Hermann schnitzte das Weib aus einer Presskohle, die er der Pappkiste zur Seite von Monas Kachelofen entnommen hatte. In dieser Kiste befanden sich auch schmale Scheite, die bestens zum Schnitzen langer, dünner, blonder und birkenblasser Weiber geeignet gewesen wären. Hermann hatte das eine oder andere dieser Hölzer in seinen ascheschmierigen Händen gewogen und versucht, sich vorzustellen, was sich daraus schnitzen ließe, doch nein: Er wollte keine kalkbleiche Blondine, durch die der Wind hindurchfährt. Er wollte ein breites, dralles, poröses und rabenschwarz finsteres Weib.
Noch als Hermann in der Pappkiste eine schmutzig weiße Plastiktüte mit ein paar Einwegfeuerzeugen und einer angebrochenen Packung zusammengeschrumpfter Kohlenanzünder fand, wusste er lediglich, dass er eine Idee hatte. Was es für eine Idee war, wusste er nicht.
Wir wissen hingegen um Hermanns Idee. Das ist unfair. Wir sollten uns deshalb doof stellen.
…, danke.
Indem der folgenden Überlegung vorausgeschickt wird, dass es sich bei Hermanns Idee um einen künstlerischen Impuls handelt, wird der geschätzte Leser ihm gegenüber erneut in eine superiore Position gehoben, was abermals unfair ist. Mit anderen Worten: Eine zweite Kugel pfeift so knapp am Bugspriet vorüber, dass sich ein ziemlich berühmter und verzweifelter Vortoppmann noch fester in die Takelage klammert. „Ein künstlerischer Impuls!“ durchfährt es ihn wie die erste Bö eines jäh die Wolkenfaust erhebenden Eisregengewitters eine Seilschaft aus halb erfrorenen Holländern mit Hang zur Alpinistenromantik, die, irgendwo auf halber Höhe zwischen Gipfelkreuz und den bereitstehenden Zinksärgen der Bergwacht, bereits erstaunlich lange den kollektiven Absturz hinauszögert.
„Lacht nur über Hermann! Einholen werdet ihr ihn doch nicht!“ höhnt es aus dem Tal.
Ein künstlerischer Impuls also. Warum auch nicht? Curios!
Wir wollen uns seine Entstehung an Hand eines Gedankenmodells verdeutlichen:
Hermann ist ein Punkt. Brav. Doch selbst Hermann wird erst zu einem sozial vollständig integrierten Punkt, wenn er zu einem Raum in Beziehung gesetzt wird (erfahrungsgemäß macht es am wenigsten Scherereien, wenn sich der Punkt dabei innerhalb des Raums befindet). Mit Hermann ist es besonders einfach. Er befindet sich per definitionem innerhalb des Raums, zu dem man ihn in Beziehung setzt. Die Gestalt des Raums bleibt düster, es sei denn Hermann (als Punkt) beleuchtet sie, indem er darin herumflitzt. Hermann selbst (als Punkt, als Romanfigur, als Atemluft verdrängender Haufen beseelten Bindegewebes) ist sterbenslangweilig. Das einzig Interessante an ihm ist sein Raum.
Zu sterben, das ist möglicherweise weniger appetitlich, als Sardellen in Amaretto, langweilig hingegen dürfte es kaum sein (jedenfalls nicht im Vergleich zu den übrigen Verfahrensweisen, die Zeit totzuschlagen). Tot zu sein, ja, das könnte abnerven. Zur Veranschaulichung muss der Gedankenstrom beim Besuch einer Diskothek herhalten. Wird man hineingelassen, denkt man „Heiwei, ist das aber schön bunt hier!“ und ist man dann drinnen, renkt man sich beim Gähnen bald den Kiefer aus.
Gleichsam aus Verlegenheit lässt sich Hermanns Raum als die Summe der Punkte fassen, an denen er auftauchen könnte, nachdem er dort, wo er eben noch war, verschwunden ist. Wichtig: Als Punkt, der ja bekanntlich keine Masse hat, unterliegt Hermann keiner physikalischen Trägheit. Das heißt, es bereitet ihm keine körperliche Anstrengung, seinen Aufenthaltsort zu wechseln (also anders als beispielsweise beim Jogging, beim Stabhochsprung oder bei der Emigration aus Gründen politischer Verfolgung).
Dummerweise aber unterliegt die Grenze eines Raums, der durch die möglichen Aufenthaltsorte eines sich darin bewegenden Punkts definiert ist, ebenso wenig der physikalischen Trägheit. Daher kann sich ein solcher Raum jederzeit in beliebiger Manier verformen. Es ist daher nicht notwendigerweise falsch, sich Hermanns Raum als das Mansardenzimmerchen einer Büsumer Pension vorzustellen, es ist allerdings auch nicht ausgesprochen richtig. Sein Raum konnte nämlich auch die Form eines Erdnussflips, eines LSD-Trips oder eines Kartoffelchips annehmen (oder die eines 22er Schließmuskels für einen 87er VW-Golf). Mal hockt Hermann in einer ringförmigen Röhre, mal mutiert seine Kerkergrenze – wie um ihn persönlich zu beleidigen – zur Gestalt einer Salami in Brotform, dann wieder scheint der ihn beengende Raum grenzenlos, und er kann in beliebiger Richtung siebenmeilenbestiefelt darin herumfegen, um schon im nächsten Moment eng an seinen eigenen (punktuellen) Grenzen anzuliegen, etwa wie eine Motorradkombi Größe 38.
Um auf die fette Weiberschnitzerei zurückzukommen: Ihre Ursache lag in Hermanns offensichtlichem Bedürfnis seinen Arsch von einem Punkt zum anderen zu bewegen: Zack! Und schon war er mit der Schnitzerei zugange.
Ein künstlerischer Impuls also. Warum auch nicht? Curios!
Noch als Hermann in der Pappkiste eine schmutzig weiße Plastiktüte mit ein paar Einwegfeuerzeugen und einer angebrochenen Packung zusammengeschrumpfter Kohlenanzünder fand, wusste er lediglich, dass er eine Idee hatte. Was es für eine Idee war, wusste er nicht.
Vielleicht gedachte er, aus den Kohlenanzündern ein paar grünliche Marsmenschen herauszupulen? Vielleicht gedachte er, dem schwarzen Weib, wenn es erst fertig gestellt sein würde, mit den verschrumpelten Kohlenanzündern Zunder unter dem enormen Hintern zu machen? Ja, Hermann schnitzte seinem Weib nämlich einen phänomenalen Jahrhundertarsch. Er schnitzte der Figur ein Hinterteil, das sich gewaschen hatte. Einen Podex, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte. Während er am Boden der Kiste in dem Gemisch aus Kohlenstaub, Streichhölzern, Holzsplittern und Kohlenanzünderkrümeln wühlte, während er noch verträumt zusah, wie sich allmählich seine Hände schwärzten, spürte er, dass ihm eine der Presskohlen als Material für die Umsetzung seiner Idee dienen würde. Das war die halbe Miete. Und als er dann schließlich die olle Tüte fand, passierte es. Er wusste weiterhin nicht, was für eine Idee es war, die er hatte. Das sollte sich auch nicht mehr ändern. Vermutlich sollte es sich nicht mehr ändern (bei Hermann kann man nie ganz sicher sein). Vielleicht war er ja so gewieft, den erlösenden Moment der Erkenntnis, gewonnen aus der Beobachtung und Analyse der eigenen Schaffensabsicht, vor sich herzuschieben? Vielleicht spekulierte er darauf, dass er, je später der düstere Himmel der kreativen Bewusstlosigkeit über ihm aufreiße, um so wilder, wütender und ausschweifender würde drauflosschnitzen können? Hermann ist das zuzutrauen. Aber genug der billigen Versuche, ihn zu verklären.
Nicht als er sich längst für eines der Briketts entschieden hatte und mit Monas Gemüsemesser in schwarzer Materie fuhrwerkend vor einem Haufen Kohlenstaub am Tisch saß, nein, nicht als er das halbfertige Weib in den Händen drehte und es (im Scherz) an den Füßen kitzelte, und auch nicht als er die vollendete Figur vorsichtig in einen Bogen Butterbrotpapier wickelte und in seine Jackentasche gleiten ließ, schaute Hermanns Geist, was er tat oder getan hatte: nicht während er einen der diversen Triumphbögen durchschritt, welche die schnurgerade Achse überspannten, über die seine Zeit abrollte, einen jener Triumphbögen aus der unendlichen Zahl hauchdünner Triumphbögen, unter denen er – Hermann – infolge § 14, Absatz 2a der „Bestimmungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung bei Umzügen innerhalb der Raumzeit“ im Gleichschritt mit allen anderen kontemporären Klopsköpfen hindurchzumarschieren hatte, basta!
OK. Das Weib geriet wunderbar. Keiner hätte ein besseres schnitzen können. Es hatte exorbitante Möpse. Freilich hatte Hermann den Vorbau nicht beliebig groß machen können – die Presskohle war in ihren Ausdehnungen begrenzt gewesen. Das könnte man Hermann ankreiden. Er hätte versuchen sollen, irgendwo eine größere Presskohle aufzutreiben. Klar! Das könnte man Hermann vorwerfen. Allerdings muss man ihm zu Gute halten, dass er für die Länge des Weibs nicht mehr als zwei Drittel der Gesamtlänge des Briketts angesetzt hatte. Dadurch geriet die Figur insgesamt zwar kleiner, die Mamumbas aber wirkten größer. Ebenso die Hinterbacken. Weniger war hier mehr. Das ist oft so. Das Weib hatte ein enormes Fahrwerk. Hermann hatte die Lollo und den Popo etwas über die Grenzen der Kohle hinausgehen lassen. Aus diesem Grund gab es an den Seiten der Hüften und in der Gegend um die Spitzen der Obermänner abgeplattete Flächen, die bei einem unvoreingenommenen Betrachter den Eindruck hätten hinterlassen können, das Weib sei zu lange in einem engen Kästchen aufbewahrt worden. Hermann jedoch fand nicht, dass der Figur etwas fehlte, also fehlte der Figur auch nichts (folglich war sie perfekt). Das Gesicht war weniger gut gelungen, doch das störte Hermann nicht. Es störte niemanden. Hermann hatte versucht, das Gesicht auszuarbeiten, als der Rest noch ein Presskohlekubus war. Er hatte an dem Gesicht gemurkst, während er an das dralle Chassis und die glockengroßen Gesäuge dachte. Das hatte nichts werden können. Der Teil der Kohle, aus dem er die Nase hatte herausformen wollte, war beim Schnitzen abgebrochen. Es geschah, als Hermann daran dachte, wie ihm wohl die Brustwarzen gelingen würden. Dabei waren sie überhaupt nicht wichtig. Später, als Hermann die Wuppertaler aus der Kohle freilegte – er kratzte während dieses Teils der Arbeit wie wild und war zeitweise in der schwarzen Staubwolke nur noch schemenhaft zu erkennen -, wurde ihm klar, dass eine Ausformung der Knospen unnötig war. Sie lagen außerhalb des physisch Ertastbaren. Erst, indem er die Rundungen der Quarktaschen im Metaphysischen fortsetzte und sie durch die abschließende Imagination der Papillen vollendete, wurden die Brüste in ihrer Gesamtheit für Hermann ästhetisch fassbar, gelang es ihm, die Bazookas zu begreifen, konnte er an den Titten herumfummeln, sie begrapschen und durch-kne-ten! Er brauchte nicht auf die Nippel zu verzichten. Sie zwinkerten ihm zu. Da! Er hätte rein beißen können.
Das Geschlecht geriet so wunderbar, dass Hermann kaum aufhören konnte, daran zu schleifen und zu polieren. Zunächst hatte er den Mons veneris als eine feiste Beule angelegt, den er dann vorsichtig auf ein (nahezu) realistisches Maß herunterschabte. Schließlich hatte Hermann mit dem Messerrücken die Interlabialspalte angedeutet, was ihm außergewöhnlich gut gelang. Die Arme des Weibs waren etwas kurz geraten. Sie lagen vor dem Bauch, gleich unter dem Milchladen. Es hielt die Knie leicht angewinkelt, die Beine geschlossen. Das Weib hatte kurze Beine. Seine Haltung war die einer Matrone, die mit den Füßen zuerst in einen halb gefüllten Swimming-Pool springt. Blödsinn! Es war eindeutig die Haltung einer kleinen schwarzen Figur, die durch Zeit und Raum gleitet.
Hermann jedenfalls sah aus wie eine Reklamefigur für das Ruhrgebiet oder den oberen Kongo. Seine vollkommen geschwärzten Hände hielten die kleine Frau und rieben ihren Körper. Er hielt sie über sich, vor sich, nah und fern, er sah sie von unten an, er sah sie von oben an, von den Seiten, von hinten und nicht zu vergessen auch von vorn, denn wenn Hermann etwas tat, dann tat er es gründlich. Das Weib war fertig. Hermann hingegen hatte gerade angefangen. Er war ziemlich schwarz im Gesicht, aber er war nicht fertig. Das Weib war fertig. Hermann hatte gerade erst angefangen. Im Grunde hatte er noch nicht mal angefangen. Nicht im Grunde.
Annie hatte allmählich die Nase voll, neben ihrer Schwester auf der Bank abzuhängen.
So ein Bockmist!
Man hätte die Uhr nach ihnen stellen können. Immer wenn ihre Schicht gerade zur Hälfte rum war, kamen sie. Seit einer Woche. Sie pflanzten sich an Tisch vier, im Vorübergehen grüßten sie. Einer nach dem anderen: „Good afternoon, Miss!“ Alle drei. Belgier oder sonst was. Sie würden kichern, sich dumm aufführen und die Buchweizenfladen mit Erbsmus, einen Tofukrautwickel und die Sesam-Currygemüsepfanne bestellen. Wie immer. Und wenn Annie dann servierte, würde sie entscheiden müssen, welchem Arschloch sie welchen Teller vorsetzt. Jedes Mal. Was für Arschlöcher! Sie brachte die Speisekarten.
Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal auf einer Bank abgehangen? In ihrer Ecke in den Gardens, da hatten sie rumgelungert. Aber da hatte es keine Bänke gegeben. Inzwischen vielleicht. Kaum hielten die Stadtväter Geld in den Händen, schossen sie nur so aus dem Boden, diese Bänke. Nein, oben auf der Mauer hatte sie gesessen, oder auf Tod’s Pixie, wenn Kathlin es ausnahmsweise zuließ. Im Sommer auf dem Rasen. Annie hatte aber die Bank eines Ruderboots gemeint. Die Bank eines Ruderboots. So ein Bockmist!
Und neben ihr hockte also ihre Schwester. Und ein stotternder, pädophiler Mathematikdozent kämpfte sich womöglich mit den Skulls ab! Nein, Annie hatte keine Schwester. Lieber keine ältere, die sich ständig an einem austobt. Annie hätte gern eine Schwester gehabt. Hatte sie aber nicht. Und sie war auch kein kleines viktorianisches Mädchen. War sie nie gewesen! Sie war verdammte zweiundzwanzig und in ihren Adern flossen tartan und tam-o’-shan-ters. So ein Bockmist! Allmählich hatte Annie die Nase voll, neben ihrer Schwester auf der Bank abzuhängen.
Die Arschlöcher kicherten, führten sich dumm auf und bestellten einmal die Buchweizenfladen mit Erbsmus, einen Tofukrautwickel und die Sesam-Currygemüsepfanne. Annie gab die Bestellung an die Küche weiter.
Wollte nicht morgen Paul vorbeikommen, mit diesem Kerl wegen des bescheuerten Vertrags? „Ein Glas jeder, das geht in Ordnung, aber gleich zwei Flaschen? Weißt du, Annie, unser Wein ist nicht nur besser, als der gepanschte aus dem Supermarkt, er ist auch teurer. Ich muss dir das abziehen, so Leid es mir tut.“ Dieser gallenkranke Fettsack! Wer weiß, was Paul morgen wieder für eine Flitzpiepe anschleppt?
Ein-, zweimal hatte Annie in das Buch hinabgeschaut, das ihre Schwester las, aber es waren keine Bilder oder Dialoge drin, und was bringt ein Buch, wenn keine Bilder oder Dialoge drin sind? Nix Schwester. Annie war ein Einzelkind. Vor einer Woche, als es noch nicht ganz so unerträglich heiß war: Da war sie doch mit Steve auf der Serpentine herumgerudert. Aber klar doch! Da hatte sie auf einer Bootsbank abgehangen. Na ja, den Anlegesteg wiederzufinden, hatte doch einige Schwierigkeiten bereitet. Aber was für ein Buch denn nur? Das einzige Schriftwerk weit und breit war die Speisekarte. Faktisch unbebildert und ohne Dialoge abgefasst. Zum Angucken war schließlich die Kellnerin da. Man durfte sie grüßen und sich von ihr aussuchen lassen, welche Mahlzeit einem vorgesetzt wird. Nein, Annie hatte ein richtiges Buch gemeint: außen speckig, nicht zu dick. Ein aufgeschlagenes Buch, das auf den Knien ihrer Schwester lag. Nix Schwester. Keine Speisekarte. Annie hatte massenweise Bücher gelesen, in denen keine Bilder waren. Während Opa seinen Wurm in der Spey badete und ab und zu feierlich aus seinem Flachmann zog, hatte Enkeltöchterchen im trockenen Moos gelegen und gelesen. „Was ist nicht Drostans Stück Land ein schönes Stück Land“, hatte der alter Stinker geseufzt. Ja, Bücher. Ohne Bilder. Möglicherweise waren darunter sogar einige ohne Dialoge gewesen. Nein, allmählich hatte Annie die Nase voll, neben ihrer Schwester auf der Bank abzuhängen.
Aus den Kleidungsstücken, die an den Garderobenhaken hingen, war erst vor Kurzem wieder geklaut worden. Annie stellte ihre Handtasche neuerdings in die Besenkammer. Sie kramte eine Silk Cut hervor und durchquerte den Gastraum. Als sie an Tisch vier vorüberlief, starrten die Arschlöcher sie an. Einer grinste sogar. Vorm Eingang des „Pippins“ lehnte sie sich gegen die Hauswand und rauchte. Na, hungrig waren die jedenfalls nicht.
Mit der Orgel aus dem Astoria, da waren es auch die Jungs. Wo wohl die Flasche mit dem Einreibemittel hin ist, die beim Abbau gefunden wurde? Cutbush hätte sich damals stärker dafür einsetzen können, dass das Instrument nach Albyn Place kommt. Da hätte wenigstens ab und zu mal jemand drauf gespielt. Aber nein, die dämliche Powis Academy musste es sein: Dabei hatten die nichts als Fußball im Schädel. Schräg über dem Pult das „Compton“ in Metall-Lettern – wie ein Raumschiff hatte die Orgel ausgesehen. Auf die Bühne ins „Place“ hätte sie gehört, genau! Aber das war ja damals schon dicht. Möglichkeiten hatte es jedenfalls in Hülle und Fülle gegeben: das Playhouse, das Gaumont, das Majestic. Das hätten alles erstklassige Konzertsäle werden können. Stattdessen Bingo. Na „Bon accord!“ auch.
„Die Sechzehntel flüssiger, die H-Klappe früher und dann bewusst anstoßen. Fantastique eben!“ spukte es Annie im hübschen Köpfchen umher, oder auch: „Meinetwegen soll doch die Wunderwaffe in den königlich akademischen Orchesterprobesaal einschlagen!“ (sie war vom warmen Wetter etwas benommen), als plötzlich dicht neben ihr ein weißes Kaninchen mit rosa Augen vorbeilief.
Daran war an sich nichts Besonderes. Auch wunderte sich Annie kaum, als sie hörte, wie der Mümmelmann mit sich selbst sprach: „Ach du meine Scheiße! Ich glaube, ich kommen zu spät!“ (sie dachte dann noch, dass sie das eigentlich hätte stutzig machen müssen. Zunächst aber fand sie es ganz natürlich). Als das Tier dann allerdings eine dieser neumodischen Digitaluhren aus einer Tasche seines Parkas zog, einen Moment auf die Leuchtziffern starrte und gleich darauf weiterhastete, durchfuhr es Annie, dass sie noch nie ein Kaninchen in einem Parka gesehen hatte, geschweige denn eines mit Chronometer, und sie rannte hinter dem merkwürdigen Geschöpf her, immer die Hampstead High Street runter, um gerade noch mit anzusehen, wie es in einen offenen Gullydeckel vor einem parkenden Cortina plumpste.
Warum sollte sich bitte ein Gürteltier in die Kanalisation stürzen, lachte Annie und schnippte die Kippe vor sich auf die Fahrbahn? So ein Bockmist! Außerdem hatte auf der High Street noch nie ein Gullydeckel offen gestanden. – Ein Gürteltier? – War es nicht eben noch ein weißes Kaninchen gewesen? So ein Bockmist! Die Affenhitze war schier unerträglich. Annie öffnete den Ausschnitt ihrer Bluse um einen Knopf. Diese Gullys waren sowieso viel zu eng. Da hätte sie mit ihrem dicken Hintern eh nicht mehr durchgepasst.
Also verabreichte sie dem Grinsekater die Buchweizenfladen mit Erbsmus und den anderen zwei Arschlöchern einen Tofukrautwickel und die Sesam-Currygemüsepfanne.
Kontakt:
BMG Records (UK) Ltd.
Bedford House 69 –79
Fulham High Street
London SW6 3JW
Great Britain
PO Box 245, London N8, England
(Schön’ Gruß von Jan auch)
Hermann war noch nicht lange unterwegs, wobei es unwichtig ist, ob er Feuer
gelegt hatte, bevor er sich auf die Socken machte. Vielleicht hatte er sich
eines benzingetränkten Schuhputzlappens bedient, den er wohlweislich in Brand
setzte, bevor er ihn hinter sich warf. Derlei ist denkbar, doch ob es tatsächlich
geschah, spielt keine Rolle, denn Hermann würde im Rahmen von „Hermann, Roman“
nicht an den Ort seines Aufbruchs zurückkehren. Nein, es spielt keine Rolle,
ob er sein zundelfriederisches Werk vollbrachte oder nicht.
Relativ gesehen war Hermann also noch nicht lange unterwegs – man könnte sich beispielsweise vorstellen, dass er im Begriff war, das Treppenhaus zu durchmessen (eine Gegend, in der es von Geistern nur so wimmelt) –, als er auf ein gutes Dutzend dunkelhäutiger Männer stieß, die um die Köpfe geschlungen dunkle Tuchbahnen trugen und auf Matten hockend Tee tranken. Nahebei standen Kamele und kauten auf ihren Trensen. Das stimmt nicht. Kamelen wird ein Ring durch die Nase gezogen. Zaumzeug, wie bei Pferden in Gebrauch, ist bei Kamelen unbekannt. Oder unbeliebt. Oder beides. Dennoch kauten sie. Da, schon wieder! Die Kamele, nicht die Männer. Tee wird nicht gekaut (jedenfalls nicht der Aufguss).
Ebenhölzerne Handgelenke ragten aus Burnussen. Hände und Finger flossen in den Sand wie heißes Lakritz. Die morschen Werke ihrer Armbanduhren müssen allesamt versandet sein, kam es Hermann in den Sinn.
Einer der Männer sprach, während die anderen aufmerksam schwiegen. Dann war der nächste an die Reihe. So ging es den Halbkreis entlang. Hermann lauschte. Wer ihre Sprache nicht verstand, hätte nicht entscheiden können, ob sie miteinander diskutierten oder einander kurze Geschichten erzählten. Ein Mann aus der Mitte des Halbrunds, der älter schien als die übrigen, blickte Hermann an. Hermann lächelte. Ein leichter Wind ging.
Das Tier musste aus der Höhe gekommen sein, von dort, wo die Sonne stand. Seine Fährte reichte durch die Gruppe der Hockenden hindurch bis direkt vor Hermanns Füße. Er wandte sich um. Das Ende der Spur war nicht auszumachen. Sie durchzog das Tal und setzte sich in der Ebene fort. Am Horizont erhoben sich Berge.
Ein einziger der vielgewundenen Tagelmust glänzte in absolutistischem Dunkelblau, die anderen Kopfputze waren schwarz. Zum Trinken zog man den locker überliegenden Stoff für einen Moment über den Mund hinab, strich ihn aber, noch während man sein Glas vor sich auf die Matte abstellte, behände zurück, so dass einzig ein Spalt für die Augen frei blieb. Hermann versuchte vergeblich, sich vorzustellen, wie die Männer wohl ohne ihre helmartigen Turbane aussähen. Es war eigentlich kein Schmuck, auch kein Sonnen- oder Staubschutz. Es war ein anderer Kopf.
Ruhig schwebte die Beliebigkeit, mit der die Männer ihre Gläser anrührten, über der gewichtigen Strenge, mit der das Recht zu sprechen von einem auf den nächsten weiterrückte. So kam es unmerklich. Welch übergroßer Fennek, welch gedrungene Addax mochte die Fährte wohl hinterlassen haben?
„Nein, es ist kein lahmer Schakal gewesen. Seht doch, die Schleifspur zieht sich durch die Mitte. Wenn ein Schakal ein Bein nachzieht, sieht seine Spur anders aus. Kein Schakal hat so lange spitze Zehen. Er macht längere Schritte. Ich habe es gesagt.“ Der Mann beugte sich vor, um sein Glas zu ergreifen. Dann blickte er die Reihe derer entlang, die vor ihm gesprochen hatten. Seine Worte schienen überzeugt zu haben.
„Ich habe es gesagt, als wir die Spur kreuzten, und ich sage es erneut.“ Es war die Stimme des Alten, der Hermann angeschaut hatte. Sie war leiser als die seiner Vorgänger: „Es ist ein böser Trick. Ein Kel Asuf will, dass wir rasten.“ Er zog das schwarze Tuch, das ihm beim Sprechen herabgerutscht war, bis hinauf unter die Augen. „Ich habe es gesagt“, fügte er an.
Deutlich erkannte Hermann seine Hose, in der sein Unterleib und seine Beine stecken mussten. Unten im Sand, den Abdrücken kräftiger vierzehiger Klauen gegenüber, am Ende seiner Hose, standen seine Schuhe, in denen Hermann seine Füße vermutete. Die Hände hingen etwas unterhalb der Hüften aus den Ärmeln seiner Jacke hervor. Hermann stand kaum so viele Kamellängen von den Männern entfernt, wie er Finger an einer Hand zählte. Er war ihnen näher, als Stoff auf einen Ballen lackiertes Litham vom Gegenwert einer Ziege gewickelt ist. Nein, diese Herren waren offenbar nicht an seiner Gegenwart interessiert. Und Hermann wollte sich nicht aufdrängen. Lautlos machte er einen Schritt zur Seite.
Eines der Kamele stieß einen blökenden Schrei aus und sprang auf. „Halts Maul, Hure!“ schrie einer der Männer.
Die Packtiere waren mit zu Bündeln verschnürten Häuten, Wasserschläuchen und lichtverwaschenen Säcken beladen. Sie wirkten mager und machten nicht den Eindruck, als könnten sie ihre Last über längere Zeit tragen. Über die aschgrauen Flanken der Reitkamele hingen bunte Fransen. Diese Fransen waren in dicke Deckchen geknüpft, mit denen die reich verzierten Holzsättel abgepolstert waren. Der prächtigste Sattel war teilweise mit roter Seide bespannt. Seine kupferbeschlagene Rückenlehne blendete die Sonne. Wie der verwachsene Nasendorn eines Seeungeheuers aus den Trümmern einer Handelsgaleere stak vorn ein dreizackiger Halteknauf heraus.
OK. Gegen eines der am Boden sitzenden Kamele lehnte ein Mann mit kahlem Kopf. Er blutete. Seine blauen Augen starrten ins Leere. Die Hände seitwärts herabhängend und die Beine vor sich hingestreckt glich er einer schmutzigen Marionette. Um seinen Hals lag ein Seil, das die Haut aufgescheuert hatte. Es hätte ein US-Amerikaner, ein Schwede oder ein Deutscher sein können. Hermann erkannte ihn auf Anhieb. Der Mann war die Hauptfigur aus der Shortstory „A Distant Episode“, die Paul Bowles im Jahre 1945 in New York geschrieben hatte.
Erzählt wird von einem einsamen und latent lebensüberdrüssigen Linguistikprofessor französischer Nationalität, der sich zu weit in den Süden Marokkos vorwagt. Er gerät an eine Delegation Reguibat, die ihm die Zunge herausschneiden, seinen Körper mit Blechdeckeln behängen, ihn in einen Sack stecken und als Beute mitnehmen. Die räuberischen Kamelreiter erreichen ihr Stammeslager und ziehen abseits der Handelsstraßen durch die Wüste. Der lingual amputierte Sprachwissenschaftler wird geschunden und geprügelt und muss sich als tanzender Hanswurst von Weibern und Kindern des Stammes piesacken lassen. Während seiner Freizeit döst er in der Sonne. Binnen Kurzem hat er noch etwa den Bewusstseinsstand eines Wattwurms. Im Laufe eines Jahres im Staub zu Füßen der Reguibat wird ihm ein unterhaltsames Programm als Hampelmann andressiert, das er zur Belustigung seiner Herren bei festlichen Gelegenheiten aufzuführen hat.
Voilà! Genau so hatte sich Hermann den Professor vorgestellt.
Schließlich hatten die Reguibat die gequälte Kreatur an einen Reichen verkauft. Das war in Fogara. Dort verlangsamte sich der körperliche und geistige Auflösungsprozess des degenerierten Akademikers. Er setzte gar dazu an, wieder zu klarem Verstand zu kommen. Dies geschah, als er lauschte, wie ein gebildeter Gast seines neuen Herrn Koranverse in klassischem Arabisch zitierte. Der Professor hatte diese Sprache beherrscht, bevor ihn die Reguibat durch die Mangel nahmen. Der bekannte Wortklang setzte in seinem gedörrten Schädel etwas Psychologisches in Gang, woraufhin er wenig später den Befehl verweigerte, dem Gast seines Eigentümers das Hanswurst-Programm vorzuführen.
Hermann ließ sich neben dem Professor nieder. Der gab ein kurzes und trockenes Rülpsen von sich. Gegen Ende der Bowles’schen Geschichte war die blechdeckelscheppernde Gestalt in einem letzten Aufbrodeln von Lebenswut aus dem Käfig ausgebrochen, in dem sie gefangen gehalten wurde. Grausig schreiend, scheppernd und mit den Armen rudernd war der Professor durch das Stadttor von Fogara auf die Piste d’Aïn-Salah hinausgelaufen. Ein gelangweilter französischer Soldat, der am Tor Wache schob, glaubte einen heiligen Verrückten zu sehen, und feuerte, in dem möglicherweise berechtigten Aberglauben dies brächte Glück, hinter dem Linguisten her. Die Kugel verfehlte den Prof knapp.
Hermann griff sich an die Nasenwurzel. Die Männer mit den Tüchern um die Köpfe mussten Tuareg sein, die den halb verdursteten Wissenschaftler irgendwo in der Einöde aufgelesen hatten. Der Professor stank bestialisch. Bowles’ Shortstory endet am Stadttor von Fogara. Weit konnte der Professor seither nicht gelaufen sein, überlegte Hermann. Vermutlich haben die Tuareg ihn abseits der Piste zwischen Aïn-Salah und Foggaret el Zaoua aufgelesen. Irgendwo im Tidikelt jedenfalls, dem Land der Foggaras. Am Südrand der öden Hochebene des Tademaït vermutlich. „Tademaït“, das war Tamahaq, die Sprache der Tuareg. Tademaït = nackt, wie die Handfläche, übersetzte Hermann und blickte um sich. So war sie, die Landschaft: nackt wie eine Handfläche. Vermutlich war die Karawane zur Oase Aïn-Tiguelguemine unterwegs, grübelte er weiter und rieb seine Nasenwurzel. Es war unglaublich, dass eine einzelne Person derart stinken konnte. Aïn-Tiguelguemine lag am Fuß des Mouydir, einem nordwestlichen Ausläufer des Hoggar. Wahrscheinlich gehörten die Männer zum Stamm der Kel Ahaggar. Kel Ahaggar = Leute aus dem Hoggar, übersetzte Hermann. Das Hoggarmassiv erhebt sich im Süden von Algerien. Und der Süden dieses drögen Staats macht immerhin einen guten Teil des Nordwestens der Sahara aus. Aber die Sahara, so fiel es Hermann wie Schuppen von den Augen – er konnte jetzt schier nicht mehr aufhören, an seiner Nasenwurzel zu fummeln –, war das nicht diese knochentrockene Wüste, die sich quer über den dicksten Teil dieses faustkeilförmigen Erdteils erstreckt? – Wie hieß er noch gleich? Afrika, richtig. Klar ist sie das, konkludierte Hermann, das ist sie: die Sahara! Unser Hermann.
Der Professor hatte abblätternde, schwarze Schorfkruste und blassbraune Sommersprossen im Gesicht. Seine aufgesprungenen Lippen klafften auseinander, aus der verkrusteten Nase quoll grüner Schnodder. „Na?“ sagte Hermann freundlich. Der Mann starrte unverwandt auf die knapp zwölf Millionen Quadratkilometer Ödland jenseits seiner Füße. Im Atemrhythmus des schwieligen Grabsteins, gegen den er lehnte, ging sein Kopf auf und ab. Ein kurzes Lächeln hätte gereicht, ein in den Sand gemaltes „Hallo“, eine kleine Geste nur, die in Hermann das Gefühl geweckt hätte, dass der Professor nicht auf ihn herabschaut. Aber nichts! Keine Regung! Die abweisende Kälte der Bowles’schen Erzählfigur stach Hermann in den Eingeweiden. Nein, so berühmt war der Professor auch wieder nicht. Nichts gab ihm das Recht zu derartigen Allüren. So berühmt war keine Fantasiegestalt, gleich, welcher Geschichte sie auch entstiegen sein mochte (nicht einmal Jesus Christus hätte sich derart lackaffig aufführen dürfen). Hermann hockte wortlos neben dem Mann und schluckte wie ein gequälter Quakfrosch. Der Professor gab keinen Mucks von sich. Nichts deutete darauf hin, dass er sich freute, Hermann kennen gelernt zu haben. Er ließ sich nicht einmal anmerken, ob er sein vis-à-vis überhaupt wahrgenommen hatte.
Zum Glück trug Hermann immer ein Heftlein und einen Kugelschreiber bei sich. Er tat dies, weil er nicht den Mut besaß, es aufzugeben, sich von der Idee zu befreien, dass er es besser bleiben lassen sollte, so doof zu sein, es nicht wahrhaben zu wollen, was für einen ausgemachten Schwachsinn es darstellte, ungeschickterweise zu ignorieren, wie sinnlos es war, hin und wieder irgendwelche seiner dummen und überflüssigen Einfälle schriftlich zu fixieren. Deshalb trug Hermann das Heftlein immer bei sich. Ebenso verhielt es sich mit dem Kugelschreiber. Natürlich schrieb Hermann nie etwas auf, und falls er es doch einmal tat, verstand er nicht, was er sich notiert hatte (wenn er denn überhaupt je nachlas). Der Mechanismus des Kugelschreibers knirschte. Das Heftlein war an den Rändern abgestoßen. Vielleicht waren seine Seiten ja unbeschrieben? Hermann konnte sich nicht erinnern, je darin geblättert zu haben.
Er wischte die schmierige Schreibmine an seiner Hose ab und probierte den Stift auf dem Deckblatt des Heftleins aus: Er funktionierte noch. Wäre der Kugelschreiber der Stängel eines Sonnenblümchens gewesen – im Hintergrund die Wüste fernab die Silhouette der Berge, im Vordergrund das apathische Kamel, gegen das der Professor lehnte, in der Hand das Sonnenblümchen -, es hätte ein erstklassiges Motiv für eine mittelmäßige Ansichtskarte abgegeben. Der Kuli war aus Hartplastik. Hermann legte das Schreibwerkzeug in die Hand des Professors und kontrollierte, ob es auch hinreichend festgehalten wurde. Dann liftete er den Arm des Professors wie den Tonabnehmer eines Plattenspielers und führte das aufgeschlagene Heftlein sachte unter die Schreibspitze. Leicht drückte die Kugel auf das Papier. Nun stupste Hermann den Prof an: etwa so, wie man nach dem überflüssigen Amtsbesuch im oberen Stockwerk eines vielgeschossigen Verwaltungsgebäudes den Fahrstuhlknopf betätigt. Hoffentlich schreibt er jetzt nicht „Hilfe!“ oder so ‘was, durchfuhr es Hermann. Doch es dauerte nur eine Sekunde, dann saß der Professor wieder still. Hermann betrachtete den Autographen. Entfernt erinnerte das, was die stinkende Fantasiegestalt mit flottem Strich auf der Seite niedergelegt hatte, an einen Kringel. Hermann war zufrieden. Er hob die Schreibspitze behutsam vom Papier und steckte das Heftlein wieder ein. Ärgerlicherweise hielt der Professor krampfhaft fest, als Hermann versuchte, ihm den Kugelschreiber wieder abzunehmen. Letztlich aber erwies sich der rechtmäßige Eigentümer als stärker. „Danke“, zischte Hermann, während er seinen Stift so gut es noch ging in die Innentasche seiner Jacke einhakte. Dann räusperte er sich und erhob sich.
„Meine Herren. Entschuldigen sie bitte, dass ich störe.“
„Ah! Hallo! Seid willkommen! Wie geht es Euch?“ rief man ihm entgegen. Hermann wunderte sich. Hatten die Männer ihn soeben in demselben Ahaggar-Dialekt des Tamahaq begrüßt, in dem er sich zuvor dafür entschuldigt hatte, dass er störe? Seines Wissens war er nicht fähig, die alte Berbersprache zu verstehen. Andererseits hatten die Worte der Tuareg Sinn gemacht. Ja, dessen war er sich sicher. Und auch seine Sprache musste in den Ohren der Männer mit Inhalt erfüllt gewesen sein, denn die Hockenden betrachteten ihn schweigend, ganz als suchten sie noch, die ganze Bedeutung dessen, was Hermann parliert hatte, zu begreifen. Der schleimhautüberzogene Fleischlappen am Grunde von Hermanns Mundhöhle stieß gegen die seine untere Zahnreihe. Es fühlte sich warm, weich und vollkommen normal an.
„Gut. Danke. Es geht mir gut“, antwortete Hermann in ruhig dahinfließendem Tamahaq. Dies war zwar nicht die ganze Wahrheit, denn ihm saß ein Alp auf der Brust, weil der Professor ihn so frostig ignoriert hatte – doch fand er, dass er sich dies nicht unmittelbar müsse anmerken lassen).
„Aber bitte, setzt Euch doch!“ warf einer der Männer ein und wies neben sich, wo allerdings bereits ein anderer Targi saß. Unvermittelt flog eine ameisenschnelle Unruhe durch die Gruppe. Ohne den Blick von Hermann zu lösen, rutschten die Männer mit flinken Bewegungen ihrer Gesäße auf dem Halbkreis aus Matten zur Seite, bis an der Stelle, auf die ihr Stammesbruder gezeigt hatte, ein Sitzplatz klaffte. Augenblicklich war es wieder still. Nur das müde Stöhnen des Winds zwischen den Steinen war zu hören (und natürlich das Gurgeln des Tees, der eingeschenkt wurde).
Hermann zog seine Schuhe aus und stellte sie in den Sand vor die Matte. „Ja, es geht mir gut“, räumte er ein, während er sich niederließ. Spitze Finger reichten ein dampfendes Teeglas weiter. Hermann blickte auf seine kohlenstaubgeschwärzten Hände und tat, als überlege er. Tamahaq schien leichter als Tschechisch. Dann fühlte er unauffällig nach dem Gegenstand in seiner Jackentasche. „Doch, es geht mir gut. Und wie geht es euch?“ fragte er, beugte sich vor und führte das Glas nach Tuaregmanier an den Mund. Der Tee war süß. „Ist euch Allah auf dem Weg bis hierher gnädig gewesen?“ setzte er hinzu. Dem Targi, der ihn aufgefordert hatte, Platz zu nehmen, entfuhr ein gequälter Lacher. Durch den Dampf über dem Tee hindurch blickte Hermann in die Runde. Einer der Tuareg musterte besorgt die Kamele, ein zweiter schien etwas in der Ferne zu beobachten. Die anderen hielten die Köpfe gesenkt und betrachteten ihre ledernen Latschen, die man auszog und in den Sand vor die Matte stellte, bevor man sich niedersetzt, oder sie schauten in den Sand neben ihre ledernen Latschen, die man auszog und in den Sand vor die Matte stellte, bevor man sich niedersetzt. Hatte Hermann etwas falsch gemacht?
In den Augen des Professors war keine Bitterkeit zu erkennen. Eher blickte er
sanftmütig. Zweimal war er bereits gestürzt und ein Stück weit über den harschen
Staub geschliffen worden, der nach Stracciatella-Manier von Steinsplittern durchbrochen
wurde. Ehrlich gesagt, Hermann vermochte kaum die Augen des Professors zu erkennen.
Ganz zu schweigen von Sanftmut, Bitterkeit oder anderen Nuancen, die sich darin
möglicherweise gespiegelt haben könnten. Vielleicht waren die Augen des Professors
verquollen? Oder geschlossen? Es ist durchaus denkbar, dass das Seil, an dem
die Kreatur hinter Hermanns Kamel hergezerrt wurde, ziemlich lang war, so dass
der Professor zu weit entfernt war, als dass Hermann ihm hätte hinreichend genau
in die Augen schauen können? Oder die Karawane wirbelte Staub auf, der die Sicht
auf den dahinstrauchelnden Professor trübte? Vielleicht war ja dem Prof eine
Sonnenbrille aufgesetzt worden, eine von der Sorte mit Blinklämpchen um die
Gläser, angeklebten buschigen Augenbrauen und einem Plastikzinken, der ihm über
die Nase hing. Oder Hermann hatte überhaupt nicht hingeguckt? Auch möglich.
Seinem Kamel jedenfalls war die Anstrengung, den gestürzten Professor nachzuschleifen,
nicht anzumerken gewesen. Die ruckartigen Vibrationen hatten sich auf Hermanns
Tamzak übertragen, an dessen Lehne das Seil gebunden war, das den Professor
nachzerrte. Knapp über dem Horizontkreis, am Ende des anderen Seils, jenes Seils,
in das der Nasenring seines Reittiers geknüpft war, federte im umeinander wiegenden
Rhythmus der Kamelschritte der dunkelblaue Kopfputz. Ja, vielleicht hatte sich
Hermann nicht einmal umgeschaut? Möglicherweise hatte er sich nur vorgestellt,
dass er bequem zurückgelehnt da säße und ohne jede rezeptive Verrenkung das
Gefühl genieße, in den Augen des Professors keine Bitterkeit, sondern ungetrübte
Sanftmut zu erkennen.
Andererseits: er hätte den abgehalfterten Fachmann füttern und einkleiden müssen. Außerdem war es zwar unwahrscheinlich, aber immerhin möglich, dass der Prof von einem erneuten Bewusstseinsschub erfasst würde, in dessen Folge er wieder Schaden anrichtet. Der Mann benötigte Aufsicht. „Ein verdammter Pfandbrief und eine bekloppte Kommunalobligation sind mehr wert als dieses Wrack“, befand Hermann. Oder er dachte: „Wenn es darauf ankommt, frisst der mir bloß die Kekse weg.“ Oder: „Was soll ich denn mit dem? Er hat mir doch schon den Kringel gemalt.“
Nein, eben gerade, weil der Professor zu nichts zu gebrauchen war: Gerade das machte den Hype an ihm aus. „Nö, der bringt nichts“, nörgelte Hermann. Der Professor war ohne Zweifel zweckfrei. Ungewaschen dazu. Und dennoch war er die Zentralfigur einer überaus gelungenen Kurzgeschichte. Darüber vermochte Hermann nicht hinwegzusehen. Er hatte keine Lust darüber hinwegzusehen. Wie die intravenöse Injektion mit einem zitrusfrischen Flüssigscheuermittel machte sich in ihm die Erkenntnis breit, dass die Tuareg auf der Welle lagen. Es wäre wenig sinnvoll gewesen, ihnen lange Nasen zu drehen oder die Zunge herauszustrecken. Sie durften weiterhin gelassen daherreiten, denn es war ihre Leine, an welcher der abgerissene Goldjunge durchs nicht vorhandene Unterholz strauchelte. Auf ihren Befehl hin hätte das philiströse Zombie mittels eines hervorgepressten Stinkefurz’ das Weltgeschehen zu erklären gehabt, denn ihnen allein stand es zu, dem Prof additiv die Klöten wegzuschnitzeln, wenn er das Geforderte nicht beibrächte. Da konnte Hermann nicht mithalten. Einmal mehr war er Konteradmiral Dummfick der Lächerliche – alle hatten alles, er hatte nichts. Wie immer (Neid/Hammel:Hammel/Neid).
Hermann zeigte hinter sich. „Wer ist eigentlich der da?“ fragte er so beiläufig wie Quetschkartoffeln in präzise artikuliertem Tamahaq hinlänglicher Lautstärke keinen eindeutig spezifizierten der neben ihm einherreitenden Tuareg. Natürlich antwortete ihm kein Arsch.
Mit jedem Schritt des plattfüßigen Monstrums, auf dem Hermann ritt, wurde die hart hölzerne Sitzfläche seines Sattels herauf- und herabgerammt. Jeder Schritt des plattfüßigen Monstrums warf Hermann vor und zurück, und bald war es klar wie der Gürtel des Orion über Tromsø bei Stromausfall, dass ihm das barbarische Geschaukel unermesslich auf die Nüsse ging. Hermann konnte nicht länger scharf sehen, er hörte, als seien seine Ohren mit siruptriefenden Pfannkuchen verkleistert, der Tee, den die Tuareg ihm verabreicht hatten, vergor in seinem Magen zu einer explosiblen Lake, die drauf und dran war, ihm die Lymphe unter den Fingernägeln hervorzutreiben, er klammerte sich an den speckigen Halteknauf des schwachsinnigen Sattels und verwünschte alles, woran er nur zu denken in der Lage war, insbesondere diese fein staubige Seekrankheit, mit der er sich offenkundig infiziert hatte und deren Inkubationszeit nunmehr irreversibel verstrichen schien.
Die Unterschenkel über den Hälsen ihrer Tiere gekreuzt, thronten die Tuareg auf ihren deckchengepolsterten Tamzak und fingen das knochenzermürbende Geschaukel mit schlangenhaften Bewegungen ihrer langen Körper auf. Vielleicht waren ja ihre Gesichter unter den Windungen der Verschleierungen von martialischem Bandscheibenschmerz verzerrt? Diese Männer sind nicht stolz, winselte Hermann. Doch es war überflüssig, erneut hinzuschauen. Diese Männer wirkten stolz, also waren sie es. Mit leeren Versprechungen würden sie sich nicht abspeisen lassen.
Bemüht nicht dadurch aufzufallen, dass er sich aus dem Sattel schleudern ließ, untersuchte Hermann den Inhalt seiner Hosentaschen. Er besaß 3,56 DM an Kleingeld, den Wohnungsschlüssel, den ihm Mona gegeben hatte und merkwürdigerweise einen Fahrschein für die Wuppertaler Schwebebahn, der am 7. Dezember abgestempelt worden war. Hermann hatte keine Ahnung, wie dieser Fahrschein in seine Hose gelangt war. Er hatte ihn, mit Verlaub, nie zuvor gesehen. Also dachte er nicht weiter darüber nach, wo er sich an dem eingestempelten Datum aufgehalten hatte. Hermann war fest davon überzeugt, dass ihm für eine derartige Geisteskür zu übel sei. Am betreffenden Tag war er jedenfalls nicht mit der Schwebebahn gefahren. Dessen könnte er sich gewiss erinnern.
Seinerzeit hatte Paul Bowles den Professor berühmt gemacht, gewiss. Dennoch: Berühmt war nicht Paul Bowles, sondern der Professor. Er war der Star. Wen interessierte denn, wer die Leiter zum Ruhm festgehalten hatte, damals, als der Prof sie erklommen hatte? „A Distant Episode“ (in der deutschen Übersetzung „Eine ferne Episode“) hätte genauso jedem anderen Federfuchser entfahren können. Es war die Geschichte des Professors! Sie war es, die Hermann sich eingeprägt hatte. Aus wessen Feder sie stammte – wer fragt denn danach? Die Story war es doch, die brillant war, nicht der Autor. Diese Story musste brillant sein, sonst könnte Hermann sich nicht ihrer erinnern (er erinnerte sich nur an Brillantes). Der Professor war also die Hauptfigur einer brillanten Shortstory, und deshalb war er berühmt, ein Star und eine Kultfigur. Denn Hauptfigur = Kultfigur. Nein, es war anders: Hermann fühlte sich wohl, weil er die Story kannte. Nein, er fühlte sich nicht wohl, denn ihm war vom Kamelreiten kotzübel, dennoch fühlte er sich immerhin wohler, als er sich gewühlt hätte, wenn er die Story nicht gekannt hätte. Und daran erinnerte ihn der Professor. Der Professor erinnerte ihn also daran, dass er sich fohlwühlte, und genau deshalb war er so berühmt und ein Star und eben eine Kultfigur. Ja, so war es! Der Professor erinnerte ihn daran, und deshalb war Hermann eine Sitar. Blödsinn! Hermann war vom Kamelreiten kotzübel, der Professor war ein Star und er eine Kultfigur. Na also!
Zur Zeit des auslaufenden Holozäns in einer klimatisch gemäßigten Zone der Nordhemisphäre des Planeten Terra aufgewachsen, lebte Hermann eben dort. Als Exemplar der bis dato in dieser Weltgegend rezenten und superioren Spezies war er für den Starkult empfänglich, der während jener Tage zahlreiche Blutopfer forderte: Sting, A. Hinkel, S. Graf, R. v. Weizsäcker, Alfred E. Neumann, A. Lennox u.v.a.m. Der Professor war einer von ihnen. Nix da! Hermann hatte den Professor berührt. Er hatte mit dem Professor um einen Kugelschreiber gerungen, und damit war ihm von der Hand seines Heilands Segnung und Gebenedeiung widerfahren, was so eine Art Massage inklusive Waschlotion und Hautcreme sein muss. Nein! So war es auch nicht. Alles falsch! Es hatte andere Gründe (merke: Alles hat andere Gründe). Listen now!
Faktisch stimulierte das Kamelgeruckel Hermanns Unterleib. Ha! So war es nämlich! Eine solche Stimulation bleibt, wie jedermann mithilfe eines ausgedienten Fahrradsattels und einer Dampframme unschwer erproben kann, nicht ohne Folgen auf das Empfinden. Jeder der Tuareg hatte den ungepolsterten Tamzak irgendwann im Laufe seines Lebens einmal geritten. Ihnen allen war wohlbekannt, wie man sich ohne Deckchen unterm Arsch fühlt. Die Männer feixten sich bereits seit etlichen Kamelstunden insgeheim zu. Sie taten dies mithilfe ihrer kaum milbengroßen Tuareg-Citizen-Band-Feixgeräte, die in ihren Kopfschleiern versteckt waren. An den Feixgesprächen, die auf den TCB-Frequenzen geführt werden, hat sich übrigens seit Jahrtausenden nichts geändert. Es geht immer um die Wallungen, in die ein anal und genital stimulierter Volksgenosse geraten ist. Immer werden diese Wallungen damit erklärt, dass ein Geist durch eine der unteren Körperöffnung in die betreffende Person eingedrungen sei und von ihr Besitz ergriffen habe, was die Feixpartner immer wieder zum Platzen komisch finden, weshalb sie sich darüber auch immer wieder tierisch darüber beölen. Das Sattelgerummse und Geschaukel ohne Deckchen unterm Arsch zersetzte also Hermanns Gemütskadaver, und er überlegte ernsthaft, auf welche Weise er noch glücklicher werden könne, als er es bereits war:
1.) als Eigentümer des Professors,
2.) nicht als Eigentümer des Professors.
Aber zum Glück war Hermann nicht vollkommen bescheuert. Er würde sowieso nichts verlieren und nichts hinzugewinnen, egal was auch geschehen sollte. So war das nämlich. Und damit verklangen seine leiblichen und seelischen Sorgen.
Vielleicht legte er sich ja im Nachhinein allerhand komplizierte Erklärungen für seine Übelkeit und geistige Verwirrung zurecht – etwa dass er als Folge unzureichend abgepufferten Reitens auf einem Kamel dem Starkult aufgesessen sei oder dass ihn auf dem Weg über seine analen und genitalen Zonen ein böser Geist beschlichen habe oder weiß der Kuckuck was nicht alles. Egal, denn seine Übelkeit und Verwirrung waren von einem Moment auf den anderen wie weggeblasen. Hermann ritt Kamel, als sei nichts geschehen, und es war ja auch nichts geschehen. Genüsslich ließ er einen in den Edelholzsattel knattern und wischte sich den Schweiß aus den Augen, denn es war irrwitzig heiß in der Sahara, und er schwitzte unter dem karierten Schal, den er um den Kopf geschlungen trug. Als Hermann aus Monas Wohnung getreten war (lange her), hatte ihm der wärmende Gewebestreif noch um den Hals gehangen (schließlich war damals Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter gewesen). Bevor er sich dann aber dem Halbkreis der Tuareg zugewandt hatte – das war, nachdem er von der Seite des Professors aufgestanden war –, hatte er sich das Stück Stoff um den Kopf gewickelt. Gleich im Anschluss an das Ringen um den Kugelschreiber, ne? Hermann war nämlich nicht vollkommen behämmert. Schließlich hätten ihm die Herren auch die Zunge herausschneiden können.
OK. Hermann Sorgen verklangen nicht aus einem Grund. Sie verklangen. Alles geschieht ohne Grund (merke). Wem unbedingt nach einer triftigen Begründung für die Veränderung von Hermanns Geistes- und Körperbefindlichkeit verlangt, dem sei als ranziger Kaldaunenzadder vor die Füße geworfen, dass sich seine Konfusion und Nausea einzig verflüchtigten, weil auf diese Weise mal wieder schnöder Logik und Kausalität der Fickfinger von hinten rein geschoben werden kann.
Also. Hermann einmal mehr im postseeligen Zustand vorübergegangenen Arsch- und Eierjuckens, verklungener Wahnaffenmäßigkeit und überwundenen Brechreiz’, begann sich zu langweilen. Und schwupp: Da wären wir. Er langweilte sich. Das Einzige, wozu man in diesem Zustand fähig ist, ist Handel zu treiben (weshalb sich übrigens der gelangweiltere Teil der Menschheit auch kaum mehr mit etwas anderem beschäftigt).
Doch an Stelle einer lustigen, spannenden, interessanten und unterhaltsamen Szene, einer Szene, die mit obskuren Wörtern in feinstem Tamahaq gespickt ist, an Stelle einer Szene, in der die Tuareg Hermann über sein schwarzes Weib ausfragen und er möglicherweise viele aufschlussreiche Antworten gibt, folgt eine schnurgerade Liste brennender Fragen:
1.) Warum ist das schwarze Weib so dick?
2.) Ist es schwanger?
3.) Kann es Babys bekommen (und wenn ja, schwarze oder weiße)?
4.) Steckt in dem schwarzen Weib ein Zauber?
5.) Hat es zuvor jemandem gehört, auf den dieser Zauber gewirkt hat?
6.) Wurde es von der Königin Tin Hinnan oder deren Schwester persönlich geformt?
7.) Handelt es sich bei dem schwarzen Weib möglicherweise um die Königin Tin Hinnan oder deren Schwester persönlich?
8.) Macht das schwarze Weib Kamele schneller als Lastwagen und lässt es das Wasser in den Schläuchen des Stammes nie versiegen, wohingegen es alle Krüge des Ahaggar Leck schlagen lässt, auf dass ihr Inhalt im Sand versickere?
9.) Macht das schwarze Weib die Kel Tamahaq ewig überlegen über die Sesshaften, die Gläubigen wie die Ungläubigen, und – was wichtiger ist – segnet es die Kel Ahaggar mit Fruchtbarkeit, größerer Fruchtbarkeit als die der übrigen Kel Tagelmust, größerer Fruchtbarkeit noch als die der Unwürdigen, der schwarzen wie der weißen, und schenkt es seinem Besitzer Behändigkeit im Umgang mit dem Takuba, seinen Kamelen ewige Jugend und seinen Frauen ewige Schönheit?
Spaß ist des Lebens finale Endlösung. Ohne Spaß läuft nichts. Welchen Sinn sollte das Leben haben, wenn nicht Spaß? Ha! Hermann fühlte sich eins mit allem, was spaßgebeutelt über den Erdboden kroch und krepelte, darüber hinwegwankte oder im eigenen Glibber darüber hinwegschleimte. Über Sekunden und Stunden, über Tage, Monde, ach, ganze Erdzeitalter hinweg implodierte ein stumpfes Grinsen in ihm, und er stürzte auf einen unendlich weit entfernten Mittelpunkt zu: Spaß war Spaß! Hermann ritt Kamel, und er liebte es. Bss. Sanft tätschelte er sein Kohleweib. Man unterhielt ihn aufs Köstlichste. Da kam auch schon der nächste:
„Nun, seid ihr mit eurem Kamel zufrieden? Ist Euch der Sattel auch nicht zu hart?“ erkundigte sich der Reiter. Hermann wollte weder lügen noch unhöflich sein, daher blieb er die Antwort für einen Augenblick schuldig. Der Mann sprach: „Hört, ich will Euch etwas zeigen.“ Er fuhr unter seinen Burnus und warf Hermann ein Ledersäckchen zu. Es war an einer langen Schur festgemacht. Hermann fing es. „Die Perlen, die ihr in diesem Kameleuterbeutel findet, stammen noch aus der Zeit Mose’“, flunkerte der Tuareg und legte seine linke Hand unter eine ziegenmilchgefüllte Kalebasse, die unsichtbar vor ihm einherschwebte. Langsam wand Hermann die Schnur um sein Handgelenk. „Vor langer Zeit hat die letzte der edlen Gemahlinnen des ruhmesreichen Abdallah Addarib ag Schebbun ul Sheik Sidyas Makaltum für ein winziges Jadeschälchen angefüllt mit diesen Perlen zehn prächtige Kamele, ein Dutzend Rinder, zweimal so viele fette Schafe und drei jungfräuliche Sklaventöchter mit blendend weißen Zähnen gegeben, oder besser: Sie hat ihren Gatten diese Dinge dafür geben lassen. Euch die Kostbarkeit überhaupt zu zeigen – beim Propheten! -, ich muss besessen sein! Würdige Krieger sind vor mir auf die Knie gefallen und haben mich angefleht, mir ihre Kamele und Zelte schenken zu dürfen, wenn ich sie nur einen Blick in diesen Beutel werfen ließe – ich habe ihnen nicht gewährt. Ihr sollt wissen: zu welcher Oase ihr auch kommen werdet, überall wird Euch der dortige Schnitzmeister für eine einzige dieser Perlen so viele Figuren fertigen, dass ihr sie allein nicht fortzutragen vermögt. Und jede dieser Figuren wird um ein Vielfaches schöner und kostbarer sein als die kleine schwarze Figur, die Ihr in den Händen haltet. Hört nun! Unverständlicherweise und gleichsam aus einer flüchtigen Laune heraus bin ich Willens, Euch Euer schwarzes Weib gegen meinen Beutel sagenhafter Perlen abzutauschen. Seht, und bedenkt meine Worte. Doch seid achtsam, dass Euch keine herabfällt.“
Es gelang Hermann, zu antworteten, ohne sich vor Lachen in die Hose zu pissen: „Mein Freund, hab Dank für Deine Worte. Ich will Dein Angebot ernsthaft bedenken und mir die Perlen in Ruhe ansehen. Sei unbesorgt, es wird mir keine davon herabfallen.“ Hermann ritt Kamel, und er liebte es. Sanft tätschelte er die kleine schwarze Figur. Spaß war Spaß. Bss. Da kam auch schon der nächste.
Ihr erinnert euch: der Alte, der seine Stammesgenossen vor einem Kel Asuf gewarnt hatte – „Ein böser Trick“, so hatte er sich ausgedrückt (Kel Asuf = Wesen der Einsamkeit, übersetzte Hermann) –, weder dieser Alte noch der Targi mit dem dunkelblauen Kopfputz machten Hermann Angebote. Alle anderen hielten feil, was ihre Fantasie und ihre Taschen aus Ziegenfell hergaben. Gleich einer aus nächtlichem Dunkel hervorpreschenden Bande stach aus den Schatten unter den wulstigen Stoffbahnen über ihren Stirnen die Habgier. Der Alte und der blaue Ritter aber schwiegen.
Ja, der blaue Ritter schwieg. Der Alte hingegen quatsche vor sich hin. Doch hörte ihm niemand zu. „Ich sage euch, lasst die Hände davon“, quatschte er. „Ihr werdet sehen, wenn wir ins Lager kommen: Malhjala und die anderen Frauen werden mir Recht geben. Wenn nun Böses geschieht?“ schimpfte er mit ausgebreiteten Armen. Plötzlich fuhr er auf und warf die Hände abfällig gegen die anderen: „Es wird Böses geschehen! Ich spüre es. Man wird euch vor den Amenukal schleifen und euch die Füße abschlagen, weil ihr bösen Zauber ins Lager getragen habt. Wenn wir überhaupt bis zum Lager kommen!“ Dann verfiel er in einen Gesang, wobei er seinen Oberkörper im Sattel vor- und zurückwarf. Mit den ausgestreckten Fingern einer Hand zeigte er dabei auf die Männer: „Ihr wisst doch, was er will! Es sind nicht eure Perlen und Amulette. Er will keine Verse, die auf Kamelhaut geschriebenen stehen. Er will auch nicht das Silber, dass ihr euren Frauen zu schenken gedachtet, bis er sein Zauberweib hervorholte und eure närrischen Blicke darauf fielen. Ihr wisst, worauf er wartet!“ Und dann schrie er: „Aber wir werden ihn nicht verkaufen!“ Hermann staunte. Woher nahm der Alte so unvermittelt den Grund für diese Aufregung? „Nein, wir werden ihn nicht verkaufen!“ hustete der Alte. Ein an Hermann heranreitender Targi, der in der Hand ein türkisfarbenes Kästchen hielt, drehte ab. Die Männer trieben ihre Kamele seitwärts, um Entfernung von dem Alten zu gewinnen. Vornüber gelehnt hing er im Sattel, röchelte und spuckte: „Was wisst ihr denn von seinem schwarzen Zauberweib? Nichts wisst ihr! Vielleicht werdet ihr reich sein, wenn es euch gelingt, es zu erhandeln? Vielleicht werdet ihr gar mächtig sein? Mächtiger und reicher noch als jene, die hinterm Horizont wohnen. Doch ich sage euch: Ihr seid bereits besessen. Was soll erst werden, wenn ihr das Weib besitzt? Schaut euch doch an. Wenn man nackt ist, ist es besser, sich niederzusetzen, als aufrecht zu stehen. Ihr wisst das! Aber ihr hört nicht. Ihr wollt euch nicht niedersetzen. Ihr könnt es nicht, weil ihr nackte und besessene Narren seid. Ich habe es gesagt.“
Hermann verstand nicht, was in den Alten gefahren war? Wie kam er bloß darauf, dass die Männer nackt seien? Hermann fand, dass alle, der Alte und er selbst eingeschlossen, für die Jahreszeit viel zu dick angezogen waren.
Eine Karawane bewegt sich im höchsten Maße gleichmäßig vorwärts. Ob sich Hermann, gegen das heulende Wetter gelehnt, Sand aus den Augen wischte, ob ein sengender Zephir ihm den Rücken dorrte, als würde er einem subkontinentalen Heißluftherd durchreiten: Stetig schritten die Kamele voran, unaufhaltsam. Selbst als die Karawane den Grat überquerte (das war kurz bevor sie das backblechflache Hochplateau erreichte) und Hermann von der Höhe seines schaukelnden Altans herab den daunengleich in die Tiefe stürzenden Geröllbrocken nachgeblickt hatte, selbst dort waren die Tiere in dem ihnen ureigenen Tempo vorangeschritten. Kamele kennen nur eine Geschwindigkeit.
Seit der Alte ausgeflippt war, war die Stimmung perdu. Keiner der Männer näherte sich mehr Hermann, um ihm lustige Tauschangebote zu machen. Man trabte schweigend vor sich hin. Zudem fing es an, zu nieseln. Hermann fand, dass die Gegend nicht weniger dazu geeignet sei, einen Bruch zu vollziehen, als jede andere Gegend, die er zuvor durchritten hatte. Er war müde. Er fröstelte (außerdem tat ihm der Arsch weh).
Nein, Hermann traf keine Schuld. Er hatte es nicht mit Absicht getan. Es wäre unfair, ihm vorzuhalten, dass er sich in Zukunft einen weiten Umweg ersparen könne, wenn er sinnigerweise doch gleich dort bliebe, wo er einmal angekommen war.
Passanten blieben stehen und blickten sich nach der staubigen Prozession um. Hermann im Sattel. Hermann als Adlerjunges, das aus dem elterlichen Horst auf ein unerhörtes Geschehen herabäugt. Ecke Flughafenstraße, etwa auf der Höhe des nordöstlichen Ausgangs des U-Bahnhofs Boddinstraße, hatte es einen Auffahrunfall gegeben. Sicher meinetwegen, dachte Hermann. Er erwog abzuspringen und seinen Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortzusetzen. Er hätte die U-Bahn (Linie 8) nehmen können, die unter der Karawane entlangführte. Gewiss folgte auch eine der Buslinien seiner Richtung (hin und wieder spritzen Busse hupend an der Karawane vorüber). Hermann hätte lediglich aus dem Sattel springen und an einer der Haltestelle, an der sein Reittier vorüberschritt, warten müssen. Wie aber hätte er, einmal abgesprungen, je wieder auf den Rücken eines Kamels gelangen sollen? Die Tiere hatten elend lange Beine, die Tamzak hatten keine Steigbügel. Nein, es ging Hermann nicht darum, auf komfortablere Weise dort hinzukommen, wo er früher oder später sowieso anlangen würde. Darum war es ihm nie gegangen. Zugegeben, es hatte gedauert, aber mittlerweile saß Hermann fest im Sattel. Er ritt Kamel, und er liebte es. Bss. Lediglich der Arsch tat ihm weh. Doch das war zu ertragen.
Den Kamelen hingegen behagte die Gegend nicht. Die Luft war bedeutend schlechter als oben auf dem Hochplateau. Zudem war es ungewohnt für sie, auf dem harten Asphalt zu laufen. Der Autolärm ängstige die Tiere. Zuweilen entließen sie hohnlachende Laute in einer unangemessenen Sopranlage. Es klang angestrengt und traurig. Den Tuareg schien das Gewieher Sorge zu bereiten. Sie sprachen beruhigend auf ihre Kamele ein. Aber immer wieder erklang das Gewieher, und bald wartete Hermann darauf, dass einer der Wüstenklepper seinen Klageruf ertönen ließe. Das Gekrächz war einfach zu komisch.
Hermann überkam eine Art kandierte Endzeitstimmung. Entweder er war in sich selbst, spürte nichts als sich selbst, und alles außerhalb seiner selbst war zur Unkenntlichkeit fern, oder aber er stand neben sich, fand sich unerreichlich und kam sich vor, als sei er eine fest verwickelte, rätselhafte Mumie. Zwischen diesen Zuständen konnte er beliebig hin- und herschalten, was jedoch nichts brachte, außer, dass es ihn ermüdete.
Er hatte keine Bestimmte vor Augen, nicht Andrea Müsse, nicht Babette Einstman, nicht Katja Künne und nicht Andrea Horn. Auch keine ihrer älteren Vorgängerinnen oder jüngeren Nachfolgerinnen. Hermann amüsierte sich eben über das ängstliche Geblöke der Trampeltiere und musste davon inspiriert an Fernsehansagerinnen denken. Das war alles.
Die kandierte Endzeitstimmung, der weitläufige Gedanke an Fernsehansagerinnen, die dahinzuckelnde Kamelkarawane, der Nieselregen, der nunmehr ansetzte, in seinen Nacken hinabzusickern - dies alles bereitete Hermann Spaß. Obwohl ihm zunehmend der Arsch wehtat, wurde seine Laune mit jedem Meter, den es bergab ging, besser. Im Vorüberreiten prüfte er, ob im Off ein Film läuft, den es anzuschauen gelohnt hätte, doch im Off lief kein Film, den es anzuschauen gelohnt hätte. Alles war verklungen: der Anfall von Starkult (oder was immer das gewesen sein mochte), sein Unwohlsein, überhaupt alles, woran Hermann sich erinnern konnte (viel war’s nicht). Immer wenn eines der Kamele seinen Jammerruf erklingen ließ, blubberte Glück und gute Laune in Hermann auf wie wibbelwabbelige Schwefellavamasse aus einem eisländischen Erdritz. Wild wechselte er die Kanäle, und ohne Unterlass ließ sich von allerhand aufgebretzelten Tussis darüber Bericht erstatten, was sich, im heutigen Abendprogramm nicht anzuschauen lohnen, beziehungsweise was sich, dort anzuschauen, nicht lohnen würde.
Die Ampel zwischen Deutscher Bank auf der linken und Commerzbank auf der rechten Seite zeigte Rot. Nur knapp vor der Haltelinie, links neben dem Kamel des blauen Ritters, kam Hermanns Kamel zum Stillstand. Absichtlich suchte er etwas länger nach dem Leerlauf, als angemessen gewesen wäre. Der blaue Ritter beobachtete das Durcheinander vor dem Eingang des großen Kaufhauses. Hermann ließ die Kupplung los. Ein Bus der Linie 144 stoppte an der Haltestelle. Aus der hinteren Tür quollen Fahrgäste. Vor dem Einstieg staute sich eine Menschentraube. „Seid doch bitte so nett, und setzt mich da vorne ab“, bat Hermann den Reiter, der unverwandt dem Treiben vor dem Kaufhaus zusah. Mit pfeifenden Bremsscheiben kam hinter ihnen allmählich der Rest der Karawane zum Stillstand. Also sah Hermann ebenfalls den Menschen zu, die aus dem Kaufhaus strömten und sich in den Bus zwängten. Dann sah er wieder dem Targi zu, wie dieser den Menschen zusah, die aus dem Kaufhaus strömten und sich in den Bus zwängten, und dann sah Hermann wieder dem Gedrängel zu, das vor dem Einstieg des Busses herrschte. „Übrigens echt nett von euch, mich ein Stück mitzunehmen“, sagte er zu dem schweigenden Ritter und ließ seinen Blick noch einige Male hin- und herschweifen. Dann schaltete die Ampel auf Grün.
„Gott möge euch schützen!“ brüllte Hermann gegen den Verkehrslärm an und winkte. Eben noch hatten vermummte Männer aus der Höhe ihrer Sättel auf ihn herabgeblickt. Eben noch hatte ein Mann mit schwarzem Tagelmust ein türkisfarbenes Schatzkästlein unter seinem Burnus verschwinden lassen. Eben noch hatten etliche Männer ihre Kamele getätschelt. Noch bis eben hatte hinter dem einzigen Reitkamel, in dessen Sattel niemand saß, ein blutverschmierter Mann gestanden, breitbeinig und in die Spannung des Seils zurückgelehnt, an das er gebunden war. Ob unter den Geschichtsschleiern der Tuareg zum Abschied gelächelt worden sei, fragt ihr? Über allen Mündern hing dichter Stoff. „Tschü-ssi!“ riefen die Tuareg, doch sie winkten nicht. Komisch, wunderte sich Hermann, erst ziehen sie im immergleichen Tempo vorwärts, dann bleiben sie für einen Moment stehen, und dann ziehen sie im selben Tempo weiter. Vielleicht war es aber auch kein Gruß, sondern ein Ruf in Tamahaq, um die Kamele anzutreiben: „Tschü-ssi!“
Wahrscheinlich wollte Hermann den Männern zum Abschied eine Freude machen. Es ist anzunehmen, dass er versuchte, an den Professor zu erinnern, auf den der Soldat am Stadttor von Fogara gefeuert hatte. Aber die Tuareg verstanden nicht. Genau genommen sahen sie nicht einmal hin. „Was seid ihr bloß für dämliche Grützköpfe!“ rief Hermann ihnen auf Irisch nach, indem er umherhüpfte und in Professorenmanier mit den Armen ruderte. Auch Armenisch schien nicht mehr bis an ihr Ohr zu dringen. „Jämmerliches Pack!“ fluchte Hermann (auf Hebräisch), aber die Tuareg verstanden nicht. Na, eigentlich war er froh, sie los zu sein.
Und doch mussten sich zwei im Sattel umgewandt und zurückgeschaut haben, denn sie lachten. Nach einer Weile fiel die ganze Bande ein. „Worüber lachen die denn?“ schnaubte Hermann. Dann bückte er sich. „Hoffentlich bleibt ihr im Stau stecken!“ brüllte er und schleuderte den komischen Vögeln eine ketschupverschmierte Plastikgabel hinterher, die er vom Pflaster aufgelesen hatte.
ist zu finden unter:
http://de.geocities.com/mattismanzel/
Kommentare aller Art sind willkommen an:
mattismanzel@yahoo.de
Jede Person (das gilt auch für zauberische junge Damen), jeder also darf mir
gern ein Foto oder sonstwas von sich oder von sonstwas schicken.
Sollte Ihnen dieser Text gefallen haben, und sollten sie daher einen Geldbetrag ihrer Wahl auf das Konto von Mattis Manzel, Nr. 432073‑103, Postbank Berlin, BLZ 10010010 spenden wollen (und auch den Vermerk „Spende für Peinlich“ nicht vergessen), so geben Sie bitte Ihre email-Adresse an, denn es ist wahrscheinlich, dass ich mich bedanken möchte.
Von meinem auf diese Weise steuerfrei erzockten Einkommen werde ich zu passenden Gelegenheiten 35% an Einrichtungen weiterleiten, die nach meinem Empfinden dessen würdig sind. [§]
(Sollten Sie daher wollen, so ist es wahrscheinlich, dass ich möchte.)
Oder, um mich nicht zu wiederholen:
Sollten Sie einen Geldbetrag ihrer Wahl auf das Konto von Mattis Manzel,
Nr. 432073-103, Postbank Berlin, BLZ 10010010 überweisen (und auch den Vermerk
„Spende für Peinlich“ nicht vergessen), so geben Sie bitte Ihre email-Adresse
mit an, denn es ist wahrscheinlich, dass ich mich bedanken werde.
Ich bin bereit, in folgender Staffelung des Überweisungsbetrags einen stummen Kommentar zu erkennen:
1 Cent: …
2 Cent: Fuck you!
3 Cent: Probiers doch mal mit Minigolf.
4 Cent: Schreibst gern, ne?
5 Cent: Hast du eigentlich mal was von Donna Leon
gelesen?
6 Cent: Kann man davon leben?
7 Cent: Fein, und was machst Du sonst so?
8 Cent: Nicht wirklich schlecht, ich hab fast fünf
Seiten gelesen.
9 Cent: Verzeihung, hätten sie mal Feuer für mich?
10 Cent: Geil!
Ich wünschte, ich könne an dieser Stelle jenen Personen, die mir 10 Cent spenden
möchten, das Gefühl geben, ich würde mich bevorzugt bei ihnen bedanken, bevorzugt
vor den anderen, welche mir weniger als 10 Cent oder allein Gutes senden (zauberische
junge Damen, Foto nicht vergessen!). Dies kann ich jedoch leider nicht. Dies
ist nämlich viel, viel teurer.
„Netz-Schnorrerei“, „Internet-Bettelei“, „internet-begging“ oder „net-bummin’“ – diese neue Form des globalen Elends ist hochnot peinlich. Weiß ich (wenn sie jetzt überweisen, können sie vielleicht noch unter den ersten hundert sein [**] ? Nehmen sie aktiv an diesem großen historischen Augenblick teil!).
Nix für ungut
Tschüss Leute/Ciào fio’i
Euer
mattis
[*] Der Bfrau-Verlag ist eine Untergruppe des Wirtschaftsgiganten Peinlich Erbaulich Associated.
[†] Ein Kondom ist eine enganliegende Hülle aus einem membranartigen Material, die vor dem Geschlechtsverkehr über den Penis abgerollt wird. Sein Gebrauch kann verhindern, dass Krankheitserreger von einem Partner auf den anderen übertreten. Es wirkt wie eine Barriere, indem es die Schleimhautoberflächen und die darüber befindlichen Flüssigkeiten voneinander trennt.
[‡] zu Tätigkeit Nr. 5: Peinlich musste zunächst warten bis sich seine Gutenmorgenlatte deerergiert hatte. Die effektive Pinkeldauer betrug 00'12 . Das entspricht 18,19% der Zeit, die er in fester Pinkelabsicht vor der Kloschüssel verbrachte.
[§] Dazu könnte auch der Verlag gehören, der Peinlich einst erstveröffentlichte. Faire Prozente, plante man damals, mir von einem gewissen Verkauf an zu zahlen. So will ich es denn auch halten. Eine gute Stelle auch für eine herzhafte Danksagung: Danke.