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(hundspost, Göttingen/Hamburg, 06/96)
Wissenswertes über die Verhütung
ungewollter Romane
Mattis Manzels Debutroman "Peinlich"
Aller Anfang hat schwer und im übrigen ein Roman zu sein.
Der liegt gewöhnlich so herum, statistisch gesehen zumeist auf der Straße,
die zufällig die Dachkammer des künftig berühmten Autors mit
dem unwichtigen Rest der Welt verbindet. Das ist ziemlich peinlich. Der Berliner
Schriftsteller Mattis Manzel wußte das natürlich: Er suchte und fand
einen dieser peinlichen Erstlingsromane, und statt ihn aufzuschreiben, prügelte
er auf ihn ein, bis er Literatur spuckte. Das Buch, das dabei anfiel, ist ein
präziser Anschlag auf den guten Geschmack und ein fantastisch inszenierter
Verrat an dem, was den heute etwas verrufenen Namen "Deutsche Prosa"
trägt.
Peinlich, der notorische Held, ist beschäftigt mit den vertrackten Grundproblemen
der Reproduktion. Peinlich zeugt, schläft, ißt, trinkt und arbeitet
manchmal. Kurz gesagt: Peinlich langweilt sich und nervt. Wie jeder normale
Nachbar. Er langweilt sich im Stehen, Sitzen, Liegen, beim Essen, Trinken, Zeugen.
Manchmal redet er. Um Peinlich herum sammeln sich Menschen an, die sich auf
ähnliche Weise durch ihr Leben langweilen.
Der Autor greift erst zum Schluß ein, ungefähr auf Seite l, läßt
Peinlich noch einmal durch die Zeitschleife zwischen Vergangenheit und Zukunft
stolpern, diesmal aber ausgestattet mit einer extravaganten Wahrnehmungs- und
Assoziationsgabe, die das Markenzeichen von Manzels Prosa ist. Peinlichs Leben
zwischen der WG, der Ex-Geliebten, dem Telefonhörer und dem Museum wird
zu einer göttlichen Komödie aus dem Infotainment-Zeitalter, einer
Farce der Normalität. Am Ende weiß der Leser, daß am Anfang
Peinlich von einer Horde Tuaregs in Berlin abgesetzt wurde. Oder nicht, weil
Peinlich nämlich in der Mitte des Buches in einen Lexikonartikel fällt
und fortan Hermann heißt.
Mattis Manzel bricht in Peinlich mit sämtlichen Tabus konventioneller Prosa.
Schon die Anlage der Erzählung ist formal eine Parodie auf das Erzählen.
Perspektive und Erzählweise sind in permanentem Fluß, skurrile Mitteilungen
über Nutzen und Frommen von Kontrazeptiva, Meinungen und Ansichten zweier
Kanadier während einer Autofahrt mit Radio und surrealistische Wahrnehmungsspiele
sind anstelle auktorialer Reflexionen als ironische Kontrapunkte in den Text
montiert, damit bloß nichts aufkomme wie ein - Roman.
Wo immer Gewöhnlichkeit die Erzählung bedroht, wählt Manzel die
absurde Perspektive: Unübertroffen sind die Schilderung eines Geschlechtsverkehrs
aus der Sicht einer Vaginalprotozoe und Peinlichs experimentelle Rekonstruktion
der Zivilisationsgeschichte im Welttheater umherhüpfender Korkkrümel.
Handlung entwickelt sich kaum aus der Geschichte, sondern aus den gewaltsamen
Angriffen des Autors auf das Leben des Protagonisten, das nicht zum Roman werden
darf. Wer diese amüsante Treibjagd durch die Negation des Erzählens
durchsteht, wer miterlebt hat, wie all die Gerüchte von der wissenschaftlichen
Erklärung und Erzählbarkeit der modernen Welt in Gelächter zusammenfallen,
der wird erfahren, wie Sinn und tiefere Bedeutung auf unaufdringliche Weise
als Augenblicke der großen, heilsamen Farce dem Leser zuzwinkern.
Peinlich (Hermann) entgeht letztlich allen Anschlägen des Autors auf die
Lächerlichkeit seiner literarischen und wirklichen Existenz - weshalb er
am Ende doch ein klassischer "Held" ist. Ein sympathischer Tölpel,
dessen genialer Einfalt mit Literatur nicht mehr beizukommen ist. Ein Schelmenroman
also? Wie auf so vieles, wird auch darauf angespielt. Nicht zuletzt durch die
barockisierenden Kapitelüberschriften; aber bei Manzel hört sich das
eben so an: "5.) Peinlich lernt Tschechisch. Dann passiert noch allerhand
Unwichtiges. Dann hat er eine Idee. Diesmal wird nichts draus." Das ist
kein Nonsens, es ist Programm: Gerade wie der Protagonist Peinlich erst durch
fortgesetzte Dekonstruktion Kontur gewinnt, gelangt Manzel durch die ironische
Negation jeglicher Erzählkunst in eine Position, die nur noch eines gelten
lässt: Hier erzählt der Autor!
Peinlich drängt sich an keiner Stelle mit der Haltung auf, ein bedeutender
Gegenwartsroman sein zu wollen. Es ist Literatur als Happening. Geschrieben
von einem Meister der Farce und gerade dadurch von einer menschlichen Ernsthaftigkeit,
die der deutschen Literatur in den letzten Jahren nur zu gerne abgesprochen
wurde. Peinlich ist glücklicherweise kein Roman; es ist die saftige Abreibung,
die sich der deutsche Roman mittlerweile verdient hat. (Mattis Manzel: Peinlich,
Ammann Verlag., 263 S., 38 Mark) Phillip Mißler
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