Aus Peinlich das 11. Kapitel:
11.) Carlos Leben.
Carlo war klein und durchscheinend. Er hatte die Form einer kopfstehenden Birne.
Zur Seite ragte eine Membran aus ihm hervor, die von seinem Scheitelpunkt hinab
bis auf die Höhe seines größten Umfangs reichte. Diese Membran
konnte er in Wellenbewegungen versetzen. Nach unten hin ging sie in ein Schwänzchen
über, das Axolyt genannt wird. Außerdem setzten an Carlos Scheitelpunkt
vier Geißeln an. Diese ähnelten dem Axolyt, waren jedoch erheblich
länger und darüber hinaus beweglich. Indem Carlo mit seinen Geißeln
ruderte, seine Membran in schwirrendes Wedeln versetzte und mit dem Körper
wackelnde Bewegungen ausführte, konnte er sich in der umgebenden Flüssigkeit
fortbewegen. Dabei rotierte er um die Längsachse. Das lag in der Familie.
Carlo gehörte dem Geschlecht der Protozoen an und war ein Flagellat. Sein
vollständiger Name lautete Carlo di Trichomonas vaginalis. Es erfüllte
ihn mit Stolz, dass der Name des Orts, den er bewohnte, darin enthalten war.
Zwischen den Menstruationsblutungen durchwanderte er Monas Scheide einmal der
Länge nach. Diese Strecke hatte ihm bereits während seiner Jugendzeit
einiges an Durchhaltevermögen abverlangt. Indem Carlo wanderte, bewies
er sich, dass er nicht zum alten Eiweiß gehörte. Unterwegs erinnerte
er sich seiner Erlebnisse oder stellte philosophische Betrachtungen an. Oft
genoss er auch in schlichter Gemütsergötzung das muntere Treiben in
seiner Heimat. Hier wurde er von einer Horde Mycobakteriæ smegmates gegrüßt,
dort erfreute er sich des Anblicks einer perlschnurförmigen Reihe kindischer
Peptostreptokokken, die sich in albernem Ringelpiez aneinander festhielten.
Ja, beim Wandern lagen Sinneslust und Disziplin auf wunderbare Weise im Einklang.
Mit gleichmäßigen Schwimmzügen ruderte Carlo an einem quaderförmigen
Spross aus der Familie der Poxviren vorüber. Ehrfurchtsvoll unterbrach
es die Zersetzung einer Döderleinschen Bazille und rasselte anerkennend
mit den Molekülketten. Ein jeder spürte, dass es besser war, Carlo
zu grüßen und unbehelligt weiterziehen zu lassen, als ihn aufzufressen.
Carlo war kein König oder Kaiser und auch kein Häuptling. Das Weltgefüge,
in dem er lebte, bedurfte solcher Amtmänner nicht. Er war weder Bürger
noch Diktator, und er war niemandem leibeigen, sah man einmal von seiner Wirtin
ab, der gewissermaßen alles gehörte: die Zellen, der Schleim, die
allmonatlichen Fluten von Blut und das Stückchen Unterhose, das am äußeren
Rand seines lang gestreckten Biotops bisweilen zwischen den inneren Labien aufschimmerte.
Mona gehörte alles, was es gab.
Eine Vorstellung vom Spiel der Kräfte in seiner Heimat zu entwickeln, war
Carlo schwer gefallen. Es hatte lange Zeit gedauert, bis er eine Sichtweise
gefunden hatte, die ihm Ruhe, Zuversicht und inneren Frieden spendete. Je weniger
versucht wurde, seine Welt zu verwirren, desto stabiler verhielt sich ihre Unordnung
und desto geringer war das Leid derer, die dort lebten. Jede Aggression störte
das gesunde Chaos. Ob sich beispielsweise übermütige Torulopsis glabrata
in der Harnröhre ansiedelten und dort maßlos Sporen trieben, oder
ob sich Mona zwischen den Beinen wusch, war letztlich einerlei.
Gegenwärtig ging es in Monas Vagina eher beschaulich zu. Während einer
den anderen verschlang, wurde der Meuchler von einem dritten phagozytiert, dessen
Zellwand unterdessen von einem vierten durchbohrt wurde. Die einen prassten,
während andere Mangel und Hunger litten. Es gab massenhaft Zellteilung,
Unterjochung, Volksfeste und Epidemien. Doch im Vergleich zu dem, was Carlo
bereits zweimal hatte erdulden müssen, war dies friedvoll.
Er erreichte den Rand des wärmenden Scheidenepithels. Bis hier hatte sich
Carlo fürs Erste zu wandern vorgenommen. Die hinter ihm liegende Etappe
hatte ihn ermüdet. Er umschlang seinen Körper mit den Geißeln
und legte sich zur Ruhe.
Bald nachdem die Trichomonade, bei deren Teilung er in Leben getreten war, sich
von ihm losgelöst hatte, war schon der erste Antibiotikakrieg über
Carlo hereingebrochen. Damals hatte er zwischen zwei Bindegewebszellen versteckt
ausgeharrt. Vor Hunger und Erschöpfung kaum fähig, noch eine Geißel
zu bewegen, war er lange nachdem Mona die Behandlung abgesetzt hatte aus seinem
Versteck hervorgekrochen. Seine Heimat war in einen gewaltigen Friedhof der
Einzeller verwandelt worden. Die Überlebenden waren mutlos. Etliche siechten
und starben qualvolle Tode. Die wenigen Nachkommen entwickelten sich kläglich.
Langsam nur kam der geschundene Rest von Monas einst blühender Vaginalflora
wieder zu Kräften. Klein Carlos Seele aber war gebrochen, bevor sie sich
hatte entfalten können.
Während Bakterien, Pilze und Viren zu den Pflanzen gezählt werden,
stellte er als Protozoon ein Zwitterwesen zwischen Tier und Pflanze dar. Unablässig
glaubte Carlo seine Andersartigkeit zu spüren. Das Gros der Mikroben war
unfähig, sich aus eigener Kraft fortzubewegen. Carlo wuchs heran und bald
übertraf sein Leibesumfang selbst den der weißen Blutkörperchen.
Er empfand sich komplexen Organismen wie Mona entwicklungsgeschichtlich näherstehend
als den Kreaturen seiner ungefähren Größe.
Das jugendliche Erlebnis des Kriegs hatte sein Gemüt erschüttert.
Er fühlte sich gedemütigt, weil Mona seine Einzigartigkeit ignoriert
und ihn den anderen Wesen seiner Welt gleichgestellt hatte. Nur zu gern hätte
Carlo ihr verziehen, denn in der Tiefe seines Zellkerns liebte er sie. Leider
wusste er nicht, wie er Monas Bekanntschaft machen sollte. Wenn es ihm nur gelungen
wäre, ihre Aufmerksamkeit zu wecken! Gewiss hätte sie dann auch mehr
Respekt für ihn gezeigt. Vielleicht wäre sie sogar seine Freundin
geworden? Doch Mona war zu groß und Carlo war zu klein.
Als Carlo nach dem zweiten Antibiotikakrieg in beschämter Pose erneut auf
eine Unzahl hinweggeraffter Mikroorganismen hinabblickte, dämmerte ihm,
dass er zumindest versuchen sollte, alle Wesen zu lieben. Man sollte ihm das
nicht vorwerfen: Schließlich war Carlo bloß eine Trichomonade. Sich
Mühe zu geben, dass es überzeugend wirkt, war das Beste, was er hatte
tun können. Nach kurzer Besinnung gab Carlo dann einfach vor, alle Wesen
zu lieben. Das war geschickt von ihm. Eine dritte Antibiotikabehandlung hätte
er nicht überlebt.
Begriffen zu haben, dass man lieben sollte, ist grundverschieden davon, zu lieben.
Carlo hatte die Wesen seiner Welt nicht zwischen den Kriegen geliebt, und er
tat es nicht danach. Im Gegenteil, er verachtete sie - es war ihm ein tiefes
Bedürfnis. Der Grund hierfür schien Carlo darin zu liegen, dass er
sich in Monas Scheide ausgeliefert fühlte. Doch: War es nicht natürlich,
dass ein Trichomonas vaginalis jederzeit von seiner Wirtin ermordet werden konnte?
Nein, befand Carlo, auf diese Bedrohung musste seine Psyche eingerichtet sein.
Offensichtlich aber war sie es nicht. Also grub sich allmählich die fixe
Idee von einer angeborenen Existenzuntüchtigkeit in ihn ein. Etwas Böses
hatte von ihm Besitz ergriffen und würde ihn peinigen, solange er lebte.
In der Verachtung, die er für seine Mitwesen empfand, sah Carlo den Beweis
dafür.
Nach dem Elend der zweiten Niederlage hatte eine Aura von stiller Weisheit und
dezenter Größe Zukunft. Aristokratie war in, Adel en vogue. Carlos
bisheriges Image hatte ausgedient. Er stülpte seiner Geisteshaltung eine
allumfassende Gleichgültigkeit über und schuf sich das Charisma eines
bei Bakterien, Viren und Pilzen gleichermaßen hochgeschätzten Regenten
oder Staatsmanns. Freilich war Carlo weder Regent noch Staatsmann, doch verbreitete
er das Flair, gelangweilt über dem gemeinen Volk zu stehen. Das gemeine
Volk liebte es, dass sich jemand über es stellte. Wo immer Carlo auftauchte,
ging Bewunderung um. Wagte man, ihn um Rat zu bitten, so gab er vieldeutige
Aphorismen von sich, ganz als überbeanspruche man seine Güte und störe
ihn bei wahrhaft wichtigen, ernstzunehmenden Gedanken. Wäre bekannt geworden,
was tatsächlich in ihm vorging: Man hätte ihn zum Gegenstand einer
deftigen Mahlzeit gemacht. Dennoch waren seine Überlegungen keineswegs
schlecht, falsch, boshaft oder gemeingefährlich. Sie waren lediglich überflüssig.
Er aber sprach nicht aus, was er dachte.
Carlo gab sich nunmehr überzeugt, dass das Wissen um die Gefahr einer Apokalypse
von weit schlimmerem Ausmaß als der vorangegangenen Kriege fest in seinem
und den Zellkernen seiner Mitwesen verankert sei. Ginge jeder bescheiden seinen
Bedürfnissen nach, hielte man dabei die natürlichen Grenzen ein, ernährte
und vermehrte man sich maßvoll und vermied man, Monas Schleimhäute
über Gebühr zu reizen, so war die Wahrscheinlichkeit einer erneuten
Götterdämmerung durch Antibiotika gering. Selbst die Jugendlichen,
welche die Schrecken der Kriege nicht erlebt hatten, sollten das begriffen haben.
Jeder bleibe ruhig und besonnen und sei den anderen ein Vorbild.
Nach außen hin lebte Carlo von wertlosen Molekülen, die er durch
seine Zellwand aufnahm. Wähnte er sich hingegen unbeobachtet, so riss er
sein Zytostoma sperrangelweit auf und verschlang eine leckere Mikrobe. Die Erinnerung
an den Hunger seiner frühen und mittleren Jahre saß tief. Ständig
drängte es ihn, sich für kommende Zeiten eine Reserve anzufressen.
So genehmigte sich Carlo weit mehr, als erforderlich gewesen wäre. Längst
hatte er es zu ungesunder Leibesfülle gebracht. Carlo kam sich fett und
unersättlich vor. Ohne Unterlass quälte ihn ein schlechtes Gewissen.
Dann suchte und fand er in der Friedfertigkeit, die man ihm entgegenbrachte,
den Beweis dafür, dass er eine liebenswerte Kreatur sei. Letztlich schienen
sein Verhalten und sein bisheriger Lebensweg richtig gewesen zu sein. Carlo
glaubte, wie man ihn behandele, habe damit zu tun, wie er sei. Doch wie gesagt
war er bloß eine Trichomonade.
Bald nach dem ersten Krieg war der jugendliche Carlo zu ausgedehnten Reisen
aufgebrochen. Er hatte seine Heimat von Monas hinterem Scheidengewölbe
bis an den unmittelbaren Rand ihrer inneren Labien durchstreift. Schon damals
fand er sich den formunbeständigen Ureaplasmen, den arbeitsscheuen Herpes
Simplex Viren, den lächerlichen Donovaniæ granulomates, eigentlich
allen Parasiten, die in seiner geliebten Heimat stoffwechselten, überlegen.
Carlo fühlte sich höher stehend als diese "Pflanzen", wie
er sie insgeheim titulierte. Er dachte über sie nach, und bald kannte er
ihre Wünsche und Sehnsüchte.
Damals schien ihm die Welt einzig in der Vorstellung schön. Carlo wünschte
sich, dass sie von hehren Idealen durchformt sei. Alles Chaotische und Schwache,
alles, das unkontrolliert Gestalt angenommen hatte, widerte ihn an. Die Wirklichkeit
kam ihm krank vor. Er fragte sich, warum es das Schwache überhaupt gab,
und kam zu dem Schluss, dass sich die Überlegenen den Existenzanspruch
der Unterlegenen nicht länger durften bieten lassen. Das Schwache existierte
zu Unrecht. Erst ein endgültiger und unumstößlicher Sieg des
Überlegenen machte wahres Glück möglich. Davor aber stand der
Kampf. Carlo beschloss, sich und seine Welt zum Sieg, das heißt ins Glück
zu führen. Alle Wesen hatten seinen Vorstellungen zu entsprechen. Was er
sich einzubilden vermochte, meinte er verwirklichen zu können. Seine Ideen
gingen ihm über alles.
Die verbreitete Bitterkeit über das Leid des ersten Kriegs diente Carlo
als Mittel, Monas Vaginalpopulation aufzuwiegeln. Er verstand es, die Begeisterung
der Masse zu entfesseln. Hilflos saßen sie seinen Phantasmen auf. Nach
seinen Hetzreden blickte Carlo hinab auf die Scharen von Mikroorganismen und
badete in ihrem Jubel. Im Stillen aber fürchtete ihn die Masse. Carlo kannte
ihre Angst. Einst hatte er sie selbst verspürt. Doch andere ideologisch
zu infizieren, linderte sein eigenes Leid unter dem Joch seiner Ideen. Sie durchzusetzen,
machte es ihm erst erträglich, diese Ideen überhaupt in sich zu tragen.
Carlo scharrte gewissenlose Kumpane um sich: ein Verband Neisseriæ gonorrhoe
- aggressive nierenförmige Diplokokken, die in Paaren aneinander haften,
und vor denen es ihm eigentlich graute, weil sie sich in ihrer Boshaftigkeit
gegenseitig zu übertreffen suchten - sowie eine vor nichts zurückschreckende
Bande Treponema pallidum - fiese Bakterien in Form lang gestreckter Spiralen,
die zur Fortbewegung aus eigener Kraft fähig waren. Carlo schwor diese
Wesen auf sich ein und baute mit ihrer Hilfe einen Polizeiapparat auf, der alles
kontrollierte. Wer Kritik übte oder sich widersetzte, wurde phagozytiert.
Bis zum zweiten Krieg - und unter geänderten Vorzeichen auch danach - glaubte
Carlo, der Einzige zu sein, der unter den Ausgeburten seiner Einbildungskraft
leide. Vor allem aber glaubte er sich mit dem tiefsten und verstecktesten seiner
Wünsche allein. Carlo empfand diesen Wunsch als persönlichen Makel,
ja als Frevel: Zu gern hätte er ein stilles und unauffälliges Leben
geführt. Er schämte sich dafür und fürchtete, ausgelacht
zu werden. Er fürchtete sich so sehr, dass er diesen innigsten Wunsch nicht
einmal mehr zu spüren wagte.
Damals war Carlos Plan, aus Monas Geschlechtstrakt auszubrechen und sich in
einem beispiellosen Eroberungsfeldzug in ihrem Körper auszubreiten. Unter
Carlos baumeisterlicher Anleitung setzte Monas illustre Vaginalflora zu dem
Experiment an, aus der wirklichen Welt heraus eine Brücke in die Welt ihrer
Vorstellung zu schlagen und diese in wahrhaft halsbrecherischem Transit zu überqueren.
Man wollte Monas Darm, ihre Leber, ihr Herz und ihr Gehirn. Man wollte sie im
Sturm nehmen, um endlich von ihr bemerkt zu werden. Die vaginale Katastrophe
war nicht mehr abzuwenden.
Noch am Tage bevor Mona zu ihrem zweiten Antibiotikaschlag ausholte, krächzte
Carlo über den Scheidenvorhof: "Wollt ihr die totale Infektion?"
Und aus Millionen Zytostomen drang es, so laut, dass die Vulva erbebte: "Geil!
Geil! Geil!"
Und dann brachen sie eine Seuche vom Zaun, einen gelblich schäumenden und
atemberaubend stinkenden Ausfluss, so fürchterlich, dass Mona sofort überzeugt
war, ernsthaft erkrankt zu sein. Sie suchte umgehend einen Arzt auf, der verordnete
Antibiotika, und der Untergang von Carlos widerwärtigem Ideenwahn war besiegelt.
Nachdenken, sich erinnern - Carlo liebte es. Hin und wieder allerdings verspannte
er sich dabei, denn er glaubte, weil er seine Welt reflektieren könne,
trüge er Verantwortung für sie. Möglicherweise war ja sein Intellekt
nichts als eine Laune der Natur? Zuweilen schien es ihm fast möglich, dass
er auch ohne selbstbewussten Denkapparat hätte existieren können.
Wie schön es doch war, ausgeruht zu sein, und der herausfordernden Etappe
einer langen Wanderung entgegenzublicken. Carlo reckte seine Geißeln und
machte sich auf den Weg.
Zunächst umrundete er eine grazile Fussel. Unweit davon war eine Anhäufung
stäbchenförmiger Clostridien damit beschäftigt, Proteine zu spalten.
Als sie Carlo bemerkten, unterbrachen sie ihre Arbeit und applaudierten voller
Begeisterung mit ihren trommelschlegelförmigen Sporen. Der Nimbus von geistiger
Größe und Reife machte Carlo unantastbar.
Er war zu klein für Mona, das hatte er einsehen müssen. Doch gab es
wahrhaft keine Möglichkeit ihr ebenbürtig zu sein?
Eine hilflose Hæmophilius ducrei, die gerade von einem Zytophagen gefressen
wurde, kreuzte seinen Weg. Carlo versicherte sich, nicht beobachtet zu werden,
und verschlang gleich alle beide. Dann erinnerte er sich, dass er sich als Denkzelle
und nicht als Fresszelle verstand, und schämte sich seiner unrechten Tat.
Vor seinem innerem Auge erstrahlte der Tempel seiner Persönlichkeit. Nicht
durch Empfindung und Träumerei, nicht durch Macht und Sieg, nein, einzig
vermittels seines Intellekts würde er sich zu einem Wesen erhöhen
können, das Mona ebenbürtig war. Während er auf dem weiten Fundament
seiner Erlebnisse und Erfahrungen betete, spannte sich über ihm sein Intellekt
auf: als wunderbares, von kunstvollen Säulen getragenes und mit Figuren
verziertes Satteldach. Ja, es gab einen Gott. Dieser Tempel konnte nur das Geschenk
eines Gottes sein.
Doch immer wenn sich Carlo klar machte, dass er würde sterben müssen,
verschwand das erhabene Gefühl wieder, das ihn beim Reflektieren seiner
Persönlichkeit ergriff. Hätte er sich die Erlebnisse und Erfahrungen,
all die Mühen und Anstrengungen etwa ersparen können? Sollte dies
alles unwiederbringlich hinweggerafft werden? War all das Leid umsonst gewesen?
Die Vorahnung des Unvermeidlichen ließ Carlo die Zellflüssigkeit
in den Mitochondrien stocken. Jeder Tod ist der Tod eines Trottels, versuchte
er gegen seine Furcht anzulachen. Aber bevor noch der letzte Lebensfunke aus
ihm gewichen sein würde, sollte ihm sein geliebter Intellekt entrissen
werden. Keine der trauten Figuren, nicht die Erinnerung an eine der Säulen
seines heiligen Tempels würde er mit sich nehmen dürfen. Er würde
verblöden - zum Henker! - und schließlich, unfähig sich des
eigenen Namens zu erinnern, verrecken. Den Tod fürchtete Carlo nicht. Was
er fürchtete, war die Kadenz dessen, wofür er sich selbst erachtete,
hinab zu dem, was er für einen Sterbenden hielt.
Als Carlo des Wegs ruderte, unterbrach sich ein weißes Blutkörperchen
höflich dabei, ein Calymmatobakterium in sein wabbeliges Zellplasma einzuschließen.
Musste nicht zwischen dem, was er sich unter Existenz vorzustellen vermochte,
und dem, was an Existenz überhaupt möglich war, ein grundsätzliches
Missverhältnis bestehen? Doch einzig aus einem Fehler bei der Anpassung
seiner Seele an die Wirklichkeit konnte eine Unzufriedenheit mit der eigenen
Existenz erwachsen sein. Aber worauf sollten seine Bemühungen ausgerichtet
sein, wenn das Leben tatsächlich ungeordnet, ziellos und chaotisch war?
Der Anblick einer Gruppe lebensfroher Listerien lenkte Carlo im Strom seiner
Gedanken ab.
Oder wurde Wirklichkeit erst dadurch wahr, dass man sie sich vorstellte?
Eine Abteilung Chlamydiæ trachomates, an der Carlo vorüberruderte,
nahm hochachtungsvoll Haltung an.
Nein, mit eisernem Widerstand wollte er sich dem unvermeidlichen Los entgegenstemmen.
Woran aber würde er sich klammern können, wenn es ans Sterben ging?
Welche kraftstrahlende Quintessenz war geeignet, die dahinschwindende Zeit seiner
Glorie bis zu letzten Moment in ihm wachzuhalten?
Carlo di Trichomonas vaginalis wackelte auf Monas Muttermund zu. Er wackelte,
und er rotierte.
Vielleicht war ja die Lösung zu all diesen Fragen ganz einfach? Vielleicht
bedurfte es nur, sich aus dem metaphysischen Sumpf zu erheben und sich wieder
den Erinnerungen zuwenden? Vielleicht war alles so simpel? Hätte Carlo
vor Rührung über sein Lebensglück eine Träne hervorbringen
können, er hätte sie geweint.
Und dann wurde er von einem riesenhaften, in allen Farben schillernden, einem
monströsen, brüllenden, einem alles mit sich reißenden, von
giftgasgleich spermizidem Gestank umwaberten und hinter einer feisten Kondomwand
furchterregend pulsierenden Penis gegen das Epithel geschleudert. Seine Geißeln
und ein Großteil seiner Membran rissen dabei ab. Der gigantische Lindwurm
wütete, fuhr entfesselt hin und her und rieb eine Unzahl von Mikroben zu
Tode. Noch kurz bevor Carlos Zellkern platzte, betete das, was zu diesem Zeitpunkt
noch von ihm übrig war, zur heiligen Idee vom ewigen Dasein in der Geborgenheit
von Monas Muschi.